Zellularmedizin

Die Zellularmedizin ist eine alternativmedizinische Methode zur Prävention und Therapie schwerer Erkrankungen, die Teilaspekte der Orthomolekularen Medizin aufgreift. Wesentliches Element sowohl der Zellularmedizin als auch der Orthomolekularen Medizin ist die hoch dosierte Gabe („Optimaldosierung“) von Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen. Dadurch soll Krankheiten vorgebeugt und schon vorhandene Beschwerden gelindert oder geheilt werden.

Die Zellularmedizin ist umstritten: Kritiker werfen ihr mangelnde wissenschaftliche Belege der Wirksamkeit vor, eine starke Prägung durch wirtschaftliche Interessen ihres Begründers und Hauptvertreters Matthias Rath sowie das Nutzen von Verschwörungstheorien zu ihrer Verteidigung.

Die Krebsgesellschaften mehrerer Bundesländer raten von einer unkontrollierten Einnahme der werbewirksam angebotenen Mikronährstoffen ab, da sie nach den deutschen Zulassungskriterien nicht auf Unbedenklichkeit und Wirksamkeit geprüft wurden.

Grundannahmen der Zellularmedizin

Das Unternehmen Dr. Rath Gesundheits-Allianz beschreibt die Grundsätze der Zellularmedizin so: „Gesundheit und Krankheit des menschlichen Körpers werden auf der Ebene der Körperzellen entschieden, die den Körper und seine Organe aufbauen. Jede dieser Zellen benötige ‚Zell-Vitalstoffe‘ für eine Vielzahl von biochemischen Reaktionen. Ein bestehender Mangel an diesen Stoffen führe zu einer zellulären Unterfunktion und zu chronischen Erkrankungen. Wegen einer grundsätzlichen Unterversorgung und einem hohen Stoffwechselumsatz an Zell-Vitalstoffen seien Herz-Kreislauf-Erkrankungen beim Menschen besonders häufig. Eine optimale tägliche Versorgung mit Zell-Vitalstoffen sei der Schlüssel zur erfolgreichen Prävention und Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und anderen chronischen Erkrankungen.“

Behauptungen der Zellularmedizin zu Einzelerkrankungen

Krankheit	Aussage	empfohlene Vitamine/Vitaminpräparate/etc.
Krebs	Ausbreitung von Krebszellen kann blockiert werden	Vitamin C, Lysin, Prolin, grüner Tee (Polyphenol)
Arterienverkalkung, Herzinfarkt, Schlaganfall	Vorbeugung	Vitamin C, Arginin
Bluthochdruck	Vorbeugung, blutdrucksenkend	Vitamin C, Magnesium, Arginin, Coenzym Q 10
Herzrhythmusstörungen	Verbesserung, wenn Herzrhythmusstörungen durch Mangel an Zellenergiestoffen hervorgerufen wurde	Vitamin C, Magnesium, Coenzym Q 10, Karnitin
Herzschwäche, Herzinsuffizienz	Vorbeugung	Vitamin C, Magnesium, Coenzym Q 10, Karnitin
Hohes Cholesterin	Senkt den Blutspiegel von Cholesterin, Triglyceriden etc.	Vitamin C, Vitamin B 3, Vitamin B 5, Vitamin E, Karnitin
Diabetes	Vorbeugung, Folgeerkrankungen verhindern oder verbessern	Vitamin C, Vitamin E, B-Vitamine, Spurenelemente
AIDS / HIV	Linderung wichtiger Begleiterscheinungen	Vitamin C, Lysin

Behauptungen im Zusammenhang mit Krebs

Die Verfechter der Zellularmedizin stellen besonders viele Behauptungen im Zusammenhang von Krebserkrankungen auf. Im Einzelnen wird wie folgt argumentiert:

• Die konventionelle, pharmaorientierte Medizin habe für Krebserkrankungen keine Heilungsperspektive anzubieten.
• Das Prinzip der Zellularmedizin basiere auf dem Einsatz natürlicher Substanzen, die der Körper kennt und nutzt, um die „Bindegewebsstabilität“ zu verbessern und die Ausbreitung von Krebs zu unterbinden.
• „Zell-Vitalstoffe“ können die Ausbreitung von Krebs im Körper stoppen
• Experimentelle Studien sollen bestätigt haben, dass „Zell-Vitalstoff-Synergie“ Osteosarkome wirksam kontrollieren könne,
• die Absonderung bindegewebezerstörender Enzyme stoppe,
• Wachstum und Ausbreitung von Krebszellen kontrolliere,
• die Bildung neuer Blutgefäße in Tumoren (Angiogenese) unterdrücke und die Fähigkeit von Krebszellen, neue Blutgefäße zur Versorgung der Tumoren zu bilden, hemme,
• das Wachstum von Krebszellen hemme und den Tumor schrumpfen lasse,
• Krebszellen selektiv zerstöre, ohne gesunde Zellen in Mitleidenschaft zu ziehen,
• ohne gefährlichen Nebenwirkungen zu besitzen.

Zellularmedizin als Therapie

Matthias Rath erweckt oft den Anschein, als eigne sich die Zellularmedizin zur Therapie schwerer Erkrankungen. In einer Einlassung zum Prozess 2006 erklärte er dazu vor einem Hamburger Gericht: „Auch der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, ich würde behaupten, unsere Vitaminprodukte wären in der Lage, Krebserkrankungen sicher zu heilen, ist falsch. Ich behaupte lediglich, dies aber sehr entschieden, dass bestimmte natürliche Wirkstoffe, wie sie in unseren Vitaminprodukten, aber auch in einer Vielzahl anderer Produkte enthalten sind, grundsätzlich in der Lage sind, das Wachstum von Krebszellen zu hemmen und Krebszellen abzutöten. Ich beschreibe hierbei lediglich Wirkmechanismen.“

Matthias Rath gibt auch zu, dass es keine Heilung bei AIDS gibt:

“Since there is currently no cure for AIDS, the task at hand has been to bridge the time until such a cure is found”.

Auf der anderen Seite wird seit Jahren in Zeitschriften und in Werbekampagnen für einen Durchbruch der Zellularmedizin beispielsweise in der Krebstherapie geworben. Im „Grundkurs Zellularmedizin“ wird lediglich keine Garantie auf einen Therapieerfolg gegeben: „Dies ist jedoch keine Garantie für einen Heilungserfolg in jedem Fall, insbesondere dann nicht, wenn die Krebskrankheit schon zu weit fortgeschritten ist … das Immunsystem der Patienten durch Chemotherapie-Zyklen bereits vorgeschädigt ist.“

Für wissenschaftlich oder medizinisch nicht ausgebildete Personengruppen wird, angesichts einer Vielzahl von angeführten Studien und Experimenten, der Eindruck erweckt, dass die Zellularmedizin ein gesichertes Wissen über die Behandlung von Erkrankungen besitzt.

Klinische Forschung und Zellularmedizin

Da Vitamine prinzipiell lebensnotwendige Substanzen darstellen und deren Mangel schwere Erkrankungen wie Skorbut (bei Vitamin C) auslösen können, ist eine gesundheitsfördernde Wirkung bei Menschen mit Mangelzuständen prinzipiell zu erwarten. Ob Vitamine bei normal versorgten Menschen gesundheitsfördernde Wirkungen haben, ist umstritten: Mehrere unabhängige Cochrane Reviews haben die Rolle der Einnahme von Antioxidantien (darunter Vitamin C) auf die Entstehung von gastrointestinalen Krebsarten sowie Lungenkrebs untersucht und keine Ergebnisse gefunden, die eine ergänzende Zufuhr von Vitaminen empfehlen würden. In einer systematischen Übersichtsarbeit mit mehr als 200.000 untersuchten Personen wird für die regelmäßige Einnahme von Beta-Karotin, Vitamin A und Vitamin E sogar eine erhöhte Sterblichkeit gefunden.

