Cuvry-Graffiti

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Die beiden Cuvry-Graffiti 2009

Die Cuvry-Graffiti waren zwei großflächige Fassadenbilder des italienischen Street-Art-Künstlers Blu, die zu den bekanntesten Graffiti in Berlin gehörten. Sie befanden sich an zwei Brandwänden am Rand der sogenannten Cuvrybrache in Berlin-Kreuzberg. Das Dorf aus Zelten und Hütten auf der Brache hatte als „Berlins erster Slum“ regelmäßig für Schlagzeilen gesorgt, bis es im September 2014 nach einem Brand geräumt wurde. Weniger aus Protest gegen die vorgesehene Bebauung des Geländes durch einen neuen Investor, als vielmehr als Zeichen gegen die Stadtentwicklungspolitik und den Umgang Berlins mit der Kunst wurden die Graffiti im Dezember 2014 im Einvernehmen mit dem Künstler Blu mit schwarzer Farbe übermalt.

Lage, Cuvrybrache

Die Cuvrybrache 2008. Ein Blu-Graffito fehlt noch.

Die Cuvrybrache befindet sich östlich des Schlesischen Tors und der Oberbaumbrücke. Das rund 12.000 m² umfassende, brachliegende Areal am nördlichen Ende der Cuvrystraße erstreckt sich von der Schlesischen Straße bis zum Spreeufer. Das Gelände ist Teil des umstrittenen Investorenprojekts Mediaspree, das die Ansiedlung von Kommunikations- und Medienunternehmen entlang eines Teils des Spreeufers und eine diesem Bereich entsprechende Umstrukturierung vorsieht. Auf größtenteils bislang un- oder zwischengenutzten Grundstücken sollen Bürogebäude, Lofts, Hotels und andere Neubauten entstehen.

Auf der Cuvrybrache, auf der einst ein Bunker stand, hatte um 1995 das Jugend- und Kulturprojekt YAAM (Young African Art Market) seine Arbeit aufgenommen und eine der ersten Berliner Strandbars eröffnet. 1998 musste das YAAM dem geplanten Einkaufszentrum „Cuvry-Center“ weichen. Da sich der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg gegen das Zentrum aussprach, entzog der damalige Bausenator Peter Strieder dem Bezirk die Planungshoheit und übertrug die Zuständigkeit der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Nach der Insolvenz des Investors planten neue Eigentümer zwei 160 Meter lange, fünfgeschossige Gebäude mit drei weiteren Staffelgeschossen. Sie sollten im traditionellen Kontorhausstil errichtet werden und sich zur Spree hin öffnen. Vorgesehen war eine Nutzung für Officelofts, kleinteiligen Einzelhandel und Gastronomie.[1] Die Baugenehmigung für das Vorhaben wurde 2002 erteilt, die Pläne scheiterten jedoch zunächst.

2011 ging das Gelände in den Besitz des Berliner Immobilienunternehmers Artur Süsskind (Ehemann von Lala Süsskind) über. Dieser plante zunächst, dort eine Wohnanlage mit Kita und Supermarkt zu errichten. Der Senat vermisste in den Plänen jedoch den Bau von Sozialwohnungen.

Als sich im Jahr 2012 das BMW-Guggenheim-Lab für einige Wochen auf der Brache niederlassen wollte, wurden Protestzelte aufgebaut. Nach heftiger Anwohnerkritik zog das Lab auf den Pfefferberg im Ortsteil Prenzlauer Berg. Aus den ersten Protestzelten entstand ein Hüttendorf mit bis zu 200 Einwohnern aus verschiedenen Ländern, darunter nach Darstellung der Berliner Zeitung Obdachlose, Lebenskünstler, Bulgaren, die aus der alten Eisfabrik an der Köpenicker Straße raus mussten, und Romafamilien. Als das Dorf nach Gewalttaten, Bränden und Verwahrlosung zunehmend als „Kreuzberger Favelastigmatisiert wurde und auch in der Kreuzberger Nachbarschaft an Rückhalt verlor, erwogen der neue Besitzer und die Berliner Polizei eine Räumung.[1]

