Jüdische Gemeinde Kolín

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Das jüdische Ghetto in Kolín, hier Gasse Karoliny Světlé

Die jüdische Gemeinde (Kehillah) in Kolín (deutsch Kolin, älter auch Köln an der Elbe), einer Stadt im Bezirk Okres Kolín in Tschechien, besteht seit dem 14. Jahrhundert. Sie gehörte lange Zeit zu den größten und bedeutendsten jüdischen Gemeinden in Böhmen bzw. ab 1918 in der Tschechoslowakei.

Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Kolín

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Die Anfänge der jüdischen Gemeinde in Kolín, die zu den ältesten und bedeutendsten jüdischen Gemeinden in der Geschichte Böhmens gezählt wird, reichen bis in das 14. Jahrhundert. Mit der genaueren Datierung gehen die Quellen jedoch etwas auseinander. Der Historiker Josef Vávra erwähnt, dass nach 1376 in den Stadtbüchern einige Juden genannt werden[1], der Kolíner Rabbiner Richard Feder, der Vávras Arbeit rezipiert, stellt diese Angaben nicht in Frage[2]. Zuzana Věchetová erwähnt in ihrer Arbeit Quellen, in denen die Autoren auf mögliche Anfänge jüdischer Besiedlung in Kolín in der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts verweisen. Sie nennt hier weiterhin Eintragungen in den böhmischen Landtafeln (libri contractuum, tschechisch „zemské desky“), wonach 1377 über die Eigentumsverhältnisse einiger jüdischer Bewohner geschrieben wird (LC II).[3] Ferner wird auf den Codex epistolaris Johannis regis Bohemiae hingewiesen, in dem sich ein Brief von 1339–1341 (bzw. 1346) befindet, gerichtet u. a. an die Verwaltung von Kolín, betreffend Steuerangelegenheiten dortiger Juden (diese Quelle ist jedoch seit Anfang des 20. Jahrhunderts verschollen).[4]

Neben geschäftlichen Tätigkeiten beim Geldverleih und Handel begannen die Juden handwerklich tätig zu werden -zunächst für den unmittelbar eigenen Bedarf, zunehmend aber auch in Konkurrenz zu nicht-jüdischen Handwerkern. In Kolín lassen sich ein Waffenschmied Abraham und andere Handwerker nachweisen.[5]

1541 entschied der König Ferdinand I., die böhmischen Städte „judenfrei“ zu machen; die Juden aus Kolín sollen 1542, angeführt vom Rabbiner Mojžíš Malostranský, nach Polen ausgewandert sein.[4] Nachdem Ferdinands Nachfolger Maximilian II. 1564 die Ansiedlung jüdischer Bevölkerung wieder erlaubte, wurde die Gemeinde wiederbelebt: 1574 lebten in der Stadt 33 jüdische Familien, und um 1620 war die Gemeinde die zweitgrößte in Böhmen und zählte auch in der Folgezeit zu den wichtigsten des Landes. Ab 1917 arbeitete hier als Rabbiner Richard Feder, der dieses Amt bis 1953 (mit einer Unterbrechung 1942–1945) innehatte.[6][7]

Nach der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren wurde die jüdische Bevölkerung Kolíns in drei großen Transporten großflächig in Konzentrationslager deportiert, in den Meisten Fällen über KZ Theresienstadt in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, der erste Deportationstransport nach Theresienstadt fand am 13. Juni 1942 statt (Transport AAb mit 744 Personen), der nächste am 9. Juni 1942 (Transport AAc mit 724 Personen), der letzte am 13. Juni 1942 (Transport AAd mit 734 Personen) mit insgesamt 2232 Personen.[7][8][Anm 1] Die meisten von ihnen wurden in Auschwitz-Birkenau ermordet. Diese Zahl beinhaltet deportierte Juden aus dem ganzen damaligen Bereich des Oberlandrats von Kolín (mit mehreren politischen Bezirken), in dem der Gemeinde in Kolín eine zentrale Rolle für die Umsetzung der Anweisungen der Behörden des Protektorats zugeteilt wurde. Von diesen Deportierten überlebten knapp 140 Personen.[9][10] Aus Kolín selbst wurden um 500 Personen deportiert, von denen nur wenige überlebten: auf dem neuen jüdischen Friedhof in Kolín wurde 1950 auf Betreiben des Rabbiners Feder ein Denkmal mit acht Gedenktafeln eingeweiht, auf den die Namen von 487 Opfern des Holocaust eingraviert sind[11], eine andere Quelle führt namentlich 480 Opfer an[12]. Die Bemühungen des Rabbiners Feder, um 1939 eine größere Auswanderung von etwa 500 Juden in Kolín zu organisieren, scheiterte zum Teil am Unwillen ausländischer Behörden.[13][14] Insgesamt geht man davon aus, dass etwa 96 Prozent der aus Kolín und Umgebung deportierten Juden ermordet wurden.[9]

