Nachträglichkeit

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Der psychoanalytische Begriff „Nachträglichkeit“ taucht im Laufe von Freuds Text auf: Freud benutzt das geläufige Adjektivadverb nachträglich, das er oft unterstreicht; allmählich erscheint das Substantiv die Nachträglichkeit. Der Begriff weist auf eine psychische Umarbeitung von vergangenen Erlebnissen und Erinnerungen, denen ein neuer Sinn gegeben wird. Bei «Emmas Fall» (der ist im 2. Kapitel über „die hysterische Psychopathologie“ von Freuds Entwurf zu lesen), betrifft er das «doppelte Trauma». Es handelt sich um eine psychoanalytische Auffassung der Zeit und der Kausalität, welche nicht mehr geradlinig, linear, ist.

Freud versteht die Nachträglichkeit als aktiven Prozess, der über die Klammer der Bedeutung eine Verbindung zwischen vergangenem Affektgeschehen und kognitiver Gegenwart bewirkt. Frühe traumatische Ereignisse erfahren dadurch nachträglich Symbolisierung und können omnipotent kontrolliert werden. Zwei Zeitvektoren von Nachträglichkeit müssen diskutiert werden, die sowohl einen in Zeitrichtung wirkenden Kausalvorgang auf dem Hintergrund einer Faktenrealität beschreiben, als auch eine rückläufige Zeitbewegung, die ein Verständnis unbewußter primärprozesshafter Szenen und Phantasien erlaubt. Die Doppelbewegung dieser beiden Zeitstränge hat Freud früh beobachtet und beschrieben. Bis zur Moses-Studie hatte sie aber eine oft nur verborgene Bedeutung. In den anglo-amerikanischen Übersetzungen wurde sie zumeist vernachlässigt, wodurch ein einseitiges Verständnis des Konzepts in den psychoanalytischen Kulturen entstanden ist: entweder deferred action oder après-coup (so hat u. a. Laplanche übersetzt. Bei Strachey in der Standard Edition heißt es stets: deferred action). Die Moses-Studie Freuds umfasst beide zeitlichen Aspekte von Nachträglichkeit, die in einem kausal-deterministischen Verständnis sowohl ein zurückliegendes Ereignis zu rekonstruieren, als auch dessen subjektive Wahrheit in der Übertragung im gegenläufigen Zeitstrang zu verstehen und zu konstruieren sucht. Entscheidendes Kriterium für die begriffliche und klinische Trennung der beiden Zeitvektoren ist die Entwicklung der Ich-Organisation und die Fähigkeit zur Symbolisierung. Faktisch sollten sie nicht getrennt werden, da beide Aspekte der Nachträglichkeit als zirkuläre Komplementarität für das Verständnis unbewußter Vorgänge unentbehrlich sind.[1][2][3][4]

Rezeption

In mehreren Publikationen hat Gerhard Dahl[1][2][3][4] untersucht, dass sich hinter dem Begriff der Nachträglichkeit eine der bedeutsamsten Konzeptionen von Sigmund Freud verbirgt, die merkwürdiger Weise in Deutschland kaum gewürdigt worden ist. Denn ohne Nachträglichkeit, eine Wortneuschöpfung Freuds, kann die Wirksamkeit der Psychoanalyse weder verstanden noch erklärt werden. Stracheys englische Übersetzung als „deferred action“, die den Eingang in die Standard Edition (1953 ff) und damit weltweite Verbreitung gefunden hat, konnte nur ein einseitiges, ein rein metapsychologisch-ökonomisches, Verständnis des Konzepts im Sinne eines nachträglichen Abreagierens vermitteln, was Freud nicht gemeint hatte. Diese ausschließlich linear-deterministische Konnotation hat zu Missverständnissen und Kritik geführt, deren Folgen noch heute in der Auseinandersetzung um den Stellenwert der äußeren Realität für die psychische Entwicklung auf der einen, und um die Bedeutung der inneren Welt auf der anderen Seite ihren Ausdruck findet. Tatsächlich umfasst Freuds Nachträglichkeits-Begriff noch einen zweiten, rückläufigen Zeitvektor, der als „après-coup“ besonders in der französischen Literatur diskutiert wird. Unter diesem Begriff bezeichnet Nachträglichkeit nicht bloß einen einfachen Aufschub von vergangenen realen Ereignissen auf die Gegenwart, wo sie „abreagiert“ werden können; sondern es kommt ebenso eine rückläufige Wirkung im Sinne einer hermeneutischen Sinnsuche zur Geltung: von der Gegenwart auf die Vergangenheit.