Das Land Berlin entwickelte 2013 in Abstimmung mit Süsskind einen Erschließungsplan für den Bau von unter anderem „sozialverträglichen“ Wohnungen und eine frei zugängliche Uferfläche sowie Gewerbeflächen an der Schlesischen Straße. Im September 2014 brannte es nach einem Streit unter den Bewohnern im Dorf. Daraufhin sperrte die Polizei das Gelände ab und übergab das Areal dem Eigentümer. Die provisorischen Holzhütten und Zelte wurden eingerissen, die Brache geräumt, eingeebnet und eingezäunt.[2][3][4] Süsskind sprach sich im Frühjahr 2016 gegen die Pläne mit dem Land Berlin aus und kündigte an, das Bauvorhaben unter dem Namen „Cuvry Campus“ mit der Genehmigung aus dem Jahr 2002 umsetzen zu wollen.[5] Es wurde ein Vertrag mit dem Modeversandhändler Zalando abgeschlossen, der ab Ende 2019 34.000 Quadratmeter Büroflächen beziehen wollte, was erneut Proteste bei den Anwohnern hervorrief. Das Unternehmen trat im März 2018 von dem Vertrag zurück, da „vertraglich festgelegte Fristen und Meilensteine seitens der Cuvrystraße 50-51 Berlin GmbH nicht eingehalten wurden“.[6]

Graffiti von Blu aus den Jahren 2007/2008

Das Graffito wird angebracht.

Die beiden Graffiti des italienischen Street-Art-Künstlers Blu[7] entstanden in den Jahren 2007/2008 und erstreckten sich über die Brandwände (fensterlosen Seiten-Außenwände) von zwei Häuserblocks, die an die Brache angrenzen. Das erste Bild kreierte Blu im Sommer 2007 im Rahmen des „Planet Prozess“, eines Ausstellungsprojektes des Berliner Kunstvereins Artitude zur Street-Art.[8] Beide Wandbilder zeigten weiße Figuren. Ein Bild stellte den kopflosen Oberkörper eines Mannes dar, der an den Handgelenken je eine goldene Uhr trug. Die Uhren waren als Handschellen gestaltet und mit einer goldenen Kette verbunden. Mit den gebundenen Händen richtete der Mann seine Krawatte.

Das Maskenbild in der Ursprungsversion, noch ohne Tauchermasken, 2007
Der „Handschellenmann“ 2012

Das andere Graffiti zeigte zwei maskierte Figuren, eine auf dem Kopf stehend. Beide streckten die Hände aus und rissen sich gegenseitig die Masken von den Köpfen. Mit den Fingern der freien Hände formten die Figuren ein W und ein E – die US-Zeichen für Eastside und Westside, für Ost und West. Wenige Meter entfernt am Spreeufer verlief die Berliner Mauer. Entsprechend wertete die Süddeutsche Zeitung: Das Motiv, ein Statement zum Wandel der ehemals geteilten Stadt, ging um die Welt. Heute gilt das Bild als Symbol für Berlins Status als Hauptstadt der Street Art.[9] Dieses Bild war ursprünglich ein Gemeinschaftswerk von Blu und dem französischen Street-Art-Künstler JR, bekannt für sein auch in Berlin vorhandenes Werk Die Falten der Stadt und Gewinner des mit 100.000 US-Dollar dotierten TED Prize 2011. JR hatte die schwarz umrandeten Augenpartien beigesteuert, die in der Ursprungsversion in den Gesichtsmasken offenlagen. Nachdem der Regen die Augen weitgehend abgewaschen hatte, ersetzte Blu sie mit den heute meist bekannten Tauchermasken. Den Slogan Reclaim Your City (Hol dir die Stadt zurück) über dem Bild, der auf der Hauswand bereits vorhanden war, ließen Blu und JR stehen.[10][3] Der Slogan gilt weltweit als Ausdruck urbaner Protestbewegungen um Macht und Teilhabe am städtischen Raum.[11]

Laut Spiegel Online wurden die Bilder Teil des Stadtbilds, Fotomotiv, Kult – und zum Symbol der Brache am Kreuzberger Spreeufer.[12] In den letzten Jahren ihres Bestehens waren sie fester Bestandteil von Graffiti-Touren. Aus Sorge um den Bestand der Bilder nach der Planierung der Brache brachten Unterstützer in einer Online-Petition bis zum Dezember 2014 mehr als 7000 Unterschriften zusammen mit dem Ziel, die Bilder unter Denkmalschutz zu stellen.[3]

