Geschichte der grönländischen Rechtschreibung

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Die grönländische Rechtschreibung wurde erstmals 1851 standardisiert und 1973 zu ihrer heutige Form reformiert.

Vor der Standardisierung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die eskimo-aleutischen Sprachen wie Grönländisch hatten keine Schriftsprache. Erst im Zuge der Kolonialisierung im 18. Jahrhundert begann man Grönländisch mithilfe des lateinischen Schriftsystems zu verschriftlichen.[1] Bereits im 17. Jahrhundert hatten Seefahrer einige Wörter während Expeditionsfahrten nach Grönland aufgeschrieben. Hans Egede und sein Kollege Albert Top nutzten diese Wortlisten in den ersten Jahren ihrer Missionsarbeit, was sich in fehlerhaften Schreibungen zeigt, die sich durch Abschreiben manifestierten. Die Rechtschreibung war auch ansonsten sehr uneinheitlich und zeigte zudem deutliche Einflüsse der norwegischen Muttersprache der Missionare.[2]

Hans Egedes Sohn Poul Egede, der in Grönland aufgewachsen war, setzte die Arbeit seines Vaters fort, verfasste 1750 ein grönländisches Wörterbuch und gab 1766 seine Übersetzung des Neuen Testaments heraus.[1] Wie sein Vater unterschied Poul Egede nicht zwischen langen und kurzen Vokalen und Konsonanten. Ein Buchstabe oder eine Buchstabenkombination konnte somit für eine Vielzahl von phonetischen Entsprechungen stehen, sodass die Aussprache aus der Schreibung nicht ableitbar war.[3] 1794 veröffentlichte der dänische Missionar Otto Fabricius eine neue Übersetzung mit anderer Rechtschreibung,[1] die jedoch in vielen Bereichen Poul Egedes glich und ebenso wenig phonematisch war.[4] 1822 schuf der deutsche Missionar Konrad Kleinschmidt eine dritte Bibelübersetzung mit seiner eigenen Rechtschreibung.[1]

Kleinschmidtsche Rechtschreibung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Konrad Kleinschmidts Sohn Samuel Kleinschmidt wuchs in Grönland mit Grönländisch als Muttersprache auf und hatte deswegen deutlich bessere Voraussetzungen als die in Europa aufgewachsenen Missionare. Er wirkte ab 1841 selbst als Missionar in seinem Geburtsland und beschäftigte sich intensiv mit der Sprache sowie seiner eigenen Bibelübersetzung. 1851 veröffentlichte er eine neue Grammatik inklusive einer neuen Rechtschreibung, die als erste phonematisch war und lange und kurze Vokale und Konsonanten konsequent unterschied. Zu dieser Zeit war in Grönland ein massiver Sprachwandel im Gange, der sämtliche Konsonantencluster zu Langkonsonanten assimilierte. Samuel Kleinschmidt war darauf bedacht, seine Rechtschreibung morphologisch und etymologisch durchsichtig zu gestalten, was dazu führte, dass er mehrere Buchstabenkombinationen für Laute benutzte, die zu diesem Zeitpunkt vermutlich bereits zusammengefallen waren. Aus diesem Grund sah er sich jahrzehntelang großem Widerstand seiner Kollegen ausgesetzt, aber da seine Grammatik im von ihm geleiteten Sprachunterricht an Grønlands Seminarium und konsequent in der Atuagagdliutit genutzt wurde, und weil es ihm gelang, 1871 sein Wörterbuch herauszugeben, setzte sich die Kleinschmidtsche Rechtschreibung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch.[5]

Samuel Kleinschmidts Rechtschreibung nutzte diakritische Zeichen (Zirkumflex ⟨◌̂⟩, Akut ⟨◌́⟩ und Tilde ⟨◌̃⟩), um lange Vokale und Konsonanten zu kennzeichnen. Für die heute vollständig assimilierten Langkonsonanten gab seine Rechtschreibung jeweils an, ob der assimilierte Laut ein Bilabial (⟨v⟩), Dental (⟨◌́/◌̃⟩), Velar (⟨g⟩) oder Uvular (⟨r⟩) war. Er benutzte zudem nichtassimilierte Diphthonge. Die Vokalphoneme wurden größtenteils nach ihrer tatsächlichen phonetischen Realisierung mithilfe der Buchstaben ⟨a⟩, ⟨e⟩, ⟨i⟩, ⟨o⟩, ⟨u⟩ inklusive der mit diakritischen Zeichen geschriebenen Versionen geschrieben. Für den heute zusammengefallenen Unterschied von /s/ und /ʃ/ nutzte er die Schriftzeichen ⟨s⟩ und ⟨ss⟩. Als Erster unterschied er zudem zwischen /k/ und /q/ und schrieb letzteres als ⟨ĸ⟩. Der Laut [ɬ] wurde von ihm ⟨dl⟩ geschrieben. Es entstanden somit folgende Konsonantencluster:[6]

