„Rechtfertigender Notstand (Deutschland)“ – Versionsunterschied

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===== Abstrakte Wertigkeit der Rechtsgüter =====
===== Abstrakte Wertigkeit der Rechtsgüter =====
Das Ausgangskriterium der Verhältnismäßigkeitsabwägung bildet die Ermittlung des abstrakten Werts der betroffenen Rechtsgüter. Die Wertigkeit einiger Rechtsgüter wird durch die Aufzählung des § 34 Absatz 1 Satz 1 StGB vorgegeben. Hiernach besitzt das Rechtsgut Leben die größte Wertigkeit, gefolgt von den Rechtsgütern Leib und Freiheit. So wäre beispielsweise ein Wanderer bei einem schweren Kälteeinbruch berechtigt, in eine Hütte ohne die Zustimmung deren Inhabers einzudringen, wenn er anderenfalls draußen dem sicheren Erfrierungstod entgegensehen müsste. Der Inhaber hat dann kein Recht, ihm den Zugang und das Verweilen zu verweigern. Das Rechtsgut des Hausfriedens weicht insofern dem Rechtsgut Leben. Eine Abwägung zwischen Leben ist hingegen unzulässig, da ein wesentliches Überwiegen wegen der Gleichwertigkeit der betroffenen Güter nicht möglich ist. Aber auch Eingriffe in die körperliche Integrität eines Menschen, insbesondere dauerhafte, können regelmäßig nicht durch Notstand gerechtfertigt werden, da eine solche Beeinträchtigung nur selten durch die Bedeutung des zu schützenden Guts wesentlich übertroffen werden kann.
Das Ausgangskriterium der Verhältnismäßigkeitsabwägung bildet die Ermittlung des abstrakten Werts der betroffenen Rechtsgüter. Die Wertigkeit einiger Rechtsgüter wird durch die Aufzählung des § 34 Absatz 1 Satz 1 StGB vorgegeben. Hiernach besitzt das Rechtsgut Leben die größte Wertigkeit, gefolgt von den Rechtsgütern Leib und Freiheit. So wäre beispielsweise ein Wanderer bei einem schweren Kälteeinbruch berechtigt, in eine Hütte ohne die Zustimmung deren Inhabers einzudringen, wenn er anderenfalls draußen dem sicheren Erfrierungstod entgegensehen müsste. Der Inhaber hat dann kein Recht, ihm den Zugang und das Verweilen zu verweigern. Das Rechtsgut des Hausfriedens weicht insofern dem Rechtsgut Leben. Eine Abwägung zwischen Leben ist hingegen unzulässig, da ein wesentliches Überwiegen wegen der Gleichwertigkeit der betroffenen Güter nicht möglich ist. Aber auch Eingriffe in die körperliche Integrität eines Menschen, insbesondere dauerhafte, können regelmäßig nicht durch Notstand gerechtfertigt werden, da eine solche Beeinträchtigung nur selten durch die Bedeutung des zu schützenden Guts wesentlich übertroffen werden kann.


===== Ausmaß der Gefahr =====
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==== Angemessenheit ====
==== Angemessenheit ====
Gemäß § 34 StGB muss die Handlung zur Abwehr der Gefahr schließlich angemessen sein. Dieses Tatbestandsmerkmal besitzt eine eher geringe Bedeutung, da häufig bereits bei Prüfung der Verhältnismäßigkeit umfassende Abwägungen vorgenommen werden. Im Wesentlichen sind noch die Einhaltung des Freiheitsprinzips/der Menschenwürde (z. B. kein Zwang zur Blutspende trotz evtl. Verhältnismäßigkeit) und der Vorrang gesetzlich geregelter Verfahren im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit vorstellbar.
Gemäß § 34 StGB muss die Handlung zur Abwehr der Gefahr schließlich angemessen sein. Dieses Tatbestandsmerkmal besitzt eine eher geringe Bedeutung, da häufig bereits bei Prüfung der Verhältnismäßigkeit umfassende Abwägungen vorgenommen werden. Daher besteht in der Rechtswissenschaft Uneinigkeit darüber, ob das Angemessenheitserfordernis ein sinnvolles Tatbestandsmerkmal darstellt und unter welchen Voraussetzungen es an der Angemessenheit fehlen kann.