Übermalung im Dezember 2014

In der Nacht vom 11. auf den 12. Dezember 2014 rückten mehrere Männer mit zwei Hebebühnen und Farbrollen an und übermalten die Bilder mit schwarzer Farbe. Übrig blieb lediglich Your City aus dem Slogan Reclaim Your City und ein Stinkefinger, der später ebenfalls übermalt wurde.[13] Zu der Aktion bekannte sich der Berliner Kulturwissenschaftler Lutz Henke, Mitgründer des Künstlervereins Artitude. Die Aktion solle an die Notwendigkeit erinnern, erschwingliche und lebendige Orte in der Stadt zu erhalten. Henke schrieb ferner: Sieben Jahre, nachdem die monumentalen Wandbilder entstanden sind, war es an der Zeit, dass sie verschwinden – wie die verblassende Ära Berlins, die sie repräsentierten.[14]

Die Fassaden nach der Übermalung. Ironischer Rest: Your City aus dem Slogan Reclaim Your City.

Die Übermalung erfolgte mit Blus Einverständnis. Nach Medienberichten hat Blu angeblich verhindern wollen, dass der Immobilieninvestor aus seinem Kunstwerk Kapital schlägt. Das Bild solle nicht dazu dienen, die Preise für die Wohnungen auf der Fläche in die Höhe zu treiben.[12][3][15] Allerdings wollte Henke, der bereits an der Entstehung der Bilder 2007/2008 beteiligt war, die Aktion nicht nur auf den einzelnen Investor oder auf die Räumung der Cuvrybrache bezogen wissen.[16] Sie sei vielmehr ein Signal gegen die misslungene Stadtentwicklung insgesamt und den Berliner Umgang mit der Kunst. An den schwarzen Mauern lasse sich eine Berliner Epoche gut erklären. In einem Interview teilte er mit:

„Es geht uns damit nicht nur um das Phänomen der Gentrifizierung – wir wollen bestimmt nicht populistisch schreien „Alles wird schlecht“, ohne uns mit den Prozessen auseinanderzusetzen. Es ist aber ein Symbol, an dem sich sehr viel illustrieren und zeigen lässt. […] Es gibt eine permanente Verwertung der Street Art – von Seiten der Stadt Berlin, von der Stadtvermarktung und der Kiezverwaltung zum Beispiel. Im Bereich der Street Art ist eine Industrie entstanden, die einer Verwertungslogik gehorcht; spätestens, seit es Street Art-Reiseführer gibt oder Graffiti und Street Art im Stadtmarketing aufgegangen sind. Dass wir uns nicht falsch verstehen: Diese Kunst ist da, um gesehen zu werden. Die Kunst aber einerseits zu verwerten, es aber andererseits politisch nicht zu schaffen, die Voraussetzungen für unabhängige Kunst in der Stadt zu erhalten und dafür zu sorgen, dass diese Kunst zukünftig Raum hat, ist widersinnig. Es sind ähnliche Phänomene, wie sie die Koalition Freie Szene auch erlebt: Wir tragen aktiv zum Mehrwert der Stadt bei, aber es kommt nichts zurück.“

Lutz Henke im Interview mit der taz, 19. Dezember 2014.[17]

Nach Henkes Darstellung soll die schwarze Wand auch kein Statement der Hilflosigkeit sein, wie es schon gedeutet worden sei. Sie sei im Gegenteil eine Demonstration für Handlungsfähigkeit. Gute Kunst oder gute Street Art zeichne sich ja auch dadurch aus, dass sie im Hinblick auf eine Situation funktioniere und nicht nur illustrativ sei.[17] Noch vorhanden (Stand 2015) ist Blus fast benachbartes Wandbild Leviathan (auch Pink Man, Blus Backjump Mural) am Ende der Falckensteinstraße. Auf den nicht zu übersehenden, pinkfarbenen Riesen läuft man beim Verlassen der Oberbaumbrücke in Richtung Kreuzberg zu.[18][19]