Nach Kriegsende gründete sich in Kolin wieder eine kleine jüdische Gemeinde. Einen großen Anteil daran trug der Rabbiner Richard Feder, der als einziger seiner Familie den Holocaust überlebt hatte. Er kehrte nach Kolín zurück, um die frühere Jüdische Gemeinde zu beleben. Nachdem er jedoch 1953 aus Kolín nach Brünn abgerufen worden war, löste die Gemeinde sich in den 1950er Jahren auf.[15]

Nach 2008 wurden in Kolín mehrere Stolpersteine verlegt, teilweise war hier auch eine Schulinitiative beteiligt.[16]

Rabbiner der Gemeinde

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Beinah übereinstimmend wird Rabbi Majer (auch als Meir genannt[Anm 2]) als der erste Rabbiner in Kolin angeführt; sein Rabbinat soll von 1500 bis 1513 gedauert haben[2]. Er wurde gefolgt von Samuel, und 1541 fiel das Amt auf Mojžíš Malostranský.[17] In Kolín wirkten als Rabbiner auch bekannte Autoren und Theologen wie Eleazar Kalir (1782–1802) oder Benjamin Volf ha-Levi Boskovic (1802–1810). Ab dem 17. Jahrhundert war der Rabbiner in Kolín zugleich auch der Rabbiner in Kouřim.[6][18]

Der letzte Rabbiner in Kolín war Richard Feder, der das Amt 1917 bis 1953 innehatte (mit einer Unterbrechung zwischen 1942 und 1945 – Haft im KZ Theresienstadt). Nach der Befreiung kehrte er nach Kolín zurück und versuchte, die damals sehr kleine jüdische Gemeinde, die aus einigen überlebenden Rückkehrern bestand, wiederzubeleben. 1953 wurde er jedoch nach Brünn verlegt.[15]

Entwicklung der jüdischen Bevölkerung

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Die Einwohnerzahl der jüdischen Gemeinde in Kolín entwickelte sich wie folgt[19]:

Jahr
Anzahl
Anmerkung
um 1390 ca. 15 Familien
1504 300 Personen[20]
um 1575 ca. 35 Familien
1718 138 Familien
1793 215 Familien alternativ: 251 Familien gleich 1169 Personen[6][Anm 3]
1854 ca. 1700 Personen ca. 23 Prozent der Bevölkerung
1872 247 Familien
1881 1148 Personen
1890 1075 Personen ca. 7 Prozent der Bevölkerung
1900 806 Personen
1910 634 Personen
1921 482 Personen
1930 430 Personen ca. 2 Prozent der Bevölkerung

1938 sind nach Kolín zahlreiche jüdische Familien aus dem Sudetenland geflüchtet.[7]

Persönlichkeiten

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Der jüdischen Gemeinde in Kolín gehörten unter anderem folgende Persönlichkeiten an[6]:

  1. Eine andere Quelle gibt als den letzten Transport das Datum 22. März 1944 und beziffert die Zahl der Deportierten mit insgesamt 2254 - vgl. Ausrottung einer böhmischen Gemeinde, online auf hagalil.com/.... Die Quelle Kehilat Israel gibt die Zahl der deportierten Personen mit 2202 an, führt jedoch noch weitere Deportationen außer den drei Hauptransporten an, vgl. kehillatisrael.net/... (Memento des Originals vom 15. Januar 2019 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/kehillatisrael.net
  2. Die jiddischen beziehungsweise hebräischen Namen werden hier - den Quellen geschuldet - in der Regel in der tschechischen Transliteration wiedergegeben, was zu teils großen Unterschieden zu den im Deutschen gebräuchlichen Namen führen kann.
  3. Bei einer der beiden Quellen handelt es sich eindeutig um einen Tippfehler.

