Grünberger Handschrift
Als Grünberger Handschrift (tschechisch rukopis zelenohorský, abgekürzt oft RZ) wird eine literarische Fälschung bezeichnet, die angeblich 1817 auf Schloss Grünberg bei Nepomuk gefunden wurde.
Beschreibung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Grünberger Handschrift besteht aus acht beschriebenen Seiten auf zwei Pergament-Doppelblättern. Die Doppelseiten sind grob verarbeitet, erkennbar beschädigt und messen 22,4 × 18 cm. Der fortlaufende Text ist mit einer Eisen-Kupfer-Tinte geschrieben, die heute grün ist und früher angeblich eine schwarze Kruste hatte. Verziert ist der Text mit vier zinnoberroten Initialen und einigen zinnoberroten Großbuchstaben. Außerdem kommen häufig winzig kleine rote Zeichen vor, deren Zweck unbekannt ist. Der Text ist ohne Leerzeichen (in continuo) geschrieben, die Anfangsbuchstaben der Wörter sind mit zinnoberroten Wurzelrubriken versehen.
Inhalt
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Handschrift enthält Fragmente der in alttschechischer Sprache abgefassten Gedichte[1] Sněmy (Der Landtag)[2] und Libušin soud (Das Gericht der Libussa)[3] mit dem Thema: Konflikt der Brüder Chrudoš und Šťáhlav um das Erbe und ihrer Aburteilung durch die Fürstin Libuše.
Geschichte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten](Zum historischen Hintergrund und dem Streit um die Echtheit siehe auch: Königinhofer Handschrift)
Die Grünberger Handschrift soll im Herbst 1817 von Josef Kovář auf Schloss Grünberg entdeckt worden sein, der sie anonym an den Fürsten Kolowrat als Geschenk für die Gesellschaft des vaterländischen Museums in Böhmen und das neu gegründete Nationalmuseum sandte, dessen Archivar Václav Hanka zugleich der Entdecker der Königinhofer Handschrift war.
Die in diesen Handschriften enthaltenen Texte galten damit als die bis dahin ältesten bekannten Dokumente tschechischer Literatur.[4] Es wurde angenommen, dass diese Sammlung aus dem 8. oder 9. Jahrhundert stamme. Entspräche dies den Tatsachen, wären es die ältesten überlieferten Handschriften in ganz Böhmen. Die Handschrift wurde in der Zeit der Tschechischen Nationalen Wiedergeburt (národní obrození) zusammen mit der ebenfalls gefälschten Königinhofer Handschrift zu einem nationalistischen Symbol.
Gleich nach Bekanntwerden der Grünberger Handschrift erklärte der führende böhmische Philologe Josef Dobrovský, der die Königinhofer Handschrift vorbehaltlos aufgenommen hatte, sie für eine Fälschung und bezeichnete seinen Studenten Hanka als Autor des Fragments.[4] Ihre Echtheit wurde dann auch von Bartholomäus Kopitar, Max Büdinger und anderen angefochten, dagegen von Josef Jungmann, František Palacký, Pavel Jozef Šafárik, Václav Vladivoj Tomek („Die Grünberger Handschrift“, Prag 1859) und Josef Jireček verteidigt.[5] Seit 1886 hatten die Prager Professoren Jan Gebauer und Tomáš Garrigue Masaryk ernste Bedenken gegen die Echtheit der Grünberger Handschrift erhoben.[5] Masaryk bat Gebauer um wissenschaftliche Beweise pro oder contra.[6] Masaryk und anderen gelang es ab 1886, die Falschheit dieser Werke wissenschaftlich nachzuweisen. Vermutlich sind die Autoren Václav Hanka und Josef Linda. Masarik formulierte später: „Jeden vernünftigen Menschen wird natürlich die Enttäuschung, die uns meiner Meinung nach erwartet, schmerzen; ich bin aber überzeugt davon, daß es in unserem Volk genügend nervenstarke Leute gibt, die in der Lage sind, die ungute Botschaft zu verkraften….“[6]
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die Stoßrichtung der Bemühungen um die Herausbildung eines tschechischen nationalen Selbstbewusstseins geändert. An die Stelle eines Strebens nach geistiger Gleichwertigkeit mit den Deutschen trat die Überzeugung, das tschechische Volk bedürfe keiner Beschönigung seiner Vergangenheit (mehr), es habe im Gegenteil den entsprechenden Wissensstand und die moralische Reife erreicht, den Trug der Handschriftenfälschung zu durchschauen und wissenschaftlich zu widerlegen.[4]
Heute wird die Handschrift in der Abteilung für kostbare Handschriften des 19. Jahrhunderts im Nationalmuseum in Prag aufbewahrt, aber aus Gründen ihres schlechten Zustands nicht mehr ausgestellt.