Siehe auch

Literatur

  • Ingo Clauß, Stephen Riolo, Sotirios Bahtsetzis: Urban Art: Werke aus der Sammlung Reinking. 1. Auflage. Hatje Cantz, Ostfildern 2009, ISBN 978-3-7757-2503-3 (Ausstellungskatalog) S. 55.
  • Tobias Höpner: Standortfaktor Image. Imageproduktion zur Vermarktung städtebaulicher Vorhaben am Beispiel von „Media-Spree“ in Berlin. Institut für Stadt- und Regionalplanung, TU Berlin, Diskussionsbeiträge 55, 2005, ISBN 3-7983-1957-X.
  • Niko Rollmann: Der lange Kampf: Die "Cuvry"-Siedlung in Berlin. 1. Auflage. Im Selbstverlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-00-053042-5
Commons: Cuvry-Graffiti – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. a b Karin Schmidl: Die Geschichte der Cuvry-Brache. In: Berliner Zeitung, 13. Juli 2014.
  2. Andreas Kopietz: Bewohner der Cuvry-Brache sind vertrieben. Nach den Hütten kommen die Cuvryhöfe. In: Berliner Zeitung, 22. September 2014.
  3. a b c d Anne Lena Mösken: Aus Blu wird Schwarz. Das bekannteste Graffito Berlins wurde übermalt. Dahinter steckt der Künstler selbst. In: Berliner Zeitung, 13./14. Dezember 2014, S. 22.
  4. Das ist nicht Bombay, das ist Berlin. Die Slums von Kreuzberg. In: Berliner Kurier, 16. März 2014.
  5. Jürgen Stüber und Lorenz Vossen: Cuvry-Brache in Kreuzberg: Ein Kiez wird „disneyfiziert“. (morgenpost.de [abgerufen am 24. März 2018]).
  6. Christian Gehrke: Cuvry-Brache: Zalando bezieht neue Büros nun doch nicht. In: Berliner Zeitung. (berliner-zeitung.de [abgerufen am 24. März 2018]).
  7. Ingo Clauß, Stephen Riolo, Sotirios Bahtsetzis: Urban Art: Werke aus der Sammlung Reinking. S. 55.
  8. Planet Prozess – Zwischen Raum und Kunst. Pressemappe. (PDF) Ausstellung im Senatsreservenspeicher, Berlin-Kreuzberg, 20. Juli bis 19. August 2007.
  9. Florian Fuchs: Graffiti in Berlin. Gegen die Wand. In: Süddeutsche Zeitung (online), 2. Oktober 2011.
  10. Lars von Törne, Torben Waleczek, Franziska Felber: Kreuzberg trägt schwarz: Kult-Graffiti übermalt. In: Der Tagesspiegel (online), 12. Dezember 2014.
  11. Reclaim Your City: Urbane Protestbewegungen am Beispiel Berlins. Hg. Pappsatt Medien-Kollektiv. Assoziation-A Verlag, Berlin 2014, ISBN 978-3-86241-437-6.
  12. a b Cuvry-Brache in Berlin: Das Ende der Kult-Graffiti in Kreuzberg. Spiegel Online, Panorama, 12. Dezember 2014.
  13. Lars von Törne, Torben Waleczek, Franziska Felber: Kreuzberg trägt schwarz: Kult-Graffiti übermalt. In: Der Tagesspiegel Online. 12. Dezember 2014, ISSN 1865-2263 (tagesspiegel.de [abgerufen am 24. März 2018]).
  14. Bilder einer verblassten Ära. Wer Blus Graffiti übermalt hat. In: Berliner Zeitung, 23. Dezember 2014, S. 15.
  15. Graffiti an Cuvry-Brache übermalt. (Memento des Originals vom 21. Januar 2015 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.rbb-online.de Rundfunk Berlin-Brandenburg, Kultur online, Stand 12. Dezember 2014.
  16. „Die Stadt, die immer träumt.“ Ist in Berlin bald kein Platz mehr für künstlerische Freiheit? Warum Lutz Henke die Bilder an der Kreuzbzberger Cuvrybrache übermalte. Gespräch von Paul Linke und Anne Lena Mösken mit Lutz Henke. In: Berliner Zeitung, 17. Februar 2015, S. 14.
  17. a b Street-Art-Bild übermalt. „Eine Art ’Kill your darlings’“. In: taz, 19. Dezember 2014. (Interview mit Lutz Henke.)
  18. Falckensteinstraße 46,48 und 49. Wandbilder Berlin
  19. Wiebke Hollersen: Menschenfressender Riese. In Kreuzberg enden am Sonntag zwei Streetart-Ausstellungen. In: Berliner Zeitung, 18. August 2007.

Koordinaten: 52° 29′ 59″ N, 13° 26′ 47″ O