Notschleppkonzept

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Ein Notschlepper ist ein behördlich betriebener hochseetüchtiger Schlepper, der zur Abwehr einer Gefahr für Menschen, die Umwelt oder die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs manövrierunfähige oder -behinderte Schiffe an einen sicheren Ort verbringen kann oder sie gegen Wind und Strömung halten oder kontrolliert verdriften, bis kommerzielle Schleppdienste den Havaristen übernehmen oder seine Manövrierfähigkeit wieder hergestellt ist. Die Notwendigkeit zur Unterhaltung von Notschleppern wird in den Nordseeanrainerstaaten seit den 90er Jahren gesehen, resultierend aus der Abnahme der Anzahl kommerzieller Bergeschlepper bei gleichzeitiger Zunahme der vom einzelnen Schiff ausgehenden Gefahren. Derzeit unterhält unter anderem die Bundesrepublik Deutschland acht, das Vereinigte Königreich vier, Frankreich zwei und die Niederlande einen staatlichen Notschlepper.

Deutsches Notschleppkonzept

Arkona
Oceanic
Neuwerk

Das deutsche Notschleppkonzept[1] sieht für jeden Notfallort auf See im deutschen Zuständigkeitsbereich eine maximale Eingreifzeit von zwei Stunden vor. Dies erfordert in der Nordsee drei, in der Ostsee trotz deutlich geringerer Fläche fünf Schlepper. Geforderte Ausrüstung und Leistung der Schlepper sind den Schiffsgrößen im jeweiligen Einsatzbereich angepasst. Um auch dicht unter Land operieren zu können, sind für jede Station maximale Tiefgänge festgelegt. Außerdem ist je ein Schiff mit 200 t bzw. 100 t Pfahlzug in Nord- und Ostsee vorgesehen, um die festgelegten Bemessungsschiffe sicher handhaben zu können. Diese sind, bei Windstärke 9, Böen 11, in der Nordsee ein 13000-TEU-Containerschiff (entspricht etwa der Emma-Mærsk-Klasse) und in der Ostsee ein 135.000-tdw-Tankschiff. Ein Pfahlzug von 200 t ist nur mit einem höheren Tiefgang als dem für die Nordsee geforderten Maximum von 6 m wirtschaftlich zu erreichen. Daher ist bei diesem Schiff eine ballastveränderliche Tauchtiefe erforderlich, für das Ostseeschiff ist dagegen eine erhöhte Eisklasse gefordert. Zum Schleppen havarierter Tankschiffe mit entsprechender Ladung sollen beide Schiffe auch in explosionsgefährdeten Bereichen eingesetzt werden können. Derzeit sind diese für die Stationen Norderney (Nordic) und Warnemünde vorgesehenen und seit 2009 im Bau befindlichen Schiffe noch nicht verfügbar. Mit der Indienststellung wird 2010 bzw. 2011 gerechnet.

Vier der acht Fahrzeuge sind Mehrzweckschiffe der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes, weitere vier werden gechartert. Vercharterer der beiden Neubauten ist die Arbeitsgemeinschaft Küstenschutz, zu der sich mehrere deutsche Bergungsunternehmen, auch zur Sicherstellung der erforderlichen Reservekapazitäten, zusammengeschlossen haben. Die Arbeitsgemeinschaft betreibt bereits jetzt drei der vier gecharterten Schlepper und stellt auch zwei auf der Oceanic vor Norderney und in Warnemünde vorgehaltene Boarding-Teams zur Bemannung evakuierter Schiffe. Während die Charterschlepper durchgehend zur Verfügung stehen, beziehen die Mehrzweckschiffe ihre Notschleppstationen erst ab Windstärke 8. Die jährlichen Charterkosten für die Schlepper beliefen sich 2005 auf rund 15 Millionen Euro.

Seit 2001 besteht eine Vereinbarung mit den Niederlanden zur gegenseitigen Unterstützung. Davon betroffen sind der niederländische Schlepper Waker und die Oceanic. Zur Sicherstellung der Möglichkeit, havarierte Schiffe auf einen Notliegeplatz einzuweisen, hat der Bund 2005 außerdem mit den fünf Küstenländern eine entsprechende Vereinbarung geschlossen.

Die gecharterten Notschlepper werden wie die bundeseigenen Mehrzweckschiffe von den Wasser- und Schifffahrtsdirektionen Nord und Nordwest im Notfall eingesetzt. Im Fall einer komplexen Schadenslage kann auch das Havariekommando in Cuxhaven im Rahmen der Auftragstaktik auf die Notschlepper zurückgreifen.

