Benutzer:Toter Alter Mann/Fossilien

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Warum ist es so schwer über Fossilien angemessen zu schreiben? Ich will das hier kurz erläutern, eine mögliche Lösung vorschlagen und mit euch diskutieren.

Problem[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Problem tritt auch anderswo auf (eigentlich in allen Artikeln), aber in Artikeln zu Fossilien und fossil überlieferten Taxa ist es besonders virulent. Umso stärker man sich mit ihnen auseinandersetzt, desto mehr gerät man in die Zwickmühle: Will ich eine fossile Gattung beschreiben, dann tue ich das für gewöhnlich so, als ob die angehörigen dieser Gattung noch am Leben wären und gebe ihre „vermutete“ Lebensweise wieder. Ich orientiere mich also an Artikeln zu lebenden Tieren, mit denen ich auf ganz andere Weise in Kontakt treten kann als zu Heterodontosaurus, Ophthalmosaurus oder Rhizosmilodon, um nur mal willkürlich drei recht gut aufgearbeitete Taxa herauszugreifen.

Wenn ich das mache, bekomme ich aber ein Problem: Irgendwie ist das Wissen über diese lange verschwundenen Tiere sehr „unsicher“ – oder besser gesagt instabil, häufig im Fluss oder sehr bruchstückhaft. Jedem, der über Paläontologie schreibt, ist klar, dass es spekulativ ist. Das heißt, es ist mit einem gewissen Risiko behaftet, nicht anschlussfähig zu sein. Aus vielen verschiedenen Gründen muss es aber spekulativ sein, eben weil sonst kein Fortkommen in der Paläontologie möglich ist. Die Paläontologie muss aus unglaublich wenig Material (afaik passen alle Homo-Fossilien, oft nicht mehr als ein paar bröseliger Steine, in einen einzigen Lastwagen) unglaublich viel machen (aus dem Lastwagen werden dann 2,5 Mio. Jahre Geschichte) und das tut sie sehr erfolgreich. Dennoch kommt man nicht umhin, neben der Lebensweise und dem Aussehen eines längst vergangenen Tieres (oder einer Pflanze) auch zu diskutieren, wie Forscherinnen und Forscher das Wissen darüber erlangt haben. Schon allein, weil es dazu so viele widersprüchliche Aussagen und Vorbehalte gibt.

Neben der Naturgeschichte eines nicht direkt greifbaren Lebewesens muss ich also auch diskutieren, wie es greifbar gemacht wird: Welche Fossilien umfasst der Name, den es trägt? Wer oder was bürgt für die Brauchbarkeit einer Gattung? Was bildet die Basis für seine verwandtschaftliche Einordnung? Welche Grundüberlegungen stecken hinter einer Rekonstruktion von Verhaltensmerkmalen oder der Fortpflanzungsbiologie? Dabei kommt man schnell vom Hundertsten ins Tausendste, denn wo aufhören und wo anfangen? Schnell stellt sich heraus, dass hinter jedem Detail, das wir über ein Fossil oder ein ausgestorbenes Tier wissen, ein unendlich langer Rattenschwanz mühsamer Forschung voller Diskussionen, Widersprüche und gescheiterter Theorien steht. Was aber noch schlimmer ist: Je mehr wir anfangen, diese Debatten wiederzugeben, desto mehr fangen wir an, am eingangs beschriebenen Erfolg der Paläontologie zu zweifeln: Ist es überhaupt möglich, sinnvolles Wissen über ausgestorbene Tiere zu erlangen? Denken sich Paläontologinnen und Paläontologen etwa nur schöne Geschichten aus, deren Inhalt belanglos und willkürlich zusammengesucht ist? Werden wir jemals erfahren, wie Archaeopteryx wirklich aussah? Und was ist erst mit den sehr viel schlechter erforschten … – ja was eigentlich? Lebewesen? Taxa? Fossilien? Steinen?