Nach allgemeiner Auffassung fehlt es ander Angemessenheit, wenn zur Abwehr der Gefahr ein gesetzlich geregeltes Verfahren besteht.
Nach herrschender Meinung ist ein rechtfertigender Notstand auch dann nicht gegeben, wenn jemand durch eine Nötigung zur Durchführung einer rechtswidrigen Tat gezwungen wird ('''Nötigungsnotstand'''). Dann könnte nur ein [[entschuldigender Notstand]] vorliegen. Die Unterscheidung ist deshalb wichtig, da ein letztliches Opfer der Notstandshandlung bei einer rechtfertigenden Notstandshandlung keine Notwehrrechte hat. (Beispiel: A wird durch T durch eine vorgehaltene Waffe gezwungen den B zu verprügeln. Würde ein rechtfertigender Notstand des A bejaht werden, dürfte B keine Notwehr üben, da kein ''rechtswidriger'' Angriff auf ihn vorläge.)

Nach herrschender Meinung ist ein rechtfertigender Notstand auch nicht in Fällen des Nötigungsnotstands gegeben. Hier zwingt eine Person den Täter durch Durchführung einer rechtswidrigen Tat. So verhält es sich etwa, wenn jemand einen anderen mit vorgehaltener Waffe dazu zwingt, einen Dritten zu verprügeln. In solchen Fällen kommt nach herrschender Auffassung allenfalls die Annahme eines entschuldigenden Notstands in Frage. Die Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung hat Bedeutung für die Rechtsstellung desjenigen, in dessen Güter eingegriffen werden soll: Ist der Täter durch Notstand gerechtfertigt, kann er keine Notwehr üben, im Fall einer bloßen Entschuldigung hingegen schon. Im genannten Beispielsfall dürfte sich der Dritte etwa nach der vorherrschenden Auffassung gegen den Angriff des Genötigten wehren.


Kriterien der Prüfung der Angemessenheit sind insbesondere:
Kriterien der Prüfung der Angemessenheit sind insbesondere:
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=== Subjektives Rechtfertigungselement ===
=== Subjektives Rechtfertigungselement ===
Schließlich muss der Handelnde subjektiv gerechtfertigt handeln. Das setzt voraus, dass er um das Vorliegen der Notwehrlage weiß und das er zum Schutz des gefährdeten Guts handeln will.
Wie auch bei der Notwehr muss sich der Handelnde darüber im Klaren sein, dass er tatsächlich zur Abwendung einer Gefahr handelt. Dies schließt die Kenntnis von Notstandslage und -handlung, sowie als voluntatives Element den Rettungswillen mit ein. Führen die Folgen des Handels nur zufällig zur Abwendung der entsprechenden Gefahr (objektiver Rechtfertigungsgrund), sind grundsätzlich ähnliche Schlussfolgerungen zu ziehen wie beim [[Notwehr (Deutschland)#Rechtsfolgen bei Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements|Fehlen eines subjektiven Rechtfertigungsgrundes bei einer Notwehr]].

