Hans Wilhelm Jürgens

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Hans Wilhelm Jürgens (1973)

Hans Wilhelm Jürgens (* 29. Juni 1932 in Wolfenbüttel) ist ein deutscher Anthropologe. Er war der erste Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden[1] und Professor am Anthropologischen Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.[2]

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Jürgens wurde 1957 von der Philosophischen Fakultät und 1959 von der Landwirtschaftlichen Fakultät der Universität Kiel promoviert und habilitierte sich ebendort 1960 mit der Schrift Asozialität als biologisches und sozialbiologisches Problem. Jürgens war Schüler von Johann Schaeuble und Gerhard Mackenroth.[3]

Hier bot er lange Zeit ein „Interdisziplinäres Lehrfach für Bevölkerungswissenschaft“ (für fortgeschrittene Studenten aller Fakultäten) an, wie aus den Kieler Vorlesungsverzeichnissen zu entnehmen ist (z. B. Wintersemester 1973/74).

Er wurde 1974 vom damaligen Innenminister Hans-Dietrich Genscher zum Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) ernannt[4] und war in dieser Funktion bis 1979 tätig.[5] Dann kehrte er nach Kiel zurück und lehrte dort bis zu seiner Emeritierung 1997 als Professor am Anthropologischen Institut der Universität.

Für das 1986 eingestellte zweite Strafverfahren gegen zwei ehemalige Mitarbeiter der 1936 gegründeten Rassenhygienischen Forschungsstelle (RHF), nämlich Adolf Würth und Sophie Ehrhardt, trat Jürgens als entlastender Gutachter auf.[6]

Jürgens beschrieb den demographischen Wandel, aufbauend auf Modellen von Frank W. Notestein und Gerhard Mackenroth, als Modell in vier Phasen. Seinem Modell zufolge nimmt, beginnend von einem Gleichgewichtszustand mit hohen Geburten- und Sterberaten (erste Phase), zunächst nur die Sterberate deutlich ab (zweite Phase), anschließend sinkt die Sterberate nur noch geringfügig und eine Geburtenkontrolle setzt ein (dritte Phase) und schließlich wird ein erneuter Gleichgewichtszustand mit geringen Geburten- und Sterberaten erreicht.[7]

In der Studie Sexualproportion und Heiratsmarkt stellte er, zusammen mit der Demographin Katharina Pohl, einen Männerüberschuss in Deutschland fest und prognostizierte Hunderttausenden Männern keine Chance auf eine Heirat.[8]

Rezeption[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Jürgens wird der Vorwurf gemacht, er stehe in der Tradition des Nationalsozialismus. Demgegenüber steht seine jahrzehntelange untadelige Reputation an seiner Alma Mater.

Die Schrift Jürgens, ein Repräsentant bundesdeutscher Bevölkerungswissenschaft wird als kennzeichnend für die Frage der Kontinuität des BiB mit der Zeit des Nationalsozialismus zitiert.[9]

Hans Wilhelm Jürgens, Rainer Knußmann und Hubert Walter, die gemeinsam mit Peter Emil Becker am Handbuch der Humangenetik mitarbeiteten, werden als „in die wissenschaftliche Kontinuität ihrer älteren Mentoren aus dem Dritten Reich eingebunden“ beschrieben.[10] Jürgens wird zugleich als „eugenischer Anthropologe“ bezeichnet.[10]

Hansjörg Gutberger, Autor und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, stellt distanzierend fest, dass Jürgens „eine (seiner eigenen Vorstellung zufolge) auf ‘Sozialtypen’ und die Identifizierung von ‘Asozialen’ ausgerichtete Soziologie innerhalb der Bevölkerungswissenschaft betrieben haben will“ (Hervorhebungen im Original).[5] Jürgens gehörte zu denjenigen Anthropologen, die Differenzierungen in „biologische Sozialtypen“ konstruierten, und dies vorwiegend zwischen unterschiedlichen sozialen Milieus innerhalb der eigenen Gesellschaft.[11]

