Dieter Senghaas

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Dieter Senghaas (* 27. August 1940 in Geislingen an der Steige) ist ein deutscher Sozialwissenschaftler und Friedensforscher.

Biographie

Nach dem Studium der Politik- und Sozialwissenschaften, Philosophie und Geschichte von 1960 bis 1967, wurde Senghaas 1967 in Frankfurt zum Dr. phil. promoviert. Die Dissertation Kritik der Abschreckung beschäftigt sich mit dem Fachgebiet, das seitdem seine wissenschaftliche Tätigkeit prägt: Die Internationalen Beziehungen und hier insbesondere die Friedensforschung, Entwicklungsländerforschung und Konfliktforschung. An das Studium schloss sich bis 1968 eine Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Frankfurt und dann bis 1970 ein Forschungsaufenthalt in den USA, unter anderem bei Karl W. Deutsch an der Harvard University an. Von 1972 bis 1978 war Senghaas Forschungsgruppenleiter an der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung und von 1972 bis 1978 Professor an der Universität Frankfurt. Seit 1978 ist er Professor an der Universität Bremen und dort am Institut für interkulturelle und internationale Studien tätig. 1986/87 und 1992/94 besaß Dieter Senghaas an der Stiftung Wissenschaft und Politik eine Forschungsprofessur. Seit 1995 ist Senghaas Mitglied des Beirats der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Bonn. Im Jahre 1999 wurde Senghaas mit dem Göttinger Friedenspreis der Dr. Roland Röhl. Stiftung ausgezeichnet.

Wissenschaftliche Arbeit

Arbeit über den Ost-West Konflikt

In den 1960er und Anfang der 70er Jahre setzte sich Senghaas mit der Rüstungsdynamik und der Abschreckungssystematik im Ost-West Konflikt auseinander. Senghaas erkannte in der Abschreckungskonstellation des Kalten Krieges eine autistische Struktur, welche laut Senghaas vor allem von innen und weniger von außen (internationale Prozesse) vorangetrieben wird. Senghaas Abschreckungskritik und seine Analyse der Rüstungsdynamik/-kontrolle trugen zur Entwicklung der kritischen Friedensforschung bei.

Arbeit über den Nord-Süd Konflikt

In seinen drei Sammelwerken „Imperialismus und strukturelle Gewalt (1972)“, „Peripherer Kapitalismus. Analysen über Abhängigkeit und Unterentwicklung (1974)“, „Kapitalistische Weltökonomie. Kontroversen über ihren Ursprung und ihre Entwicklungsdynamik (1979)“ sowie in seinem 1977 erschienenen Buch „Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik. Plädoyer für Dissoziation“ versucht Senghaas die strukturelle Abhängigkeit der Peripherie von den Metropolen, oder vereinfacht gesagt die Abhängigkeit der Entwicklungsländer(Gebiete) von den politischen und ökonomischen Machtzentren im Zeitalter der Weltwirtschaft sichtbar zu machen. Senghaas sieht einen Ausweg in der von außen (Druck der Industrieländer) und von innen (Interesse der Machteliten am Erhalt der vorhandenen Gesellschaftsstrukturen) geschaffener Entwicklungshemmnisse in einer zeitweisen Abkopplung (nicht Abschottung!) vom Weltmarkt. In dieser Abkopplungsphase sollte sich auf eine Entwicklung der Wirtschaftsform in den Entwicklungsländern, welche sich auf die Befriedung der lokalen Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung möglichst unter der Ausnutzung lokaler Ressourcen (damit meint Senghaas nicht das streben nach Autarkie) konzentriert werden. Mit dieser Sichtweise lehnte Senghaas auch gleichzeitig die damaligen Vorstellung, dass die bloße Integration der Dritten Welt in die gegebene Weltwirtschaftsordnung die Entwicklungsprobleme der Dritten Welt lösen könnte ab. Senghaas versuchte nun ab Mitte der 1970er Jahre seine Theorie durch die Analyse der sozialistischen Entwicklungsländer Albanien, VR China, Nordkorea und Kuba zu kräftigen. Für Senghaas stellt dabei Sozialismus nicht ein postkapitalistisches Produktionssystem dar. Vielmehr (unabhängig von den Absichten der jeweiligen Akteure/Regime) könne der Sozialismus eine wirtschaftliche Entwicklung vollbringen, welche so unter kapitalistischen Bedingungen nicht möglich wäre. In seiner Analyse kam Senghaas zur Auffassung, dass die Entwicklung der Staaten anfangs positiv verlief, aber dann zunehmend durch ausgebliebene Reformen, ein immer komplexer werdendes System aus Wirtschaft und Gesellschaft und einer zunehmend unbeweglichen politischen Ordnung zum Erliegen kam (Ergebnis Mitte der 80er Jahre). Aus den Ergebnissen der Analyse sind in Zusammenarbeit mit Frankfurter Doktoranden mehrere Ländermonographien sowie ein Beitrag zum entwicklungsgeschichtlichen Stellenwert des Sozialismus entstanden. Dieter Senghaas hat mit seinen Werken über die Möglichkeiten eigenständiger Entwicklungsprozesse in Abhängigkeit von den international gegebenen Bedingungen (ökonomische/politische) die entwicklungstheoretische Diskussion innerhalb der Internationalen Beziehungen in Deutschland maßgeblich mit geprägt.