Umstritten ist in der Rechtswissenschaft, welche Folgen es hat, wenn dem Täter das subjektive Rechtfertigungselement fehlt. Der Streitstand entspricht dem, der auch bezüglich des [[Notwehr (Deutschland)#Rechtsfolgen bei Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements|Notwehrrechts]] besteht. Rechtsprechung<ref>{{Rspr|BGHSt 2, 111}}.</ref><ref>{{Rspr|BGHSt 3, 194}}.</ref><ref>BGH, Urteil vom 6. Oktober 2004, 1 StR 286/04 = Neue Zeitschrift für Strafrecht 2005, S. 332.</ref> und ein Teil der Rechtslehre<ref>{{BibISBN|9783540619390|Seite=323}}</ref><ref>Heiner Alwart: ''Der Begriff des Motivbündels im Strafrecht''. In: Goldtdammer's Archiv für Strafrecht 1983, S. 433 (454-455).</ref> gehen davon aus, dass beim Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements aus vollendetem Delikt zu bestrafen ist. Die überwiegende Ansicht in der Rechtslehre nimmt bei Fehlen des subjektiven Verteidigungselements lediglich eine Strafe aus Versuch an.<ref>{{BibISBN|9783406708749|Kapitel=§ 32, Rn. 27}}</ref><ref>{{BibISBN|9783406530715|Kapitel=§ 14, Rn. 104}}</ref>


== Spezielle Regelungen zum rechtfertigenden Notstand ==
== Spezielle Regelungen zum rechtfertigenden Notstand ==

Version vom 16. Juni 2018, 16:56 Uhr

Der allgemeine rechtfertigende Notstand und seine Voraussetzungen sind in § 34 StGB normiert. Es handelt sich um einen Rechtfertigungsgrund, der ein rechtsgutsverletzendes Verhalten gestattet und den dadurch Beeinträchtigten zur Duldung verpflichtet.

Entstehungsgeschichte

Ursprünglich kannte das Strafgesetzbuch keinen allgemeinen rechtfertigenden Notstand. Zwar enthielt § 54 StGB eine Notstandsregelung, allerdings begrenzte sich ihr Anwendungsbereich auf bestimmte seelische Zwangslagen des Täters.[1] Rechtfertigungsgründe für Notstandssituationen enthielten allerdings andere Gesetze, etwa das Bürgerliche Gesetzbuch und das Handelsgesetzbuch. 1968 wurde eine Notstandsvorschrift in das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) eingeführt.

Bereits das Reichsgericht konstruierte allerdings einen übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand. Dies geschah in einem Fall, in dem der angeklagte Arzt eine Abtreibung vorgenommen hatte, um eine suizidgefährdete Mutter zu schützen. Als wesentliche Voraussetzung des Notstands betrachtete es eine Güterabwägung zwischen geschütztem und beeinträchtigtem Rechtsgut. Hierbei verglich das Gericht die gesetzlichen Strafrahmen: Da Abtreibung weniger schwer bestraft wurde als Totschlag, zog es den Schluss, dass nach der gesetzlichen Wertung das Rechtsgut „Leben“ gegenüber dem Rechtsgut „Existenz der Leibesfrucht“ überwiegt.[2] Die Figur des übergesetzlichen rechtfertigenden Notstands wurde in der Folgezeit auf andere Fälle ausgedehnt. Das zweite Strafrechtsreformgesetz von 1975 kodifizierte den rechtfertigenden Notstand schließlich in § 34 StGB.[1] Hierdurch trennte der Gesetzgeber ausdrücklich zwischen rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand (§ 35 StGB), da beiden Regelungen unterschiedliche Konzepte zugrundeliegen: Bei § 34 StGB entfällt die Strafbarkeit, weil das Handeln im Einklang mit der Rechtsordnung steht und bei § 35 StGB, weil das rechtswidrigen Handeln dem Täter persönlich nicht vorwerfbar ist.[3]

Wie bei der Rechtsprechung des Reichsgerichts ist für § 34 StGB die Güterabwägung zwischen Erhaltungs- und Eingriffsgut charakteristisch. Damit unterscheidet sich der rechtfertigende Notstand insbesondere vom in mehreren Gesetzen normierten Rechtfertigungsgrund der Notwehr (§ 32 StGB), bei der gerade keine Abwägung stattfindet. Dies beruht auf der unterschiedlichen Herleitung beider Rechte: In Fällen der Notwehr schafft ein Angreifer eine rechtswidrige Gefahr für ein Rechtsgut. Diese darf möglichst effektiv abgewehrt werden, da das Recht dem Unrecht nicht kampflos zu weichen braucht. Beim Notstand besteht grundsätzlich eine andere Interessenlage, da ein Notstand auch in solchen Fällen in Frage kommt, in denen ein Gut in rechtmäßiger Weise gefährdet wird. Dass der Notstand dennoch den Eingriff in fremde Güter erlaubt, ist eine Ausprägung des Prinzips der Mindestsolidarität.

