Personalisierte Medizin

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In der personalisierten Medizin (englisch personalised medicine; auch individualisierte Medizin) soll jeder Patient unter weitgehender Einbeziehung individueller Gegebenheiten, über die funktionale Krankheitsdiagnose hinaus, behandelt werden. Das schließt auch das fortlaufende Anpassen der Therapie an den Gesundungsfortschritt ein.

Begriffsverwendung

Verwendet wird der Begriff vor allem für eine maßgeschneiderte Pharmakotherapie, welche zusätzlich zum speziellen Krankheitsbild die individuelle physiologische Konstitution und geschlechtsspezifische Wirkeigenschaften von Medikamenten berücksichtigt.

In komplexen Therapien werden außerdem individuelle molekularbiologische Konstellationen berücksichtigt, die mit modernen Biomarkern ermittelt werden können und unter denen die genetische Ausstattung (Genom) des Patienten eine besondere Rolle spielt.[1][2][3][4][5] Der Einfluss des Genoms auf die Wirkung von Arzneimitteln ist Forschungsgegenstand der Pharmakogenomik.

Diese Verwendung des Begriffs „personalisierte/individualisierte Medizin“ in der eingeschränkten, biologischen Deutung wird allerdings kontrovers gesehen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) hebt in ihren Leitbegriffen hervor, dass der Begriff „personalisierte Medizin“ in seinem Bedeutungskontext insofern irreführend sei, „als die personale Seite des Menschen, also seine Fähigkeit zur Reflexion und Selbstbestimmung, zunächst gar nicht gemeint ist, sondern auf fundamentale biologische Strukturen und Prozesse abgehoben wird.“[6] Der Vorsitzende der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer Urban Wiesing kritisiert: „Personale Eigenschaften manifestieren sich nicht auf molekularer, sondern auf personaler Ebene.“[7] Heiner Raspe vom Zentrum für Bevölkerungsmedizin und Versorgungsforschung (ZBV) der Universität zu Lübeck wirft der Verwendung des Begriffs „personalisierte Medizin“ im Sinne der pharmakogenomisch basierten Therapie Einseitigkeit vor; so gebe es neben den „Biomarkern“ auch „Psychomarker“ und „Soziomarker“, die ebenso Beachtung in der Wahl der medizinischen Therapie verdienten, wie ausgewählte Beispiele zeigten.[8] Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgeabschätzung (TAB) des Bundestages schlägt den Begriff „stratifizierte Medizin“[9] vor,[10] der in der internationalen Literatur (stratified medicine) zunehmend verwendet wird.[11]

Über die stratifizierte Medizin hinaus lassen sich mit dem Begriff der „personalisierten Medizin“ auch Therapien mit individuellen Prothesen und Implantaten sowie Therapieansätze mit autologen (körpereigenen) Zellen („therapeutische Unikate“) beschreiben.[10]

Praktische Anwendung

Die Biomarkerdiagnostik umfasst nicht nur das Auslesen des genetischen Codes, sondern alle Möglichkeiten zur Charakterisierung individueller Besonderheiten. Auf molekularer Ebene sind dies die diagnostischen Analysen der genomischen DNA, der mRNA und der Proteine.

Therapeutisch bedeutsam ist die „personalisierte Medizin“ aktuell vor allem in der Onkologie.[12] Ein Beispiel ist die Behandlung des metastasierenden Melanoms. Bei gut der Hälfte der Melanompatienten führt eine Überaktivität des BRAF-Proteins zum Zellwachstum (Tumoren). Durch die Einführung eines entsprechenden Mutationstests kann bereits im Vorfeld erkannt werden, ob die Patienten auf eine entsprechende Therapie ansprechen. Zusätzlich können funktionale Analysen die Aktivitäten von Enzymen bis hin zu Antworten von Zellen identifizieren.

Eine beachtliche Herausforderung der personalisierten Medizin stellt heute noch die Analyse der gewonnenen diagnostischen Daten dar. So erfordern z. B. genetische Daten – gewonnen aus Verfahren wie dem Next-Generation Sequencing – rechenaufwendige Datenverarbeitungsschritte, bevor die eigentliche Analyse der Daten erfolgen kann.[13] Um hierbei künftig auf passende Werkzeuge zurückgreifen zu können, ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Experten aus verschiedenen Gebieten erforderlich: Medizinern, klinischen Onkologen, Biologen, Softwareingenieuren.

