Sisyphos-Fragment

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Das Sisyphos-Fragment ist ein fragmentarischer Text aus einem antiken Drama aus dem klassischen Zeitalter, das in der Antike Kritias oder Euripides zugeschrieben wurde. Offensichtlich ein Werk aus dem späten fünften Jahrhundert v. Chr., es bleibt unbekannt, ob es sich um ein Satyrspiel oder eine Tragödie handelte.

Das Sisyphus-Fragment gilt weithin als bedeutendes Dokument in der Geschichte des Atheismus. Darin gibt die Hauptfigur Sisyphos einen skeptischen Bericht über die Ursprünge der Religion, der impliziert, dass die Götter nicht existierten, sondern von einem klugen Individuum zum Zweck des sozialen Zusammenhalts erfunden wurden. Insgesamt sind 42 Zeilen des antiken griechischen Dialogs erhalten geblieben:

„Es war eine Zeit, da war ungeordnet das Leben der Menschen und tierhaft und der Stärke untertan, da gab es weder einen Siegespreis für die Edlen noch wurde Bestrafung den Schlechten zuteil. Und dann scheinen sich mir die Menschen Gesetze gegeben zu haben als Züchtiger, damit das Recht Herrscher sei gleichermaßen über alle und die Hybris zur Sklavin habe. Bestraft aber wurde, wann immer einer sich verging. Danach, nachdem die Gesetze sie zwar davon abhielten, offen Gewalttaten zu begehen, sie diese aber heimlich begingen, damals scheint mir zuerst ein schlauer und im Sinne weiser Mann die Furcht vor den Göttern den Menschen erfunden zu haben, damit eine Abschreckung sei für die Bösen, auch wenn sie insgeheim etwas täten oder sagten oder dächten. Von hier aus also führte er das Göttliche ein: Daß ein Daimon existiere, in unvergänglichem Leben prangend, mit dem Geiste hörend und sehend und denkend, auf jegliches achtend und göttliche Natur tragend, der alles unter den Sterblichen Gesagte hören und alles Getane wird sehen können. Wenn du aber heimlich etwas Schlimmes planst, wird dies den Göttern nicht verborgen bleiben. Denn das Erkennen ist im Übermaß in ihnen. Indem er diese Worte sagte, führte er die angenehmste der Lehren ein, mit trügerischem Wort die Wahrheit verhüllend. Es wohnen aber, so sagte er, die Götter dort, wo er die Menschen am meisten erschrecken mußte mit seiner Rede, woher, wie er erkannte, die Ängste den Sterblichen kommen und die Segnungen für ihr mühsames Leben, vom Umlauf droben, wo er die Blitze wahrnahm und die furchtbaren Schläge des Donners und den sternbesetzten Bau des Himmels, das schöne Buntwerk der Zeit, des weisen Baumeisters, wo der strahlende Feuerball der Sonne einherzieht und feuchter Regen zur Erde niederströmt. Solche Ängste baute er rings um die Menschen auf, durch die er mit seiner Rede schön die Gottheit lokalisierte und an einem geziemenden Ort und die Gesetzlosigkeit durch die Gesetze auslöschte.[1]

Obwohl der Rest des Dramas verloren geht, wird allgemein angenommen, dass Sisyphos wegen seiner Gottlosigkeit von den Göttern bestraft wurde.[2] Der Atheismus wurde im klassischen griechischen Drama als Bedrohung der Tradition angesehen, und Charaktere, die an der Macht der Götter zweifelten, erwiesen sich am Ende des Stückes immer als falsch.[3]

Das Sisyphos-Fragment ist sowohl ein literarisches Werk als auch ein Produkt wissenschaftlicher und anthropologischer Spekulationen aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. Wie jedoch Charles Henry Kahn andeutete, ist das Fragment in seinem ausgesprochenen Atheismus auffallend originell und geht in dieser Hinsicht über seine unmittelbaren intellektuellen Einflüsse hinaus:

„[Das Sisyphos-Fragment] is the best-preserved example of fifth-century accounts of the origin of religion, and it is the most outspoken example of fifth-century atheism [...] Sisyphus' speculation concerning the origin of belief in the gods has familiar parallels in the theories of Democritus and Prodicus, theories which belong to the tradition of Kulturenstehungslehre or accounts of the rise of human civilization. And these accounts in turn, like the later prehistories in Lucretius and Diodorus, have their place within a tradition of explaining the origin of mankind and the origin of the world — a tradition that began in fifth century Miletus.[4]