Voraussetzungen des § 34 StGB

Notstandslage

§ 34 StGB setzt zunächst eine Notstandslage voraus. Hierbei handelt es sich um eine gegenwärtige Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut.

Notstandsfähiges Rechtsgut

Notstandsfähig sind alle Güter, die durch die Rechtsordnung geschützt werden. Hierzu zählen insbesondere Leben, Leib, Freiheit, Ehre und Eigentum. Ebenfalls geschützt ist die Intimsphäre. Auch Güter der Allgemeinheit sind notstandsfähig. Nicht erforderlich ist, dass die Verletzung des Guts unter Strafdrohung steht.[4]

Gegenwärtige Gefahr

Bei einer gegenwärtigen Gefahr handelt es sich um einen Zustand, dessen Weiterentwicklung den Eintritt oder die Intensivierung eines Schadens ernstlich befürchten lässt, sofern nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen werden. Dies trifft zu, wenn der Eintritt eines Schadens für das Rechtsgut naheliegt oder eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts droht.[5][6] Bei der Wahrscheinlichkeitsprognose kommt es grundsätzlich auf den Standpunkt eines objektiven, alle relevanten Umstände kennenden Betrachters ex ante an.[7] Sofern der Täter allerdings über Sonderwissen verfügt, wird dieses berücksichtigt.[8][9]

Vom Gefahrenbegriff des § 34 wird auch die sogenannte Dauergefahr umfasst. Darunter ist ein gefahrdrohender Zustand von längerer Dauer, der jederzeit in eine Rechtsgutsbeeinträchtigung umschlagen kann.[10][11] So verhält es sich beispielsweise bei der unvorhersehbaren Einsturzgefahr eines alten baufälligen Gebäudes. Gegenwärtig ist eine Dauergefahr, wenn sie so dringend ist, dass sie nur durch unverzügliches Handeln wirksam abgewendet werden kann.

Sofern die gegenwärtige Gefahr durch einen rechtswidrigen Angriff ausgelöst wird, also durch ein willensgesteuertes menschliches Verhalten[12], liegt neben der Notstandslage auch eine Notwehrlage vor, die eine Rechtsfertigung nach § 32 StGB ermöglicht, der gegenüber § 34 StGB eine größere Eingriffsbefugnis vermittelt.

Notstandshandlung

Liegt eine Notstandslage vor, darf der Täter eine Handlung vornehmen, die zur Abwehr der Gefahr erforderlich, verhältnismäßig und angemessen ist.

Erforderlichkeit der Notstandshandlung

Erforderlich ist die Notstandshandlung, wenn sie sich zur Abwendung der Gefahr eignet und das mildeste zur Verfügung stehende Mittel darstellt. Dies beurteilt sich anhand einer ex-ante-Prognose. Die Gefahr darf nicht anders abwendbar sein als durch die vorgenommene Handlung, weshalb ein Handeln nicht erforderlich ist, wenn die Gefahr auch auf mildere Weise verringert werden kann.

Als mildere Mittel kommen typischerweise die Aufopferung eigener Interessen, das Ausweichen und das Ersuchen staatlicher Hilfe in Frage. Zwar gilt bei § 32 StGB insbesondere das Ausweichen grundsätzlich nicht als milderes Mittel, da Recht dem Unrecht nicht weichen muss, allerdings ist dies eine Folge des Rechtsbewährungsprinzips, das bei § 34 StGB nicht gilt.[13]

Strittig ist, ob für den subjektiven Tatbestand die Kenntnis der Notstandslage ausreicht oder ob sie mit einem Rettungswillen vorgenommen werden muss.