In der medizinischen Wissenschaftsdatenbank PubMed sind 58 Publikationen von Matthias Rath (März 2010) verzeichnet. Die nach wissenschaftlichen Standard publizierten Studien untersuchen ohne Ausnahme den Einfluss von Vitamin-/Mineralstoffcocktails in Zellkulturen sowie in Tierversuchen. Es findet sich dort keine klinische Studie, die eine erfolgreiche Anwendung von Zellularmedizinprodukten am Menschen belegen würde.

Die von Matthias Rath selbst im Internet veröffentlichten „klinischen Studien“ untersuchen den Einfluss von Vitaminpräparaten am Menschen bei verschiedenen Krankheitsbildern. Die Patientenzahl ist in jedem Fall zu gering, um verallgemeinerungsfähige Aussagen abzuleiten. Die Studien verletzen existierende Standards für klinische Studien. Daher sind Zellularmedizinstudien an Menschen nicht in Journalen veröffentlicht, die an einem wissenschaftlichen Verfahren zur Begutachtung der Qualität teilnehmen (Peer-Review).

Die Verfechter der Zellularmedizin haben bisher keine Studien zu Pharmakokinetik und Pharmakodynamik von Zellularmedizinprodukten vorgelegt. In Europa werden ein gutes Dutzend Produkte durch die Firma „Dr. Rath Health Programs B.V.“ vertrieben. Die Präparate enthalten Mineralstoffe, Spurenelemente, Aminosäuren und vor allem Vitamine. Stellt man die übliche Tagesdosis der Präparate den Referenzwerttabellen der deutschsprachigen Gesellschaften für Ernährungsforschung gegenüber, erkennt man eine zum Teil erhebliche Überdosierung (empfohlene Tagesdosen entsprechen dem errechneten Mittelwert für Erwachsene).

Hochdosierte und längere Anwendung von Vitaminpräparaten im Umfeld der Zellularmedizin kann zu Nebenwirkungen (Hypervitaminose) wie Nierensteinen durch die exzessive Aufnahme von Vitamin C führen. Es bleibt der begründete Verdacht, dass nahrungsergänzende hohe Vitamingaben das Krebsrisiko auch gefährlich erhöhen können. Studien zur Sicherheit der Anwendung von Prinzipien der Zellularmedizin sind nicht veröffentlicht worden.

Protagonisten der Zellularmedizin

Die Zellularmedizin wurde laut Eigendarstellung von Matthias Rath Anfang der 1990er Jahre erfunden und dient als Grundlage für einen schwunghaften Handel mit Vitaminpräparaten. Bis heute sind alle Publikationen und Aktivitäten stark mit der Person Matthias Rath verbunden.

2002 wurde die Dr. Rath Health Foundation, eine angeblich gemeinnützige Stiftung gegründet. Sie proklamiert: „Das von Dr. Rath gegründete Gesundheitsunternehmen ist weltweit einzigartig: alle Gewinne fließen in eine gemeinnützige Stiftung.“ Es werden allerdings nur Teile der Satzung veröffentlicht. Daher bleibt unklar, warum die gemeinnützige Stiftung Forschung zur Zellularmedizin finanziert, die wirtschaftliche Verwertung der Forschungsergebnisse etwa in Form von Patentrechten aber Einzelpersonen zugesprochen wird.

Mit der AGFG existierte eine politische Kleinpartei, die von der Dr. Rath Foundation initiiert und über personelle Verknüpfungen gesteuert wurde. Unter anderem vertrat die Partei Botschaften der Zellularmedizin und trat mehrfach zu Landes- und Bundeswahlen an.

Mit der International Society for Cellular Medicine existiert eine angebliche wissenschaftliche Fachgesellschaft zu Zellularmedizin mit einer Kontaktanschrift in Berlin.