Die Rezeptionsgeschichte dieses besonderen Konzepts ist auch eine Geschichte der Schwierigkeiten, metapsychologische Begriffe in andere psychoanalytische Kulturen zu übertragen. Keine von beiden Übersetzungen, weder das angelsächsische deferred action noch das französische après-coup, trifft den vollen Bedeutungsumfang des deutschen Begriffs. Es kommen jeweils abgrenzbare Teilaspekte zum Ausdruck, deren Bedeutung unterschiedlich interpretiert wird. Im einen Fall der deferred action rekonstruiert eine Deutung nachträglich empirische Fakten infantiler Erlebnisse, in der Hoffnung, die Gegenwart von psychoneurotischen Symptomen aus der Vergangenheit kausal erklären zu können; im anderen Fall eines après-coup erscheint Deutung als Suche, der präsymbolisch-affektiven Vergangenheit aus der Gegenwart nachträglich einen Sinn geben, um sie verstehen zu können. So sind mit den Übersetzungen des Begriffs seine beiden Zeitrichtungen, wie sie Freud im Auge hatte, tatsächlich voneinander getrennt worden, was für die weitere Entwicklung der psychoanalytischen Theorie - die Trennung einer Ichpsychologie (Hartmann, Kohut, Kernberg usw.) und einer Objektbeziehungstheorie (Melanie Klein, Bion, Steiner usw.) - nicht ohne Folgen geblieben ist.

Der Begriff wird in den 1950er Jahren von Jacques Lacan bemerkt und ins Französische als der «après-coup» übersetzt: im Zusammenhang mit der französischen «Rückkehr zu Freud» (1953, «Roms Bericht»).

Der Beitrag von Jean Laplanche zum geforschten Begriff als « die Nachträglichkeit im „après-coup“ » ist dann wichtig, und «etwas ganz anderes» als Lacans französischer Begriff des «Après-coup»s: die Nachträglichkeit wird ja vielleicht zum Schlüsselbegriff von Jean Laplanches Théorie de la séduction généralisée (Theorie der verallgemeinerten Verführung), bzw. von dessen entsprechender Theorie der «Übersetzung» [des psychischen Lebens], die eine konsequente Entwicklung von Freuds Brief 52/112 (an Fliess) bedeutet.

Literatur

  • Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie (1895).
  • Sigmund Freud: Briefe an Wilhelm Fliess 1887-1904. Ungekürzte Ausgabe, hrsg. von Jeffrey Moussaieff Masson. Deutsche Fassung von Michael Schröter, Transkription von Gerhard Fichtner, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1986 ISBN 3-10-022802-2
  • Jean Laplanche, Jean-Bertrand Pontalis,
    • Urphantasie: Phantasien über den Ursprung, Ursprünge der Phantasie (1964 / 1985), Frankfurt a.M.: Fischer 1992
    • Das Vokabular der Psychoanalyse (1967) Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973
  • Jacques Lacan: Schriften. (1966) Ausgew. und hrsg. von Norbert Haas. 3 Bände. Olten/Freiburg im Breisgau: Walter 1973–1980; Taschenbuchausgabe bei Suhrkamp 1975 (nur Bd. 1); sowie: Weinheim/Berlin: Quadriga 1991 ff. ISBN 3-88679-903-4 (alle drei Ausgaben sind seitenidentisch)
    • Seminar Buch I (1953–1954): Freuds technische Schriften [Das Seminar. Olten/Freiburg: Walter 1978 ff.; Weinheim/Berlin: Quadriga 1986 ff.; Wien: Turia + Kant 2000 ff.; Wien: Passagen 2007f]
  • Jean Laplanche,
  • Revue française de psychanalyse,
    • t. XLVI, 3, « L’après-coup », 1982 et t. LXX, 3, 2006.
    • Michel Neyraut: Considérations rétrospectives sur „l’après-coup“, in Revue française de psychanalyse, 1997, n0 4, ISBN 2130485014
    • Bernard Chervet: L’après-coup. Prolégomènes in Revue française de psychanalyse, 2006, n0 3
    • 2009/5 (Vol. 73): « L'après coup » (Congrès Paris, Actes), Presses Universitaires de France.
  • Christine Kirchhoff: Das psychoanalytische Konzept der „Nachträglichkeit“. Zeit, Bedeutung und die Konstitution des Psychischen.Gießen: Psychosozial-Verlag. 2010.

Einzelnachweise

  1. a b Gerhard Dahl: The two time vectors of Nachträglichkeit in the development of ego organization: Significance of the concept for the symbolization of nameless traumas and anxieties. In: Int. J. Psychoanal (2010) 91, 727–744.
  2. a b Gerhard Dahl: Nachträglichkeit, Symbolisierung. Wiederholungszwang. Psyche 64, 2010, 385–407.
  3. a b Gerhard Dahl: Kaygilarin Simgelestirilmesi Acisidan Önemi. In: Uluslararasi Psikanaliz Yilligi, 2011.
  4. a b Gerhard Dahl: Os dois vetores de Nachträglichkeit. In: Jornal de Psicanalise, 2011.