Verhältnismäßigkeit

Bei der Prüfung, ob eine Rechtfertigung wegen allgemeinen Notstandes vorliegt, kommt es – im Gegensatz etwa zur Notwehr – ganz wesentlich darauf an, dass die Notstandshandlung auch verhältnismäßig ist. Dies setzt voraus, dass bei einer Abwägung eines objektiven Dritten das durch die Notstandslage beeinträchtigende Rechtsgut wesentlich schwerer wiegt als das durch die Notstandshandlung beeinträchtigte. Da der durch die Notstandshandlung Verletzte durch das Notstandsrecht gezwungen wird, die Einwirkung auf seine Rechtsgüter zu erdulden, legt die Rechtswissenschaft hierbei einen hohen Maßstab an.

Abstrakte Wertigkeit der Rechtsgüter

Das Ausgangskriterium der Verhältnismäßigkeitsabwägung bildet die Ermittlung des abstrakten Werts der betroffenen Rechtsgüter. Die Wertigkeit einiger Rechtsgüter wird durch die Aufzählung des § 34 Absatz 1 Satz 1 StGB vorgegeben. Hiernach besitzt das Rechtsgut Leben die größte Wertigkeit, gefolgt von den Rechtsgütern Leib und Freiheit. So wäre beispielsweise ein Wanderer bei einem schweren Kälteeinbruch berechtigt, in eine Hütte ohne die Zustimmung deren Inhabers einzudringen, wenn er anderenfalls draußen dem sicheren Erfrierungstod entgegensehen müsste. Der Inhaber hat dann kein Recht, ihm den Zugang und das Verweilen zu verweigern. Das Rechtsgut des Hausfriedens weicht insofern dem Rechtsgut Leben. Eine Abwägung zwischen Leben ist hingegen unzulässig, da ein wesentliches Überwiegen wegen der Gleichwertigkeit der betroffenen Güter nicht möglich ist. Aber auch Eingriffe in die körperliche Integrität eines Menschen, insbesondere dauerhafte, können regelmäßig nicht durch Notstand gerechtfertigt werden, da eine solche Beeinträchtigung nur selten durch die Bedeutung des zu schützenden Guts wesentlich übertroffen werden kann.

Ausmaß der Gefahr

Weiterhin bedeutend ist das Ausmaß der Gefahr. Dieses beurteilt sich insbesondere anhand von Art, Ursprung, Nähe und Intensität der Gefahr. Soll in ein Rechtsgut einer Person eingegriffen werden, die für die Gefahr verantwortlich ist, trifft diese eine gesteigerte Duldungspflicht.[14]

Ausmaß des drohenden Schadens

Ein weiteres Indiz stellt schließlich das Ausmaß des drohenden Schadens dar.

Angemessenheit

Gemäß § 34 StGB muss die Handlung zur Abwehr der Gefahr schließlich angemessen sein. Dieses Tatbestandsmerkmal besitzt eine eher geringe Bedeutung, da häufig bereits bei Prüfung der Verhältnismäßigkeit umfassende Abwägungen vorgenommen werden. Daher besteht in der Rechtswissenschaft Uneinigkeit darüber, ob das Angemessenheitserfordernis ein sinnvolles Tatbestandsmerkmal darstellt und unter welchen Voraussetzungen es an der Angemessenheit fehlen kann.

Nach allgemeiner Auffassung fehlt es ander Angemessenheit, wenn zur Abwehr der Gefahr ein gesetzlich geregeltes Verfahren besteht.

Nach herrschender Meinung ist ein rechtfertigender Notstand auch nicht in Fällen des Nötigungsnotstands gegeben. Hier zwingt eine Person den Täter durch Durchführung einer rechtswidrigen Tat. So verhält es sich etwa, wenn jemand einen anderen mit vorgehaltener Waffe dazu zwingt, einen Dritten zu verprügeln. In solchen Fällen kommt nach herrschender Auffassung allenfalls die Annahme eines entschuldigenden Notstands in Frage. Die Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung hat Bedeutung für die Rechtsstellung desjenigen, in dessen Güter eingegriffen werden soll: Ist der Täter durch Notstand gerechtfertigt, kann er keine Notwehr üben, im Fall einer bloßen Entschuldigung hingegen schon. Im genannten Beispielsfall dürfte sich der Dritte etwa nach der vorherrschenden Auffassung gegen den Angriff des Genötigten wehren.