Notschlepperstationen

  • Nordsee
    • 10 sm nördlich Norderney: Oceanic, gecharterter Hochseeschlepper, 178 t Pfahlzug
    • 5 sm südwestlich Helgoland: Mellum, Mehrzweckschiff der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung, 110 t Pfahlzug
    • 5 sm südwestlich Süderoogsand: Neuwerk, Mehrzweckschiff der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung, 110 t Pfahlzug
  • Ostsee
    • Kieler Förde: Bülk, gecharterter Schlepper, 40 t Pfahlzug
    • nördlich Hohwachter Bucht: Scharhörn, Mehrzweckschiff der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung, 40 t Pfahlzug
    • Warnemünde: Fairplay-26, gecharterter Schlepper, 65 t Pfahlzug
    • Stralsund: Arkona, Mehrzweckschiff der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung, 40 t Pfahlzug
    • Saßnitz: Fairplay-25, gecharterter Schlepper, 65 t Pfahlzug

Entwicklung des Notschleppdienstes in Deutschland

Wegen eines kontinuierlichen Rückgangs der Schiffshavarien verringerten die Bergungsunternehmen in den 1970er Jahren ihre Schleppkapazitäten. In den 1980er Jahren waren kommerzielle Hochseeschlepper kaum noch wirtschaftlich zu betreiben, eine durchgängige Verfügbarkeit war in der Deutschen Bucht nicht mehr gewährleistet. In Reaktion auf diese Entwicklung stellte die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung mit dem Mehrzweckschiff Mellum 1984 erstmals ein Fahrzeug mit erheblicher Notschleppkapazität in Dienst. Die Ausweitung des deutschen Küstenmeeres und die Einrichtung einer ausschließlichen Wirtschaftszone zum 1. Januar 1995 sowie die fehlende Reserve für die Mellum waren weitere Gründe, ein zweites Schiff in Dienst zu stellen.[2] Im September 1995 wurde zunächst aus Anlass eines geplanten längeren Werftaufenthaltes der Mellum kurzfristig der in diesem Zusammenhang ebenfalls als Mehrzweckschiff bezeichnete Bohrinselversorger Manta gechartert. In die Ausschreibung einer längerfristigen Charter fiel die Havarie des Öltankers Sea Empress im Februar 1996 vor Großbritannien, bei der die Grenzen der eingesetzten Schlepper offenbar wurden, was zu einer Überprüfung der Ausschreibungsbedingungen führte. Schließlich wurde als Bemessungsschiff ein 250.000-tdw-Tankschiff festgelegt und noch 1996 der Hochseeschlepper Oceanic gechartert. Die Bereithaltung dieser Schleppkapazität war jedoch nur für die Deutsche Bucht vorgesehen, und nach der 1998 erfolgten Indienststellung des neuen Mehrzweckschiffes Neuwerk, mit dem das Konzept der Mellum fortgesetzt und erweitert worden war, sollte die Charter auslaufen.

Im Oktober/November 1998 kam es an der nordfriesischen Küste zur Havarie des Stückgutschiffes Pallas, bei der mehrere Schleppversuche unter Beteiligung von Neuwerk, Mellum und Oceanic scheiterten. Bei der schließlichen Strandung des Schiffes im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer wurden Strände auf Amrum und Föhr mit Schweröl verunreinigt, ca. 16.000 Seevögel verendeten. Die große öffentliche Aufmerksamkeit für diese Schäden, die von einem Schiff ohne jedes besondere Gefahrenpotential verursacht waren, machte Schwächen der Gefahrenabwehr auf See offenbar und führte zu einer grundsätzlichen Neubewertung. Eine vom Bundesminister für Verkehr eingesetzte unabhängige Expertenkommission stellte am 16. Februar 2000 neben allgemeinen Organisationsmängeln Ausrüstungsmängel des Notschleppdienstes fest. In der Ostsee gebe es außerdem keinen ausreichend leistungsfähigen Schlepper.[3]

Daraufhin wurde auf Basis umfangreicher wissenschaftlicher Gutachten das neue Notschleppkonzept entwickelt.[4] Die Anforderungen konnten zunächst mit den vorhandenen Fahrzeugen und den auf dem Markt verfügbaren Schleppern nur teilweise erfüllt werden. Das Konzept konnte dementsprechend ab 2001 beginnend mit den zusätzlichen Charterungen nur schrittweise umgesetzt werden. Die Scharhörn und die in Planung befindliche, 2005 in Dienst gestellte, Arkona wurden mit Notschleppfähigkeiten ausgestattet. Nach europaweiter Ausschreibung für entsprechende 10-Jahres-Charterverträge gingen schließlich 2009 auch die beiden großen Neufahrzeuge in Bau.

Quellen

  1. Peter Köhler: Emergency Towing : German Strategy, 18. Februar 2009 – Vortrag auf einem Fachkolloqium des Havariekommandos, engl.
  2. Antwort der Bundesregierung vom 20. Juli 1995 auf eine kleine Anfrage der Abgeordneten Gila Altmann zum Thema „Hochseeschlepper unter bundesdeutscher Flagge und Küstenschutz“
  3. Bericht der Unabhängigen Expertenkommission „Havarie Pallas“ vom 16. Februar 2000 – 1,64 MB
  4. Antwort der Bundesregierung vom 7. November 2001 auf eine kleine Anfrage der Abgeordneten Goldmann, Friedrich, Koppelin u.a. zum Thema „Verbesserung des Küstenschutzes“

Literatur

  • Bluhm, B.; Brenk, V.; Schroh, K.: Fortschreibung des Systemkonzepts über Maßnahmen zur Bekämpfung von Öl und anderen Schadstoffen auf dem Wasser der Bundesrepublik Deutschland. Hrsg.: Umweltbundesamt, Sonderstelle des Bundes "Ölunfälle See/Küste", Sonderstelle der Küstenländer "Ölunfälle See/Küste". Selbstverlag, Cuxhaven/Berlin 1994.

Weblinks