Publikationen

  • Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit, Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt 1969 (3. erweiterte Aufl. 1981)
  • Politikwissenschaft. Eine Einführung in ihre Probleme, Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt 1969 (4. Aufl. Fischer Verlag 1973) (Mithrg.)
  • Bibliographie zur Friedensforschung, hrg. von G. Scharffenorth und W. Huber, Stuttgart/München: Kösel und Kaiser Verlag 1970 (2. Aufl. 1973) (Koautor).
  • Zur Pathologie des Rüstungswettlaufs, Freiburg: Rombach Verlag 1970 (Hrg.)
  • Friedensforschung und Gesellschaftskritik, München: Hanser Verlag 1970 (2. Aufl. Frankfurt: Fischer Verlag 1973) (Hrg.)
  • Texte zur Technokratiediskussion, Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt 1970 (2. Aufl. 1971) (Mithrg.)
  • Kritische Friedensforschung, Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1971 (6. Aufl. 1981) (Hrg.)
  • Aggressivität und kollektive Gewalt, Stuttgart: Verlag Kohlhammer 1971 (2. Aufl. 1972)
  • Aufrüstung durch Rüstungskontrolle. Über den symbolischen Gebrauch von Politik, Stuttgart: Verlag Kohlhammer 1972
  • Imperialismus und strukturelle Gewalt, Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1972 (7. Aufl. 1987) (Hrg.)
  • Rüstung und Militarismus, Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1972 (2. Aufl. 1982)
  • Jahrbuch für Friedens- und Konfliktforschung, Bd. 2, Düsseldorf: Bertelsmann Verlag 1972 (Mithrg.)
  • Frieden in Europa? Zur Koexistenz von Rüstung und Entspannung, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1973 (Koautor)
  • Peace Research in the Federal Republik of Germany, Journal of Peace Research 3/1973 (Sondernummer) (Hrg.)
  • Kann Europa abrüsten? Friedenspolitische Optionen der siebziger Jahre, München: Carl Hanser Verlag 1973 (Mithrg.)
  • Gewalt-Konflikt-Frieden. Essays zur Friedensforschung, Hamburg: Hoffmann & Campe Verlag 1974
  • Overcoming Underdevelopment, Journal of Peace Research 4/1975 (Sondernummer) (Hrg.)
  • Peripherer Kapitalismus. Analysen über Abhängigkeit und Unterentwicklung, Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1974 (2. Aufl. 1977) (Hrg.)
  • Probleme des Friedens, der Sicherheit und der Zusammenarbeit, Köln: Pahl-Rugenstein Verlag 1975 (Mithrg.)
  • Multinationale Konzerne und Dritte Welt, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1976 (Mithrg.)
  • Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik. Plädoyer für Dissoziation, Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1977 (5. Aufl. 1987)
  • Strukturelle Abhängigkeit und Unterentwicklung. Unterrichtsvorschläge, Frankfurt: HSFK-Studie 1-3, 1978 (Koautor)
  • Kapitalistische Weltökonomie. Kontroversen über ihren Ursprung und ihre Entwicklungsdynamik, Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1979 (2. Aufl. 1982) (Hrg.)
  • Strukturelle Abhängigkeit und Unterentwicklung am Beispiel Mozambiques, Bonn: Verlag Wegener 1980 (Koautor)
  • Sozialismus-Diskussion. Eine Fortsetzung, Schwerpunktheft des Leviathan, Bd. 9, 1981, Nr. 2 (Hrg.)
  • Wiedersehen mit China nach zwei Jahren, Saarbrücken: Breitenbach-Verlag 1981 (Mithrg.)
  • Von Europa lernen. Entwicklungsgeschichtliche Betrachtungen, Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1982
  • Auf dem Wege zu einer Neuen Weltwirtschaftsordnung? Bedingungen und Grenzen für eine eigenständige Entwicklung. Baden-Baden: Nomos Verlag 1983 (Mithrg.)
  • Die Zukunft Europas. Probleme der Friedensgestaltung, Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1986
  • Europas Entwicklung und die Dritte Welt. Eine Bestandsaufnahme, Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1986 (2. Aufl. 1991) (Koautor)
  • The Quest for Peace. Transcending Collective Violence and War among Societies, Cultures and States, London: Sage 1987 (Mithrg.)
  • Konfliktformationen im internationalen System, Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1988
  • Regionalkonflikte in der Dritten Welt. Fremdbestimmung und Autonomie, Baden-Baden: Nomos Verlag 1989 (Hrg.)
  • Europa 2000. Ein Friedensplan. Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1990 (2. Aufl. 1991)
  • Die Welt nach dem Ost-West-Konflikt. Geschichte und Prognosen, Berlin: Akademie-Verlag 1990 (Mithrg.)
  • Friedensforschung in Deutschland. Lagebeurteilung und Perspektiven für die neunziger Jahre, Bonn: Arbeitsstelle Friedensforschung Bonn 1990 (Mithrg.)
  • Soziale Verteidigung. Konstruktive Konfliktaustragung. Kritik und Gegenkritik, Frankfurt: Verlag Haag + Herchen 1991 (Militärpolitik. Dokumentation Heft 89/81) (Koautor)
  • Friedensprojekt Europa, Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1992 (3. Aufl. 1996)
  • Wohin driftet die Welt? Über die Zukunft friedlicher Koexistenz, Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1994 (2. Aufl. 1996)
  • Den Frieden denken. Si vis pacem, para pacem, Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1995. (Hrg.)
  • Frieden machen, Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1997 (Hrg.).
  • Zivilisierung wider Willen. Der Konflikt der Kulturen mit sich selbst. Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1998 (2. Aufl. 1998)
  • Klänge des Friedens. Ein Hörbericht – Annäherung an den Frieden über klassische Musik, Frankfurt: Suhrkamp Verlag 2001
  • Friedensprojekt Europa, 2002
  • Friedenspolitik. Ethische Grundlagen internationaler Beziehungen, München: Piper Verlag 2003 (Mithrg.)
  • Zum irdischen Frieden, Erkenntnisse und Vermutungen, Frankfurt: Suhrkamp Verlag 2004
  • Vom hörbaren Frieden, 2004