Kriterien der Prüfung der Angemessenheit sind insbesondere:

  • unantastbare Freiheitsrechte
  • Gefahrtragungspflichten
  • Vorwerfbarkeit der Notstandssituation
  • Überwiegendes Interesse der Allgemeinheit (z. B. Rechtspflege: Meineid vor Gericht wird selbst bei Morddrohung gegen den Zeugen als nicht gerechtfertigt betrachtet; dann aber eventuell entschuldigender Notstand, § 35 StGB)

Subjektives Rechtfertigungselement

Schließlich muss der Handelnde subjektiv gerechtfertigt handeln. Das setzt voraus, dass er um das Vorliegen der Notwehrlage weiß und das er zum Schutz des gefährdeten Guts handeln will.

Umstritten ist in der Rechtswissenschaft, welche Folgen es hat, wenn dem Täter das subjektive Rechtfertigungselement fehlt. Der Streitstand entspricht dem, der auch bezüglich des Notwehrrechts besteht. Rechtsprechung[15][16][17] und ein Teil der Rechtslehre[18][19] gehen davon aus, dass beim Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements aus vollendetem Delikt zu bestrafen ist. Die überwiegende Ansicht in der Rechtslehre nimmt bei Fehlen des subjektiven Verteidigungselements lediglich eine Strafe aus Versuch an.[20][21]

Spezielle Regelungen zum rechtfertigenden Notstand

Neben dem im StGB geregelten allgemeinen rechtfertigenden Notstand kennt das deutsche Recht weitere Regelungen des Notstands. Sie gehen als leges speciales dem § 34 StGB vor, verdrängen also die allgemeinere Regelung.[22][23]

Um spezielle Notstandsregelungen handelt es sich beim zivilrechtlichen Defensivnotstand, geregelt in § 228 BGB, und dem zivilrechtlichen Aggressivnotstand, § 904 BGB. Beide Rechtsnormen erlauben die Beschädigung einer fremden Sache zur Abwehr einer Gefahr. In Fällen des § 228 BGB geht die abzuwehrende Gefahr von der Sache aus, die beschädigt werden soll. § 228 BGB erlaubt daher beispielsweise das Treten eines angreifenden Hunds. In Fällen des § 904 BGB richtet sich die Handlung gegen eine Sache, von der keine Gefahr ausgeht. So verhält es sich beispielsweise, wenn eine Person zur Abwehr eines angreifenden Hunds den Regenschirm eines Dritten verwendet. Die Regelungen unterscheiden sich im Abwägungsmaßstab und in der Schadensersatzpflicht.

Unter den rechtfertigenden Notstand fallen auch Defensivnotstandskonstellationen. Etwa in den Fällen, in denen nicht alle Tatbestandsvoraussetzungen der Notwehr erfüllt sind, und die Gefährdung eines Rechtsgutes aus einem menschlichen Verhalten droht. Vereinzelt werden diese Fälle auch über § 228 BGB analog gelöst. Sehr umstritten ist die Anwendung des § 34 StGB auf Fälle, in denen ein von Terroristen entführtes Passagierflugzeug in ein vollbesetztes Gebäude hinabzustürzen droht und sich hierbei unter Defensivnotstandsgesichtspunkten die Frage stellt, ob es möglich sein kann und darf, das Flugzeug abzuschießen (siehe auch Luftsicherheitsgesetz).

