Portal:Deutsches Kaiserreich/Artikel des Monats/01. M
Innere Reichsgründung ist ein in der Geschichtswissenschaft kontrovers diskutierter Begriff zur Charakterisierung der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen des Deutschen Kaiserreichs nach 1878/79. Darunter fallen etwa die protektionistische Schutzzollpolitik oder die repressiven Maßnahmen gegen die Arbeiterbewegung im Rahmen des Sozialistengesetzes. Bereits Zeitgenossen wie Heinrich von Treitschke haben den Politikwechsel von 1878/79 als eine tiefgreifende Veränderung der deutschen Innenpolitik aufgefasst. Hatte dieser die Wende noch positiv bewertet, wird sie von der neueren Forschung negativ als langfristige Stärkung der antiliberalen Kräfte im Deutschen Kaiserreich gewertet. Zur Charakterisierung des Politikwechsels von Otto von Bismarck von 1878/79 und den damit verbundenen langfristigen Folgen hat der Historiker Helmut Böhme in den 1960er Jahren den Begriff der inneren Reichsgründung geprägt. „Die Formung der konservativ-agrarisch-schwerindustriellen Solidarität als neuer deutscher Integrationskraft, die an die Stelle der verblassenden freihändlerischen, liberalen Interessengemeinschaft der Reichsgründungszeit trat, bedeutete den Abschluss der Einigungsepoche und die Schaffung der preußischen Hegemonie im deutsch-konservativen Staat.“ Die Basis der Politik habe seitdem anstelle des Bündnisses Bismarcks mit den Nationalliberalen ein wechselndes Bündnis der Konservativen mit dem Zentrum oder den Nationalliberalen sowie der Schwerindustrie und der Landwirtschaft gebildet. Seither sei der deutsche Sonderweg zwischen dem russischen Autokratismus auf der einen und der westlichen Demokratie auf der anderen Seite befestigt. Innenpolitisch gab es danach eine Kontinuität von den Kartellparteien über die Sammlungspolitik der 1890er Jahre bis hin zur antiwestlichen deutschen Weltkriegspropaganda.