Das Zivilisatorische Hexagon

Das „zivilisatorische Hexagon“ von Dieter Senghaas fügt tragende Bausteine für eine stabile Friedenssicherung zusammen. Diese Friedenssicherung und ihre Kontrolle über sich wird als Zivilisierungsprojekt angesehen. Das Hexagon besteht aus sechs Bausteinen, die alle miteinander verknüpft sind, da sie abhängig voneinander sind. Ein wesentlicher Baustein ist das Gewaltmonopol, was die Entprivatisierung von Gewalt und seine Legitimation, sprich die „Entwaffnung der Bürger“ bedeutet. Der nächste Baustein, die Rechtsstaatlichkeit, beinhaltet die Kontrolle des Gewaltmonopols, was eine Voraussetzung dafür ist, dass das öffentliche Gewaltmonopol nicht despotisch missbraucht wird. Denn ohne eine rechtsstaatliche Kontrolle wäre das Gewaltmonopol nichts weniger als eine Diktatur. Der dritte Baustein, die Demokratische Partizipation bedeutet die demokratische Beteiligung der Öffentlichkeit bei Wahlen und anderen Entscheidungsfindungen, denn ohne dieses Mitwirkrecht des Volkes würde sich das Volk nicht an die vorgegebenen Gesetze halten. Auch muss das Vertrauen vom Volk durch Gleichberechtigung gesichert sein, damit es solche Regeln beachtet. Dies geschieht unter anderem durch den Baustein der Sozialen Gerechtigkeit, der dafür sorgt, dass bei einem Verstoß ein gerechtes Urteil eines neutralen Gerichts gefällt, aber auch, dass für die Sicherung der Grundbedürfnisse eines jeden Menschen gesorgt wird. Dazu kommt die Sicherung der Menschenrechte eines jeden. Der nächste Baustein trägt die Überschrift der Konstruktiven Konfliktkultur, die die Toleranzfähigkeit in einer multikulturellen Gesellschaft und eine Bereitschaft zur kompromissorientierten Konfliktlösung beschreibt. Der letzte Baustein des Hexagons ist mit Interdependenzen und Affektkontrolle überschrieben. Die Aufgabe dieses Bausteins ist die wechselseitige Abhängigkeit unter den Menschen und ihre Kontrolle über sich in Konfliktsituationen.

Literatur

  • Frank Nullmeier, Michael Zürn: Wissenschaft als Beruf - Zwei Vorträge über Dieter Senghaas. In: Leviathan. Jg. XXXIII, 2005, Heft 4, S. 423-463