Literatur

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. a b Ulfrid Neumann: § 34, Rn. 4. In: Der BibISBN-Eintrag Vorlage:BibISBN/3848731060 ist nicht vorhanden. Bitte prüfe die ISBN und lege ggf. einen neuen Eintrag an.
  2. RGSt 61, 242.
  3. Volker Erb: § 34, Rn. 9. In: Bernd von Heintschel-Heinegg (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch. 3. Auflage. Band 1: §§ 1–37 StGB. C. H. Beck, München 2017, ISBN 978-3-406-68551-4.
  4. Volker Erb: § 34, Rn. 55. In: Bernd von Heintschel-Heinegg (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch. 3. Auflage. Band 1: §§ 1–37 StGB. C. H. Beck, München 2017, ISBN 978-3-406-68551-4.
  5. Walter Perron: § 34, Rn. 12. In: Der BibISBN-Eintrag Vorlage:BibISBN/3406652264 ist nicht vorhanden. Bitte prüfe die ISBN und lege ggf. einen neuen Eintrag an.
  6. Thomas Fischer: Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen. 65. Auflage. C.H. Beck, München 2018, ISBN 978-3-406-70874-9, § 34, Rn. 7.
  7. Frank Zieschang: § 34, Rn. 26. In: Der BibISBN-Eintrag Vorlage:BibISBN/9783899492323 ist nicht vorhanden. Bitte prüfe die ISBN und lege ggf. einen neuen Eintrag an.
  8. Der BibISBN-Eintrag Vorlage:BibISBN/9783406530715 ist nicht vorhanden. Bitte prüfe die ISBN und lege ggf. einen neuen Eintrag an.
  9. Joachim Kretschmer: Der Begriff der Gefahr in § 34 StGB. In: Jura 2005, S. 662 (664).
  10. BGHSt 5, 371 (373).
  11. BGH, Urteil vom 15. Mai 1979, 1 StR 74/79 = Neue Juristische Wochenschrift 1979, S. 2053.
  12. Volker Erb: § 32, Rn. 55. In: Bernd von Heintschel-Heinegg (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch. 3. Auflage. Band 1: §§ 1–37 StGB. C. H. Beck, München 2017, ISBN 978-3-406-68551-4.
  13. Andreas Hoyer: § 34, Rn. 29-30. In: Jürgen Wolter (Hrsg.): Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch. 9. Auflage. Band 1: §§ 1–37 StGB. Carl Heymanns, Köln 2017, ISBN 978-3-452-28303-0.
  14. Walter Gropp: Strafrecht Allgemeiner Teil. 4. Auflage. Springer, Berlin 2015, ISBN 978-3-642-38125-6, § 6, Rn. 137.
  15. BGHSt 2, 111.
  16. BGHSt 3, 194.
  17. BGH, Urteil vom 6. Oktober 2004, 1 StR 286/04 = Neue Zeitschrift für Strafrecht 2005, S. 332.
  18. Der BibISBN-Eintrag Vorlage:BibISBN/9783540619390 ist nicht vorhanden. Bitte prüfe die ISBN und lege ggf. einen neuen Eintrag an.
  19. Heiner Alwart: Der Begriff des Motivbündels im Strafrecht. In: Goldtdammer's Archiv für Strafrecht 1983, S. 433 (454-455).
  20. Thomas Fischer: Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen. 65. Auflage. C.H. Beck, München 2018, ISBN 978-3-406-70874-9, § 32, Rn. 27.
  21. Der BibISBN-Eintrag Vorlage:BibISBN/9783406530715 ist nicht vorhanden. Bitte prüfe die ISBN und lege ggf. einen neuen Eintrag an.
  22. Volker Erb: § 34, Rn. 14. In: Bernd von Heintschel-Heinegg (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch. 3. Auflage. Band 1: §§ 1–37 StGB. C. H. Beck, München 2017, ISBN 978-3-406-68551-4.
  23. Kristian Kühl: § 34, Rn. 14. In: Der BibISBN-Eintrag Vorlage:BibISBN/3406652271 ist nicht vorhanden. Bitte prüfe die ISBN und lege ggf. einen neuen Eintrag an.