Kritik

Der methodische Ansatz in der Forschung und in der Praxis fokussiert den möglichst passgenauen Zuschnitt auf die physiologischen Zusammenhänge der Patienten. Das ist der Kern eines Lösungsansatzes. Hingegen wird völlig negiert, dass bereits heute die Organisation der stationären und auch der ambulanten Behandlung und Pflege mit formalen Kontrollanforderungen zugeschüttet wird, ohne den ausführenden Personen für das konsequente Umsetzen und Verfolgen eines optimalen Ablaufs eine angemessene Hilfestellung zu geben. Insbesondere erfolgt in der meist bestehenden hierarchischen Kontrollsystematik kein systematisches Kommunizieren der individuell zugeschnittenen Behandlungspläne vor deren Ausführung bis an das Patientenbett. Nach derzeitigen Forschungsausschreibungen in Deutschland bleibt diese Anforderung jenseits der Pharmakologie ohne spezielle Budgetierung.

In einem herkömmlich ausgestatteten Klinikum obliegt es weitgehend dem behandelnden Arzt, das Ausführen des speziellen Therapieansatzes durch die beteiligten Fachpfleger zu steuern und zu überwachen, ohne dass es dazu eine hinreichende informationstechnische Unterstützung gibt. Es ist zu erwarten, dass die theoretisch möglichen verbesserten Ergebnisse einer personalisierten Medizin wegen schwerer organisatorischer Mängel in der mitlaufenden Ablaufsteuerung nicht erreicht werden.[14]

Verbesserungen in der retrospektiven medizinischen Dokumentation allein werden dieses verstärkt aufkommende Problem beim Umsetzen der Methoden in der klinischen Routine jenseits der besonderen Maßnahmen in klinischen Studien nicht lösen. Die bunte Kreativität der öffentlichen Kontrollinstanzen bei der Definition neuer formaler Kontrollanforderungen trägt zum Lösen dieses Problems nichts bei. Vielmehr bedarf es einer besseren mobilen Verfügbarkeit der Information über anstehende Verrichtungen.[15][16][17]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Sebastian Schleidgen et al.: What is Personalized Medicine. In: BMC Medical Ethics (2013) 14/55.
  2. Theo Dingermann: Der Wert von Biomarkern. In: Pharmazeutische Zeitung, Ausgabe 20/2012.
  3. Die Medizin nimmt’s persönlich - Möglichkeiten und Grenzen der Individualisierung von Diagnose und Therapie, Forum Bioethik, 24. Juni 2009
  4. Eva Richter Kuhlmann: Personalisierte Medizin: Erst am Anfang des Weges, in: Dtsch Ärztebl 2012; 109(25): A-1305.
  5. Werner Bartens: Personalisierte Medizin – Die Mogelpackung. In: Süddeutsche Zeitung, 19. Juli 2011.
  6. Alf Trojan, Joseph Kuhn: Prädiktive Medizin und individualisierte Medizin, Leitbegriffe der Gesundheitsförderung, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
  7. Zitiert nach: Die personalisierte Medizin kommt aus den Startblöcken von: Walter Pytlik, Biotech/Life Sciences Portal Baden-Württemberg, 7. Februar 2011.
  8. Heiner Rasper: Personalisierte Medizin – Ende der Solidarität? Jahrestagung des Ethikrats: Personalisierte Medizin – der Patient als Nutznießer oder Opfer? 24. Mai 2012.
  9. Stratifizierte Medizin, Stiftung Personalisierte Medizin
  10. a b Individualisierte Medizin und Gesundheitssystem, TAB-Arbeitsbericht Nr. 126. Berlin 2008
  11. Simone Ernst: Personalisierte Medizin: Patienten auf Irrwegen, MEDICA.de, 2. Juli 2012.
  12. In Deutschland zugelassene Arzneimittel für die personalisierte Medizin, Übersicht auf der Seite des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (vfa).
  13. Analyze Genomes: Motivation. Abgerufen am 17. Mai 2014.
  14. Individualisierte Medizin, Technischer Arbeitsbereich TAB 126 des Deutschen Bundestages zur Technikfolgenabschätzung, Seite 21: Zusammenfassung und Seite 49: Visionen (PDF; 2,0 MB)
  15. Koordination und Qualität im Gesundheitswesen
  16. Zeitgemäßes Pflegeprozess-Management braucht IT-Unterstützung
  17. Management der latenten Hypothyreose