Einzelnachweise

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  1. Josef Vávra: Dějiny královského města Kolína nad Labem, J. L. Bayer, Kolín 1888, 265 Seiten, online auf: ia802700.us.archive.org/..., Seite 38
  2. a b Richard Feder: Dějiny Židů v Kolíně / Geschichte der Juden in Kolin. In: Hugo Gold (Hrsg.): Die Juden und Judengemeinden Böhmens in Vergangenheit und Gegenwart I. Jüdischer Buch- und Kunstverlag, Brünn/Prag 1934, S. 277–298 (landesbibliothek.at; tschechisch).
  3. Zlatuše Kukánová, Lenka Matušíková: Matriky židovských náboženských obcí, in: Paginae historiae 1992, Seite 103–127; Moritz Popper: Zur Geschichte der Juden in Kolin (Bohmen) im 14. Jahrhundert, in: Monatschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, 1893/94, Seite 220; beide zit. nach: Zuzana Věchetová: Židovská obec v Kolíně. Židovští obyvatelé v soupisových pramenech 16.-18. století, Karlova Universita, Prag, 2006, Seite 18, Anm. 80 beziehungsweise Anm. 81, online auf: is.cuni.cz/...
  4. a b Stanislav Petr: Nejstarší židovská kniha města Kolína z let 1598-1729 a správa židovské obce v tomto období, in: Zuzana Miškovská (Hrsg.): Sborník z historie Židů na Kolínsku, Kolín 1992, Seite 8; Stanislav Petr: Kolínská židovská komunita po prvním exodu židů ze zemí Koruny České v roce 1541 (in: Práce muzea v Kolíně – řada společenskovědní IX: Židé v Kolíně a okolí, Kolín 2005, Seiote 15); beide zit. nach: Václav Nedbal: Židé v Kolíně a okolí: Místa paměti, Univerzita Karlova, 2018, online auf: is.cuni.cz/..., Seite 21, Anm. 72 beziehungsweise Seite 23, Anm. 88
  5. Mark Wischnitzer: Origins of the Jewish Artisan Class in Bohemia and Moravia, 1500–1648, in: Jewish Social Studies, Band 16, Nr. 4 (Oktober 1954), Seiten 335–350, 337, online auf: JSTOR:4465275
  6. a b c d Jiří Fiedler: Kolín, Bericht über die Jüdische Gemeinde in Kolín, online auf: holocaust.cz/...
  7. a b c Klaus-Dieter Alicke: Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum, 3 Bände, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2008, ISBN 978-3-579-08035-2, hier Abschnitt Kolin (Böhmen), in: Online-Version Aus der Geschichte jüdischer Gemeinden im deutschen Sprachraum, online auf: jüdische-gemeinden.de/...
  8. Liste aller Transporte nach Theresienstadt (sortiert nach Abfahrtsort), Datenbank der Institut Theresienstädter Initiative, online auf: katalog.terezinstudies.cz/...
  9. a b A Brief History of the Jews of Kolin during the Occupation 1939–45, Bericht von Kehillat Israel, online auf: kehillatisrael.net/... (Memento des Originals vom 15. Januar 2019 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/kehillatisrael.net
  10. Dějiny města, Bericht zur Geschichte Kolíns, Server von MĚSTSKÉ INFORMAČNÍ CENTRUM Kolín, online auf: infocentrum-kolin.cz/
  11. Kolínská židovská obec bývala po Praze druhou nejvýznamnější, dokládají to četné památky, in: Novinky.cz, Nachrichtenportal, online auf: novinky.cz/
  12. Ohne Titel [Names highlighted in blue have already been memorialized], eine Aufstellung des Manetto Hill Jewish Center über die deportierten und ermordeten Juden aus Kolín, online auf: manettohilljc.org/...
  13. Dopis rabína Richarda Federa Ministerstvu sociální a zdravotní správy ve věci vystěhování kolínských Židů (Brief des Rabbiner Richard feder an das Ministerium für Soziales und Gesundheit...), 26. April 1939, online auf: holocaust.cz/.../zidu
  14. Richard Feder: Židovská tragédie: dějství poslední (The Jewish Tragedy: The Final Act), 1947, Hier zitiert aus dem AusschnittMezi okupací a deportací, online auf: holocaust.cz/...deportaci
  15. a b PhDr. Richard Feder, Lebenslauf in der Internetová encyklopedie dějin města Brna (Online-Enzyklopädie der Stadt Brünn), online auf: encyklopedie.brna.cz/...
  16. Stolpersteine Kolín, Bericht über die Stolpersteine in Kolín auf den Seiten der Střední odborná škola stavební a Střední odborné učiliště stavební (Baufachmittelhochschule und Baufachausbildungsstätte), beide in Kolín, Initiatoren der Stolpersteineverlegungen in Kolín, die auch die Realisierung ihres Projektes gewährleisten, online auf: stolpersteine.ss-stavebnikolin.cz/...
  17. Židovská čtvrť - ul. Na Hradbách - synagoga, Privatweb, online auf: prochazkakolinem.wz.cz/...
  18. Zuzana Miškovská, Stanislav Petr (et al.), Sborník z historie židů na Kolínsku, Kolín 1992, zit. nach: Zuzana Věchetová: Židovská obec v Kolíně. Židovští obyvatelé v soupisových pramenech 16.-18. století, Karlova Universita, Prag, 2006 online auf: is.cuni.cz/..., Seite 28, Anm. 137
  19. Rudolf M. Wlaschek: Juden in Böhmen - Beiträge zur Geschichte des europäischen Judentums im 19. und 20.Jahrhundert, in: Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Band 66, R. Oldenbourg-Verlag, München 1997, zit. nach: Klaus-Dieter Alicke: Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum, 3 Bände, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2008, ISBN 978-3-579-08035-2, hier Abschnitt Kolin (Böhmen), in: Online-Version Aus der Geschichte jüdischer Gemeinden im deutschen Sprachraum, online auf: jüdische-gemeinden.de/...
  20. Jaroslav Pejša, Ladislav Jouza, Miroslava Jouzová: Moje město Kolín: Židé v Kolíně, Úmyslovice 2014, Seite 7 und 9, zit. nach: Václav Nedbal: Židé v Kolíně a okolí: Místa paměti, Univerzita Karlova, 2018, online auf: is.cuni.cz/..., Seite 20, Anm. 70, und Seite 22, Anm. 84

Koordinaten: 50° 1′ 40″ N, 15° 11′ 55,1″ O