Empirisches Interludium[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Problem scheint uferlos, aber die Lösung liegt wie so oft am Grunde des Sees: Man muss den Stöpsel ziehen und erstmal das Wasser abfließen lassen. Wieso entsteht dieser Konflikt? Ich will das hier nur kurz erläutern, weil ich die paläontologisch interessierte Leserin nicht mit Philosophie erschlagen will. Das Problem besteht hauptsächlich darin, dass wir zwei dinge miteinander verwechseln – einerseits konkrete, haptisch erfahrbare Steinstücke (sogenannte Fossilien); andererseits fiktionale Lebewesen, die sich wie ein Mosaik u.a. aus diesen Steinen zusammensetzen – und dann auch noch davon ausgehen, dass das eine (die Fossilien) weniger real ist als das andere (die Fiktionen). Weder das eine noch das andere sollten wir tun. Steine sind nicht das gleiche wie ein galoppierender T. rex, und das das eine wirklich ist, schließt nicht aus, dass es das andere auch ist (wenngleich auf eine ganz andere Weise). Ich will das kurz an einem stark vereinfachten Beispiel verdeutlichen, das in etwa eine ethnographische Untersuchung zu einem Fossilfund nachahmt:

Stellt euch vor, ihr seid auf einer paläontologischen Expedition in Südafrika. In einem Steinbruch stößt einer der Ausgräber auf eine ungewöhnliche Struktur im Fels. Weil er ein erfahrener Ausgräber ist, lässt er erstmal alles stehen und liegen und rennt zur Ausgrabungsleiterin. Die lässt sich die Anomalie im Gestein zeigen, schätzt ab, wie groß ein daran hängendes Fossil ungefähr sein könnte und lässt dann einen Block mit großzügigen Abmessungen aus dem Gestein schlagen. Der wird vorsichtig in Gips eingepackt und nach Johannesburg, London oder New York verfrachtet, wo ihn eine Präparatorin wie ein rohes Ei Stück für Stück aus der Gipshülle pellt und gleichzeitig versucht, das Gestein, das nicht zu der Anomalie gehört, vom Block abzutrennen. Wenn sie Pech hat, hängt nur der einzelne Knochen in dem Block, mit etwas mehr Glück kann sie in etwa das zum Vorschein bringen, was auf Bild 1 zu sehen ist: Ein Stein mit irgendwie ulkigen Strukturen, die entfernt an irgendetwas erinnern. Irgendwie sehen sie zerbrochen aus, sie sind weder völlig regelmäßig noch völlig zufällig, so zumindest der Eindruck. Mehr sieht man aber wirklich nicht daran. der Paläontologe, der das Stück aber zur Untersuchung bekommt, weiß sich zu helfen: Er versucht, den Strukturen auf dem Papier klare Umrisse zu geben, die sie im Stein nicht haben (Bild 2). Die auffälligsten bzw. für seine Arbeit wichtigsten Elemente der Zeichnung versieht er mit Labels, damit sie andere sofort erkennen können, ohne dass sie sich die gleiche Mühe wie er machen müssen. Nun lassen sich die steinernen Strukturen mit fiktionalen Knochen identifizieren, also Knochen, die deutlich mit dem Label "was wäre wenn …" versehen sind. zusätzlich kann er auch noch eine kontrastreichere Aufnahme (Bild 3) eines Details anfertigen oder bestimmte Merkmale mit UV-Licht hervorheben, um sie besser untersuchen und demonstrieren zu können. Auf dieser Basis macht er nicht nur Knochenfragmente aus steinernen Strukturen, sondern er verwandelt auch die Knochenfragmente nach und nach in vollständige Knochen (er vermisst sie und vergleicht sie mit ähnlichen, vollständigeren Stücken), aus denen schließlich ein kompletter Unterkiefer mit Zähnen entsteht (Bild 4). Dazu muss er natürlich ein gewisses (spekulatives) Wissen haben: Er muss wissen, dass es sich um ein Tier und nicht um eine Pflanze oder gar nur einen lustig geformten Stein handelt. Er muss wissen, wie diese Sorte Tier in etwa ausgesehen haben könnte (und nicht etwa nach einem dritten Beinpaar oder einem zweiten Maul suchen). Und er muss wissen, wie Knochen in vollständigem Zustand aussehen und sie auch als Bruchstücke noch identifizieren können. Das erreicht er, indem er das Material mit einer Vielzahl anderer Fossilien vergleicht, mit Kollegen und der Präparatorin diskutiert und aufwändige Analysen von extra dafür geschriebenen Computerprogrammen vornimmt. Am Ende steht dann eine Lebendrekonstruktion des Schädels (Bild 5). Natürlich ist und bleibt das alles spekulativ, aber nur durch diese Art gezielter Spekulation kommt man vom Stein zum Fossil zur Zeichnung zur Skelettrekonstruktion zur Lebendrekonstruktion.