Phonem Bilabial Dental Velar Uvular
/p/ ⟨◌́p/◌̃p⟩ ⟨◌́p/◌̃p⟩ ⟨gp⟩ ⟨rp⟩
/v/ ⟨vf⟩ ⟨vf⟩ ⟨gf⟩ ⟨rf⟩
/m/ ⟨◌́m/◌̃m⟩ ⟨◌́m/◌̃m⟩ ⟨ngm⟩ ⟨rm⟩
/t/ und /t͡s/ ⟨vt⟩ ⟨◌́t/◌̃t/ts⟩ ⟨gt⟩ ⟨rt⟩
/s/ ⟨vs⟩ ⟨◌́s/◌̃s⟩ ⟨gs⟩ ⟨rs⟩
/ʃ/ ⟨vss⟩ ⟨◌́ss/◌̃ss⟩ ⟨gss⟩ ⟨rss⟩
/n/ ⟨vn⟩ ⟨◌́n/◌̃n⟩ ⟨ngn⟩ ⟨rn⟩
/l/ ⟨vdl⟩ ⟨tdl⟩ ⟨gdl⟩ ⟨rdl⟩
/k/ ⟨vk⟩ ⟨◌́k/◌̃k⟩ ⟨gk⟩
/ɣ/ ⟨vg⟩ ⟨gg⟩ ⟨gg⟩
/ŋ/ ⟨vng⟩ ⟨◌́ng/◌̃ng⟩ ⟨◌́ng/◌̃ng⟩
/q/ ⟨vĸ⟩ ⟨◌́ĸ⟩ ⟨rĸ⟩
/ʁ/ ⟨rr⟩
/ɴ/ ⟨rvng⟩ ⟨rng⟩

Heutige grönländische Rechtschreibung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

1973 wurde die Kleinschmidte Rechtschreibung abgeschafft, da die abgeschlossenen Sprachwandelprozesse zu einer so großen Kluft zwischen Schreibung und Aussprache geführt hatten, dass es Kindern nahezu unmöglich wurde Schreiben zu lernen, da derselbe Laut häufig auf drei bis acht verschiedene Arten geschrieben werden konnte.[7]

In der neuen Rechtschreibung wurden sämtliche Konsonantencluster zugunsten von Doppelschreibungen des zweiten Konsonanten aufgelöst, lediglich der die Vokalqualität beeinflussende Unterschied von nicht-uvularem und uvularem assimilierten Konsonanten wurde beibehalten. Alle Diakritika wurden durch Doppelschreibungen von Vokalen und Konsonanten ersetzt: Der Zirkumflex (⟨◌̂⟩) wurde durch die Verdoppelung des Vokals ersetzt, der Akut (⟨◌́⟩) durch die Verdoppelung des nachfolgenden Konsonanten und die Tilde (⟨◌̃⟩) durch die Doppelung von Vokal und nachfolgendem Konsonanten. Alle Diphthonge (⟨ae⟩, ⟨ai⟩, ⟨ao⟩, ⟨au⟩) wurden lautgemäß zu ⟨aa⟩ monophthongiert, lediglich auslautendes ⟨ai⟩ wurde der Aussprache entsprechend beibehalten. Auslautendes ⟨e⟩ und ⟨o⟩ wurde ebenfalls der Aussprache entsprechend durch ⟨i⟩ und ⟨u⟩ ersetzt. Das ⟨ĸ⟩ wurde zudem durch ⟨q⟩ ersetzt, um die Schreibung mit handelsüblichen Tastaturen zu ermöglichen. Da in den meisten Dialekten /s/ und /ʃ/ zusammengefallen sind, werden beide in der neuen Rechtschreibung ⟨s⟩ geschrieben. Zudem wird konsequent zwischen [tː] und [t͡ːs] unterschieden. Dazu kamen kleinere Änderungen wie der Entfall von ⟨v⟩ in ⟨uvV⟩ und die Ersetzung von ⟨sujV⟩ und ⟨aia⟩ durch ⟨siV⟩ und ⟨aaja⟩.[6]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c d Kenn Harper: Alphabets and Writing, North America and Greenland. In: Mark Nuttall (Hrsg.): Encyclopedia of the Arctic. Band 1. Routledge, New York/London 2003, ISBN 1-57958-436-5, S. 58–61 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  2. Knut Bergsland, Jørgen Rischel (Hrsg.): Pioneers of Eskimo Grammar (= Travaux du Cercle Linguistique de Copenhague. Band 21). The Linguistic Circle of Copenhagen, Kopenhagen 1986, ISBN 87-7421-493-4, S. 9–47.
  3. Flemming A. J. Nielsen: Vestgrønlandsk grammatik. 2. Auflage. BoD, Kopenhagen 2021, ISBN 978-87-430-2776-8, S. 48–52.
  4. Flemming A. J. Nielsen: Vestgrønlandsk grammatik. 2. Auflage. BoD, Kopenhagen 2021, ISBN 978-87-430-2776-8, S. 42–48.
  5. Henrik Wilhjelm: »af tilbøjelighed er jeg grønlandsk«. Om Samuel Kleinschmidts liv og værk. (= Det Grønlandske Selskabs Skrifter. Band XXXIV). Det Grønlandske Selskab, Kopenhagen 2001, ISBN 87-87925-26-5, S. 122–134.
  6. a b Flemming A. J. Nielsen: Vestgrønlandsk grammatik. 2. Auflage. BoD, Kopenhagen 2021, ISBN 978-87-430-2776-8, S. 40–42.
  7. Naja Blytmann Trondhjem: Grønlandske dialekter og retskrivningen. In: Nordlyd. Band 47, Nr. 2, 2023, S. 193–206 (Online).