Medikalisierung

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 11. Oktober 2016 um 13:32 Uhr durch Kalle kabeljau (Diskussion | Beiträge) (Querverweis auf Wiki Seite eingefügt). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Medikalisierung ist die Bezeichnung für einen gesellschaftlichen Veränderungsprozess, bei dem menschliche Lebenserfahrungen und Lebensbereiche in den Fokus systematischer medizinischer Erforschung und Verantwortung rücken, die vorher außerhalb der Medizin standen. Dieser wurde vor allem seit Mitte des 18. Jahrhunderts beobachtet und beschrieben, ist aber auch heute noch festzustellen. Das Konzept geht maßgeblich auf Ivan Illich zurück.[1]

In der Medizingeschichte wird der Begriff der Medikalisierung deskriptiv, also ohne Wertung, gebraucht. In ihm kommt aber auch eine grundlegende Kritik an einem Fortschritt- und Machbarkeitsglauben innerhalb der Naturwissenschaften zum Ausdruck.

Beispiele für Medikalisierungstendenzen:

  • die medizinische Behandlung von Angelegenheiten, die auch von vielen sozialen Faktoren bestimmt sind (z. B. sexuelle Unlust, Kinderlosigkeit)
  • der weibliche Körper, insbesondere seine Sexualität (durch spezifische Wissensproduktion und Regularien über Menstruation, Schwangerschaft, Geburt[2] und Menopause).[3]
  • das zunehmende Angebot medizinischer Dienstleistungen für eine „Optimierung“ der Lebensführung statt nur die Behandlung von Leiden (z. B. Anti-Aging-Medizin, kosmetische Chirurgie)
  • die Tendenz zur Verantwortungsübertragung an Ärzte und das Gesundheitswesen, sowie die (Selbst-)Entmündigung der Menschen bei kleineren Beschwerden, Fragen des Wohlbefindens und bei natürlichen Lebensphänomenen (Geburt, Tod)

Als Ursache und treibende Kraft hinter diesen Veränderungen wird aber auch ein Zusammenspiel von allen Beteiligten des Gesundheitssystem – also auch von Patienten und konkurrierenden Heilberufen – gesehen. Mit dem Ziel die bestmögliche Versorgung der Bevölkerung zu erreichen.

Siehe auch

Literatur

  • Michel Foucault: Die Geburt der Sozialmedizin, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. 3: 1976–1979. Frankfurt 2003, S. 272–298.
  • Ivan Illich: Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens. Beck, München 1995, ISBN 3-406-39204-0
  • Roy Porter: The patient’s view. Doing medical history from below. Theory and Society 14 (1985) 175–198
  • Michael Stolberg: Heilkunde zwischen Staat und Bevölkerung. Angebot und Annahme medizinischer Versorgung in Oberfranken im frühen 19. Jahrhundert. Diss. med. TU-München 1986
  • F. Loetz: Vom Kranken zum Patienten – „Medikalisierung“ und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750–1850. Stuttgart 1993
  • Sami Timimi: Pathological Child Psychiatry and the Medicalization of Childhood, Brunner-Routledge, 2002, ISBN 1-58391-216-9
  • Irving Kenneth Zola: Gesundheitsmanie und entmündigende Medikalisierung, in: Illich, Ivan U. a., Entmündigung durch Experten, Reinbek bei Hamburg 1979
  • „Kampf ums Herz – Neoliberale Reformversuche und Machtverhältnisse in der ‚Gesundheits-Industrie‘“, Themenheft der Zeitschrift „Widersprüche“, Heft 94, 2004.
  • Peter Conrad: The Medicalization of Society: On the Transformation of Human Conditions into Treatable Disorders. Johns Hopkins University Press, Baltimore 2007

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Ivan Illich: Medical nemesis : the expropriation of health, London : Calder & Boyars, 1975.
  2. Hans-Christoph Seidel: Eine neue ‚Kultur des Gebärens‘: die Medikalisierung von Geburt im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland. (Phil. Dissertation Bielefeld) Franz Steiner, Stuttgart 1998 (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 11), ISBN 3-515-07075-3.
  3. Krüger-Fürhoff, Irmela Marei: Körper, in: Christina von Braun u. Inge Stephan (Hg.): Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien. Köln u.a. 2009, 66-81, hier 68.