Was hat sich dadurch verändert? Der Stein hat nun einen Sinn bekommen. Er ist nicht länger nur ein Stein in einer Felswand, sondern nun ein Fossil in einem Museum, womöglich ein Typusexemplar für die Gattung Pegomastax, das als Referenzpunkt für andere Fundstücke dienen kann. Weit mehr noch, er ist zu einem Zeugnis für eine komplexe Erzählung geworden, in dem es um das Erscheinen, den Überlebenskampf und das fast vollständige Verschwinden von Kreaturen geht und erlaubt es, eine weitere Episode dieser Geschichte zu erzählen. Diese Geschichte und ihre Protagonisten ist zwar fiktional, d.h. sie wird erzählt wie jede andere Geschichte auch. Ihre Besonderheit liegt aber darin, dass sie auf eine enorme Zahl von Schauplätzen verweist, die sich nicht nur erzählerisch erleben lassen. Natürlich machen die nur einen Bruchteil der Geschichte aus, aber weil sie auf eine besondere Art verbunden sind (dazu vielleicht ein andermal mehr) können sie wie die Fäden eines Fischernetzes immer neue Episoden, neue Protagonisten und neue Wendepunkte hervorbringen – und das weitgehend autonom von der Fantasie ihrer Autoren. Die Geschichten sind also in zweierlei Hinsicht wirklich (im Sinne von wirksam): Sie inspirieren uns nicht nur und beschwören eine Welt voller exotischer Reptilien, feuchtwarmer Baumfarnwälder und gigantischer Libellen; sie sind auch in der Lage, auf bekannte (und kommende) Steine, Gesteinsformationen oder Kontinente zu verweisen und ihnen eine besondere Identität, Entwicklungsgeschichte und Funktion zu geben.

Fazit[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Okay, was ist nun die Essenz aus diesem Sermon? Erstens, dass es verschiedene Existenzformen gibt und dass Tiere, Fossilien, Taxa oder Geschichten über die Urzeit auf ganz unterschiedliche Weise existieren: Tiere müssen fressen, um zu überleben, und sich fortpflanzen, um ihre Gene weiterzugeben. Knochen müssen Glück haben und im Sediment landen, müssen Zeit zum Versteinern bekommen, müssen als Fossilien zusammenhalten und Erosion widerstehen, um nicht zu vergehen. Taxa müssen von Forschern aufgestellt, verwaltet, gepflegt und vor allem nicht vergessen werden, damit sie Wirkung entfalten können. Und Geschichten über die Urzeit müssen nicht nur immer wieder erzählt und in Bilderbüchern dargestellt werden, sie müssen auch dem Tribunal der Steine standhalten bzw. sich seinem Urteil beugen, sonst werden sie in die Rumpelkammer überholter Theorien abgeschoben. Wenngleich das alles sehr unterschiedliche Abenteuer sind, so sind doch die Schicksale von Tieren, Fossilien, Taxa und Geschichten mit einander verwoben. An vielen kritischen Punkten sind sie auf einander angewiesen, etwa wenn ein Taxon auf einem verlorenen Fossil aufbaut oder die sterblichen Reste eines Tieres zu Stein werden.

