Josef Estermann (Landrat)

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Josef Estermann (* 28. Dezember 1898; † 8. November 1982) war ein deutscher Kommunalpolitiker in Wasserburg am Inn (Oberbayern), Mitglied der KPD, zeitweise der SPD und im Widerstand gegen den Nationalsozialismus tätig. Er gilt als beherzter Retter Wasserburgs und hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Stadt gegen Ende des Zweiten Weltkriegs kampflos den amerikanischen Streitkräften übergeben wurde und es nicht wie andernorts zu blutigen Gewalttaten kam.[1]

Werdegang

Josef „Sepp“ Estermann wurde am 28. Dezember 1898 in Wasserburg geboren und wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Er war Brauereiarbeiter und Teilnehmer des Ersten Weltkrieges. Er schloss sich später der KPD an und wurde wegen eines Diebstahls von Maschinengewehren 1930 zum Gefängnis verurteilt. Er floh kurzfristig in die UdSSR, wurde nach seiner Rückkehr 1931 in die Haftanstalt Bernau verbracht, wo er das Korbmacherhandwerk erlernte. Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 kam er in das Konzentrationslager Dachau.[2] Nach seiner Entlassung widmet er sich vordringlich der beruflichen Tätigkeit als selbständiger Korbmacher. Gegen Kriegsende 1945 wurde Estermann wieder politisch aktiv und setzte sich im Rahmen der Freiheitsaktion Bayern offen und unter Gefahr seines Lebens für die friedliche Kapitulation Wasserburgs ein (s. unten). Im Mai 1945 wurde er durch die amerikanische Militärregierung als Erster Bürgermeister der besetzten Stadt Wasserburg am Inn eingesetzt. Im Oktober des gleichen Jahres wurde er auch mit dem Amt des Landrats des Landkreises Wasserburg am Inn betraut.[3]

Seine Zeit als Bürgermeister und Landrat währte nur kurz, da er beschuldigt wurde, ein V-Mann der Gestapo gewesen zu sein. Der Vorwurf konnte in der gerichtlichen Auseinandersetzung nicht geklärt werden. Im März 1946 wurde er von der Militärregierung seiner Ämter enthoben.

Bereits im Dezember 1945 wurde Estermann aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und trat später der SPD bei. Er war bis zu seinem Tod als Geschäftsmann in der Fertigung von Korb- und Spielwaren in Wasserburg tätig.

Verdienste um die friedliche Kapitulation der Stadt Wasserburg in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges

Estermann gehörte einer in Wasserburg operierenden Widerstandsgruppe an, die sich auf die Freiheitsaktion Bayern berief. Mitglieder der Gruppe konnten im Mai 1945 die vollständige Sprengung der Wasserburger Innbrücke durch die SS sabotieren, so dass sie bald wiederhergestellt werden konnte.[4]

Am 28. April 1945, als es der Freiheitsaktion Bayern gelang, nach der Besetzung zweier Reichssender einen Widerstandsaufruf über den Bayerischen Rundfunk zu verbreiten[5], erschien Josef Estermann in den frühen Morgenstunden beim Wasserburger Kreisleiter der NSDAP, Kurt Knappe, und offenbarte sich als Mitglied der Freiheitsaktion. Er konnte den Kreisleiter schließlich überzeugen, dass man den anrückenden amerikanischen Soldaten keinen Widerstand entgegensetzen solle, um eine Zerstörung der Stadt und weiteres sinnloses Blutvergießen zu verhindern.[6] Infolgedessen initiierte man 10-minütige Lautsprecherdurchsagen und Flugblattaushänge an verschiedenen Stellen, in denen die Bevölkerung aufgerufen wurde, Ruhe zu bewahren und keine Gegenwehr zu leisten, obwohl dies zu dieser Stunde noch als Hochverrat gelten musste: „Deutsche! Wir wissen heute, dass jeder Widerstand gegen den Feind vergeblich ist, und ein Verbrechen wäre ... Vermeidet jede Unbesonnenheit“.[7] Hierfür zeichneten namentlich der Leiter des örtlichen Wehrmeldeamtes Oberstleutnant Nikolaus Puhl, der Landrat des Landkreises Wasserburg Wilhelm Moos, der Wasserburger Bürgermeister Baumann und „für die deutsche Freiheitsbewegung“ Josef Estermann verantwortlich. Alle Unterzeichner sowie der diesen Vorgang duldende Kreisleiter Knappe wurden wegen Landes-, Hoch- und Kriegsverrats zum Tode verurteilt, was in den letzten Kriegstagen aber nicht mehr vollstreckt werden konnte.

Am 3. Mai 1945, als ein Zusammentreffen amerikanischer und deutscher Militäreinheiten drohte, schritt Estermann alleine mit einer weißen Fahne in der Hand auf Höhe des Ortsteils Gabersee den amerikanischen Truppen entgegen und gab sich als Anti-Nazi zu erkennen. Um die US-Soldaten von friedfertigen Absicht der Bevölkerung zu überzeugen, bot er sich als quasi lebendes Schutzschild an und konnte wenig später auf einem US-Panzer sitzend und Fahne schwenkend über die Stadtgrenze rollen. Quellen zufolge fiel dabei kein einziger Schuss, obwohl die Stadt Sitz von mehreren Wehrmachtseinheiten und einer SS-Einheit war.[8]

Einzelnachweise

  1. Hans Klinger: Gestorben wird erst später ... Ein deutscher Lebenslauf. J. G. Bläschke, St. Michael 1984, ISBN 3-7053-2115-3.
  2. Hermann Auer: Der Landkreis Wasserburg im Dritten Reich. Eine Dokumentation der Zeitgeschichte. (Erlebnisse, Erinnerungen 1933–1945). 2. Auflage. Wasserburger Bücherstube, Wasserburg am Inn 2005, ISBN 3-9808031-6-3, S. 660.
  3. Jaromír Balcar: Politik auf dem Land. Studien zur bayerischen Provinz 1945 bis 1972 (= Bayern im Bund. Bd. 5 = Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte. Bd. 56). Oldenbourg, München 2004, ISBN 3-486-56598-2, 149, (Zugleich: München, Universität, Dissertation, 2002).
  4. Jaromír Balcar: Politik auf dem Land. Studien zur bayerischen Provinz 1945 bis 1972 (= Bayern im Bund. Bd. 5 = Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte. Bd. 56). Oldenbourg, München 2004, ISBN 3-486-56598-2, Fußnote auf S. 150, (Zugleich: München, Universität, Dissertation, 2002).
  5. Bayerische Rundfunk auf historisches-lexikon-bayerns.de.
  6. Hermann Auer: Der Landkreis Wasserburg im Dritten Reich. Eine Dokumentation der Zeitgeschichte. (Erlebnisse, Erinnerungen 1933–1945). 2. Auflage. Wasserburger Bücherstube, Wasserburg am Inn 2005, ISBN 3-9808031-6-3, S. 651.
  7. Hermann Auer: Der Landkreis Wasserburg im Dritten Reich. Eine Dokumentation der Zeitgeschichte. (Erlebnisse, Erinnerungen 1933–1945). 2. Auflage. Wasserburger Bücherstube, Wasserburg am Inn 2005, ISBN 3-9808031-6-3, S. 653.
  8. Hans Klinger: Gestorben wird erst später ... Ein deutscher Lebenslauf. J. G. Bläschke, St. Michael 1984, ISBN 3-7053-2115-3, S. 217 ff.