Schutzrechte zu „Zellularmedizin“

Der Begriff „Zellular Medizin“ ist seit 1999 eine eingetragene Schutzmarke und wird bei der WIPO unter der Nummer 722628 gelistet.

Die Waren oder Dienstleistungen der eingetragenen Marke sind wie folgt angegeben:

• Pharmazeutische und veterinärmedizinische Erzeugnisse
• Vitamine und Mineralien für medizinische Zwecke
• Nahrungsergänzungsmittel für nichtmedizinische Zwecke, hauptsächlich bestehend aus Vitaminen, Aminosäuren, Mineralien und Spurenelementen
• diätetische Erzeugnisse für nichtmedizinische Zwecke, nämlich Aminosäuren und Spurenelemente
• Druckereierzeugnisse
• Ausbildung im Bereich der Gesundheitsvorsorge und Nahrungsergänzung
• Beratung im Bereich der Gesundheitsvorsorge und Nahrungsergänzung

Mehrere Patente wurde im Rahmen der Zellularmedizin auf Matthias Rath und andere Einzelpersonen beantragt.

Verschwörungstheorien

Im Zusammenhang mit der Zellularmedizin wird regelmäßig, auch in Form von Öffentlichkeitskampagnen, von Matthias Rath behauptet, dass ein Erfolg der Zellularmedizin für mehr Gesundheit in der Bevölkerung durch eine Vielzahl konkurrierender Organisationen auf skandalöse Weise aus finanziellen Gründen verhindert werde. Angegriffen werden vor allem das angebliche „Pharmakartell“, aber auch die evangelische Kirche, die Europäische Gemeinschaft, Wissenschaftler mit kritischen Meinungen, politische Parteien und Politiker.

Kritik an der Zellularmedizin

Kritisiert wird häufig, dass die Versprechungen der Zellularmedizin trotz aller vorgeblichen Wissenschaftlichkeit nicht belegt sind. Zum anderen konnten die behaupteten Ergebnisse nicht reproduziert werden.

Weiter werden wissenschaftliche Ergebnisse nur auf dem Feld der Grundlagenforschung erbracht. Klinische Studien finden sich nicht in den qualitätsgesicherten Wissenschaftsdatenbanken wie PubMed. Werbung für die Zellularmedizin wendet sich hingegen an die Hoffnung von Menschen mit Gesundheitsproblemen und schweren Erkrankungen.

Die Schweizerische Studiengruppe für komplementäre und alternative Methoden bei Krebs (SKAK) und die Krebsliga Schweiz sind in einer Untersuchung der Studienlage 2004 zum folgenden Urteil gekommen:

„Nahrungsergänzungsmittel können pharmakodynamische Effekte haben. Bisher liegen allerdings nur wenig Studien vor, die auf einen kausalen Zusammenhang zwischen Mikronährstoffen und Krebserkrankungen hinweisen. Eine krebsheilende Wirkung ist bislang für keine Substanz belegt. Ebenso gibt es keinen Beweis dafür, dass die von Matthias Rath verkauften, teilweise hoch dosierten und teuren Präparate der Krebsvorbeugung dienen, geschweige eine Heilung bei Krebs bewirken. Rath bleibt den Beleg für die Richtigkeit seiner Behauptungen schuldig. Der Nachweis einer Wirkung kann medizinisch-naturwissenschaftlich nicht aufgrund von Analogieschlüssen aus In-vitro-, Tier- oder Zellexperimenten erbracht werden. Darüber hinaus fehlt der Nachweis der Unbedenklichkeit der verkauften Präparate. Die SKAK rät deshalb von diesen Präparaten ab.“

Einzelnachweise

Dieser Artikel behandelt ein Gesundheitsthema. Er dient nicht der Selbstdiagnose und ersetzt nicht eine Diagnose durch einen Arzt. Bitte hierzu den Hinweis zu Gesundheitsthemen beachten!