Wirkung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Fund der Königinhofer und Grünberger Handschriften war eine Sensation für die tschechischen Patrioten und die Euphorie darüber, sich Griechen, Deutschen und Franzosen gleichstellen zu können, kannte keine Grenze. Die Handschriften erschienen 1840 in der umfassenden Anthologie „Die ältesten Denkmäler der böhmischen Sprache“.[7] Die Handschrift diente einige Jahrzehnte später als Vorlage einer der bekanntesten tschechischen Opern: Bedřich Smetana vertonte einige der Textstellen der Handschriften in seiner Oper Libuše.[7]
Salz in die tschechische Wunde streute allerdings der Prager Fritz Mauthner 1897 mit seiner Novelle Die böhmische Handschrift, in der ein Lehrer ein tschechisches Heldenepos aus dem 13. Jahrhundert fälscht.[8]
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Zelenohorský rukopis, in: Ottův slovník naučný, Band XXVII, S. 529–534.
- Mojmír Otruba (Hrsg.): Rukopisy královédvorský a zelenohorský: Dnešní stav poznání. Prag 1969.
- Josef Jireček Die altböhmischen Gedichte der Grünberger und Königinhofer Handschrift im Urtexte und in deutscher Uebersetzung herausgegeben Prag 1879
- Václav Vladivoj Tomek: Die Grünberger Handschrift. Zeugnisse über die Auffindung des „Libušin soud.“ Aus der Böhmischen Museumszeitung übersetzt von Jakob Malý. Museum des Königreichs Böhmen, Prag 1859 (Digitalisat bei: Google Books) Alternativrepräsentation (vollständig) bei: Münchener Digitalisierungszentrum abgerufen am 28. August 2022
- Die ältesten Denkmäler der böhmischen Sprache: Libusǎ’s Gericht, Evangelium Johannis, der Leitmeritzer Stiftungsbrief, Glossen der Mater verborum, kritisch beleuchtet von Paul Joseph Šafařik und Franz Palacky. Kronberger und Riwnać, Prag 1840 (Digitalisat bei: Google Books). Alternativpräsentation bei: MDZ
- Die Handschriften von Grünberg und Königinhof. Altböhmische Poesien aus dem IX. bis XIII. Jahrhundert. Eingeleitet und übersetzt von Siegfried Kapper. Bellmann, Prag 1859 (Digitalisat bei: Google Books).
- Katrin Bock: Die Könighofer und Grünberger Handschriften Radio Praha International 20. Januar 2001
- Michael Wegner: Die erfundene Vergangenheit Große Fälschungen der Geschichte: Zwei tschechische Handschriften Neues Deutschland 15. Juli 2006
- Dana Mentzlová: Rukopisy Královédvorský Zelenohorský (RKZ) Die Königinhofer und Grünberger Handschriften - gefälscht oder echt?
- Ota Filip: Die Königinhofer und die Grünberger Handschrift In: Gefälscht!Betrug in Politik, Literatur, Wissenschaft, Kunst und Musik Karl Corino (Hrsg.) Greno, Nördlingen 1988, ISBN 3-89190-525-4, S. 218–228
- Gisela Kaben: Rukopis Královédvorský a Zelenohorský – Umfeld der Entstehung und Rezeption zweier gefälschter Handschriften in; brücken – Germanistisches Jahrbuch Tschechien-Slowakei 09/1–2 (2001 S. 27–39)
- Grünberger Handschrift In: Meyers Konversationslexikon Band 7 1887 S. 857
- Markéta Kachlíková: Das größte Geheimnis der tschechischen Geschichte Radio Praha vom 28. September 2017
- Kai Witzlack-Makarevich: Osudy padělaných rukopisů. Die Schicksale der gefälschten Handschriften. In: Osteuropäische Kultur- und Landeskunde 4. Februar 2021
- Fritz Mauthner: Die böhmische Handschrift: München 1897 Google Buchauszüge Alternativpräsentationbei Projekt Gutenberg
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Umfangreiche Seiten zu den Königinhofer und Grünberger Handschriften von Verteidigern der Echtheit (mit Digitalisat und ausführlicher Bibliographie; tschechisch, auch deutsche Texte)
Einzelnachweise und Anmerkungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Die ältesten Denkmäler der böhmischen Sprache:Inhaltsverzeichnis
- ↑ Die ältesten Denkmäler der böhmischen Sprache:Sněm S. 134
- ↑ Die ältesten Denkmäler der böhmischen Sprache: Lubušin súd S. 136
- ↑ a b c Veronika Jičínská: Wer ist der bessere Fälscher? – Die gefälschten tschechischen Manuskripte im Nationalitätenkampf um kulturelle Hegemonie In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 5. Jahrgang, 2014, Heft 2
- ↑ a b Meyers Konversationslexikon 1887
- ↑ a b Ernst Bruckmüller: Tomáš Garrick Masaryk - Der Weg zur Wissenschaft In: Austria-Forum
- ↑ a b Katrin Bock, Radio Praha International
- ↑ Kai Witzlack-Makarevich