Kontroverse um die Autorschaft

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In der Antike wurde das Sisyphos-Fragment in einer Tradition Kritias und in einer anderen Euripides zugeschrieben. Sextus Empiricus behauptet, der Autor sei Kritias gewesen, aber die Doxographie des Aëtios behauptet, der Autor sei Euripides gewesen.[5]

In der Wissenschaft heute, die den Bemühungen von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff folgte, war es üblich, Kritias als Autor zu akzeptieren.[6] Nach einem einflussreichen 1977-Artikel von Albrecht Dihle schlug das Pendel jedoch zurück zu Euripides.[7] Seitdem besteht kein wissenschaftlicher Konsens über den ursprünglichen Autor des Fragments und die Frage wird weiterhin heftig diskutiert.[8]

Frühneuzeitliche Rezeption

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Das Sisyphos-Fragment wurde auch in einem Drama aus der Elisabethanischen Zeitalter von Robert Greene verwendet: The Tragedy of Selimus, Sometime Emperor of the Turks.[9] Allerdings ist die Figur, die die atheistische Erklärung der Religion liefert, nicht mehr Sisyphos, sondern der türkische Prinz Selimus:

„Then some sage man, above the vulgar wise, Knowing that laws could not in quiet dwell, Unless they were observed, did first devise The names of gods, religion, heaven and hell, And ’gan of pains, and feigned rewards, to tell: Pains for those men which did neglect the law; Rewards for those that lived in quiet awe. Whereas indeed they were mere fictions, And if they were not, Selim thinks they were; And these religious observations, Only bugbears to keep the world in fear And make men quietly a yoke to bear. So that religion (of itself a bauble) Was only found to make us peaceable.“

  • Albrecht Dihle: Das Satyrspiel "Sisyphos", Hermes 105(1) (1977), S. 28–42.
  • Klaus Friedrich Hoffmann: Das Sisyphos-Fragment. In: Das Recht im Denken der Sophistik. Teubner, Berlin & New York 1997, S. 273–289.
  • Charles Henry Kahn: Greek Religion and Philosophy in the Sisyphus Fragment, Phronesis 42(3) (1997), S. 247–262.
  • Nikolaus Pechstein: Euripides Satyrographos: Ein Kommentar zu den Euripideischen Satyrspielfragmenten Stuttgart 1998, S. 289–344.
  • Ruth Scodel: The Trojan Trilogy of Euripides, Göttingen 1980, S. 122–137.
  • Tim Whitmarsh: Atheistic Aesthetics: The Sisyphus Fragment, Poetics and the Creativity of Drama, Proceedings of the Cambridge Philological Society 60 (2014), S. 109–126.
  • Marek Winiarczyk: Nochmals das Satyrspiel „Sisyphos“, Wiener Studien 100 (1987), S. 35–45.
  1. Übersetzt von Klaus Meister, Aller Dinge Maß ist der Mensch: Die Lehren der Sophisten, Leiden 2010, S. 219–220.
  2. Albrecht Dihle, Das Satyrspiel "Sisyphos", Hermes 105(1), S. 38; Tim Whitmarsh, Atheist Aesthetics: The Sisyphus Fragment, Poetics and the Creativity of Drama, Proceedings of the Cambridge Philological Society 60, S. 113.
  3. Mary Lefkowitz, 'Impiety' and 'Atheism' in Euripides' Dramas, Classical Quarterly 39(1), S. 72.
  4. Charles Henry Kahn: Greek Religion and Philosophy in the Sisyphus Fragment, Phronesis 42(3) (1997), S. 248.
  5. Sextus Empiricus: Adversus mathematicos 9,54; Aëtios: Placita 1,7,2.
  6. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Analecta Euripidea, Berlin 1885, S. 161–172.
  7. Albrecht Dihle, Das Satyrspiel "Sisyphos", Hermes 105(1) (1977), S. 28–42.
  8. Zur Autorschaft von Kritias siehe z. B. Tim Whitmarsh, Atheistic Aesthetics: The Sisyphus Fragment, Poetics and the Creativity of Drama, Proceedings of the Cambridge Philological Society 60 (2014), S. 112–113; z. B. zur Urheberschaft von Euripides siehe Nikolaus Pechstein, Euripides Satyrographos: Ein Kommentar zu den Euripideischen Satyrspielfragmenten, Stuttgart 1998, S. 289–307.
  9. Guido Avezzu, Classical Paradigms of Tragic Choice in Civic Stories. In: S. Bigliazzi and L. Calvi, Hrsg., Shakespeare, Romeo and Juliet and Civic Life: The Boundaries of Civic Space, London, 2015, S. 47; John Henry, On the Sisyphus Fragment in Greene's Selimus, Notes & Queries 71(1) (2024), S. 35–40.