Diese Beziehungen angemessen darzustellen ist unglaublich schwierig und anspruchsvoll. Sowohl den Forschern und ihren Taxa als auch den Formationen und Ihren Fossilien als auch den Geschichten und ihren tierischen Protagonisten als auch den Tieren und ihren Knochen muss angemessen Raum gegeben werden. Dabei ist es wichtig, die einzelnen Glieder in der Kette der Übersetzungen, Referenzen, Repräsentationen oder Verweise (wie auch immer man sie mit Bruno Latour nennen mag) nicht miteinander zu verwechseln, wenn dadurch ein wichtiges Detail verloren geht (z.B. dass die Gattung Ophthalmosaurus auf wackligen Füßen steht). Genauso wichtig ist es, im Hinterkopf zu behalten, dass jedes dieser Glieder – Steine, Präparatoren, Paläontologinnen, Fossilien, Zeichnungen, Knochen, Skelette, Programme, Tiere, Erzählungen – eine eigene Geschichte voller Abenteuer, Gefahren und erfolge hinter sich hat. Es gibt kein Patentrezept dafür, das alles unter einen Hut zu bringen, aber ich bin guter Hoffnung, dass wir das schaffen. Wer, wenn nicht Wikipedia?

Weitere Materialien[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Diskussion[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Hi TAM,
danke für die Darstellung - gefällt mir und ist auch sehr klar beschrieben. Ein Punkt, der mir fehlt, ist allerdings das sorrounding:

Die einzelnen Steine stehen eigentlich nie oder nur selten ohne Kontext dar. So ist bsp. der Stein / das Fossil immer eingebettet in einen Fundkontext, der andere Steine / Fossilien enthält - dabei entstehen Faunen (denen wir bislang kaum Platz einräumen in der WP) und manchmal sogar Paläo-Ökosysteme. Zugleich liegen Faunen in Schichten, deren Alter und Zusammenhänge stratigraphisch bestimmbar sind - über Leitfossilien, C14-Methode etc. wodurch also zusätzlich zu den Faunen geographische Zeitalter definiert werden können, teilweise sogar regional unterschiedlich wie bsp. durch die Probleme bei der Beschreibung nordamerikanischer Säugerfossilien, die sich nicht in das in Europa gängige Zeitaltersystem einordnen lassen und ein eigenes, nordamerikanisches brauchen.

Bei der Merkmalsrekonstruktion geht es weiter - und du hast es angeschnitten - mit typischen Merkmalen der Fossilien, die eine taxonomische Zuordnung innerhalb eines Systems fossiler und rezenter Arten zulassen und auf deren Basis die Addition von Merkmalen möglich ist, die die Steine nicht hergeben (etwa beim Irritator die Ergänzung Säbelzahntigertypischer Apomorphien und Plesiomorphien - obwohl man nur ein Schädelfragment hat kann man von der Existenz von 4 Gliedmassen etc. ausgehen.) Ebenfalls hinzu komen Merkmalsrekonstruktionen, die sich durch Analogien mit rezenten Arten und biomechanischen Gesetzmässigkeiten ergeben usw. - insgesamt spielen da also noch viel mehr Faktoren rein, die aus einem Stein ein lebendes Tier und eine Geschichte machen. Macht die Sache nciht einfacher, aber spannender ... Gruß -- Achim Raschka (Diskussion) 17:21, 15. Okt. 2013 (CEST)

Das ist richtig; der obige Text erzählt eben auch dieses Problem nur in einer Weise oder Linie. Eine Gattung oder Art ist einfach ein so bizarres ontologisches Objekt, weil es eine Vielzahl völlig unterschiedlicher Dinge verbindet und Wirkungen entfaltet. Siehe dazu auch das Video (oben eingefügt) vom Wikicon-Vortrag. -- Alt 14:23, 18. Dez. 2013 (CET)