Schriften (Auswahl)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Über die Beziehungen zwischen Kinderzahl, sozialer Schicht und Schulleistung bei Volksschülern der Stadt Kiel. Kiel 1957 (Dissertationsschrift, Philosophische Fakultät)
  • Ein Beitrag zur Frage der geographischen und sozialen Mobilität bei der Abwanderung vom Lande: Dargest. an Handwerkerfamilien der Stadt Kiel. Kiel 1959 (Dissertationsschrift, Landwirtschaftliche Fakultät)
  • Asozialität als biologisches und sozialbiologisches Problem. Enke, Stuttgart 1961 (auch Habilitationsschrift, 1960)
  • Beiträge zur menschlichen Typenkunde. Enke, Stuttgart 1965 (mit Christian Vogel)
  • Kinderzahl, Wunsch und Wirklichkeit. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1975 (mit Katharina Pohl)
  • Der Einfluss des Elternhauses auf den Bildungsweg der Kinder: Ergebnisse einer Längsschnitt-Untersuchung. Kohlhammer, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1977 (mit Wolfgang Lengsfeld)

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Gefährliche Fragen. Die braunen Schatten ihres Instituts fielen auf die Bevölkerungsforscherin Charlotte Höhn. Denkt sie rassistisch? In: Der Spiegel. Nr. 38, 1994 (online).
  2. Anthropologie und Völkerkunde (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel) Professur/en gestrichen – Systematik: Ethnologie. Ehemals im Original (nicht mehr online verfügbar); abgerufen am 6. Februar 2011.@1@2Vorlage:Toter Link/www.kleinefaecher.de (Seite nicht mehr abrufbar. Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
  3. Christiane Kuller: Familienpolitik im föderativen Sozialstaat. Die Formierung eines Politikfeldes 1949–1975. Institut für Zeitgeschichte, Oldenbourg, 2004, ISBN 3-486-56825-6, S. 106
  4. Baby-Baisse: Staat im Schlafzimmer. Bevölkerungspolitik soll die westdeutsche Geburtenrate wieder in die Höhe treiben. In: Der Spiegel. Nr. 13, 1977 (online).
  5. a b Hansjörg Gutberger: Bevölkerung, Ungleichheit, Auslese. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006, ISBN 978-3-531-14925-7, S. 104
  6. Joachim S. Hohmann: Robert Ritter und die Erben der Kriminalbiologie. „Zigeunerforschung“ im Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 1991. S. 420f.
  7. Hans Wilhelm Jürgens: Bevölkerungsdynamik in vorindustriellen Ländern. In: Hans-Bernd Schäfer: Bevölkerungsdynamik und Grundbedürfnisse in Entwicklungsländern, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 241, Berlin (1995). Zitiert nach: Karina Löscher, Christina Lamberg: Geburten vor der demographischen Transition. Rückständigkeit im historischen Vergleich: Europa im 19. Jahrhundert und Entwicklungsländer nach 1950. (PDF) Abgerufen am 7. Februar 2011 (Seminararbeit). S. 6 f. (PDF)
  8. Neue Frauen braucht das Land. In: Focus Magazin Nr. 15 (1993). 10. April 1993, abgerufen am 6. Februar 2011.
  9. Ludger Weß: Jürgens, ein Repräsentant bundesdeutscher Bevölkerungswissenschaft. In: Heidrun Kaupen-Haas (Hrsg.): Der Griff nach der Bevölkerung. Aktualität und Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik. Greno Verlag, Nördlingen, S. 121–145. Zitiert durch Florence Vienne: Die „Lösung der Bevölkerungsfrage“ im Nationalsozialismus, S. 151–164. In: Rainer Mackensen: Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik im „Dritten Reich“. Deutsche Gesellschaft für Demographie und Max Planck Institute for Demographic Research, Leske und Budrich, 2004, ISBN 3-8100-3861-X, Fußnote 1 auf S. 151
  10. a b Benoît Massin: Anthropologie und Humangenetik im Nationalsozialismus oder: Wie schreiben deutsche Wissenschaftler ihre eigene Wissenschaftsgeschichte? In: Heidrun Kaupen-Haas, Christian Saller: Wissenschaftlicher Rassismus. Analysen einer Kontinuität in den Human- und Naturwissenschaften. Campus, 1999, ISBN 3-593-36228-7, S. 12–64, S. 45
  11. Gert Dressel: Historische Anthropologie: eine Einführung. bohlau, Wien 1996, ISBN 3-205-98556-7, S. 32