Selbstschussanlage

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Am Point Alpha ausgestellte Selbstschussanlage SM-70 („Splittermine Modell 1970“).
Nachbau einer SM-70, sichtbar die Anordnung der Spanndrähte.

Eine Selbstschussanlage ist „eine kegelförmige Splittermine mit Richtwirkung“ (offizielle DDR-Bezeichnung), wie sie an der DDR-Grenzsperre verbaut war. Sie diente dazu, einen oder mehrere Menschen vom Betreten oder Durchqueren des Grenzstreifens abzuschrecken bzw. ihn in diesem Fall automatisch zu verletzen oder zu töten. Sie ist daher militärisch eng verwandt mit der Landmine.

Entwickelt wurde das Konzept für die Selbstschussanlage von dem SS-Führer Erich Lutter während seiner Beschäftigung im Reichssicherheitshauptamt im Auftrag von Reinhard Heydrich. Sie hatte das Ziel, die Umzäunungsanlagen von Konzentrationslagern so zu sichern, dass Häftlinge mit geringem Personalaufwand an einer Flucht gehindert werden konnten.

Innerdeutsche Grenze

Internationale Bekanntheit erlangten die Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Zahlreiche sogenannte „Grenzverletzer“, im Allgemeinen DDR-Bürger, wurden von den Selbstschussanlagen bei Fluchtversuchen verletzt oder getötet. Im März und April 1976 demontierte der ehemalige DDR-Bürger Michael Gartenschläger an der innerdeutschen Grenze erfolgreich zwei Selbstschussanlagen und präsentierte sie im Magazin Der Spiegel[1]. Danach konnte die DDR nicht mehr leugnen, Selbstschussanlagen aufgestellt zu haben. Am 30. April 1976 versuchte Gartenschläger, eine dritte SM-70 zu demontieren. Dabei wurde er durch ein Spezialkommando des Ministeriums für Staatssicherheit gezielt erschossen.

Die Selbstschussanlagen wurden seit 1970 an der DDR-Grenze zur Bundesrepublik (nicht an der Berliner Mauer) installiert und auf bundesdeutschen Druck ab 1983 wieder abgebaut. Bis zum Abbau waren auf 440 km der innerdeutschen Grenze ca. 60.000 SM-70 im Einsatz („SM“ für „Splittermine“). Die offizielle DDR-Bezeichnung lautete „kegelförmige Splittermine mit Richtwirkung“ (auch „Anlage 500“ oder „Anlage 501“). Die Installation der Anlagen kostete je Kilometer etwa 100.000 Mark (DDR).[2]

Grenztruppen der DDR demontierten am 30. November 1984 die letzten Splitterminen an der innerdeutschen Grenze.[3] Von 1970 bis 1984 verloren etwa zehn Menschen durch sie ihr Leben.

Auch nach dem Abbau der Selbstschussanlagen blieb die innerdeutsche Grenze praktisch undurchdringlich, weil die DDR sie inzwischen aufwendig verstärkt hatte.[4]

Funktionsweise

Schematische Darstellung einer SM-70 mit 3 Spanndrähten (2 „Bird“-Wires, 1 Trip-Wire).

100 bis 110 Gramm Sprengstoff (TNT) verteilten nach einer elektromechanischen Auslösung durch Spanndrähte am Grenzzaun ca. 80 bis 110 kantige Geschoss-Splitter (Zahlen sind in den Quellen unterschiedlich angegeben). Diese Splitterminen waren zunächst einzeln angebracht. Nachdem es Michael Gartenschläger 1976 gelang, von westdeutscher Seite aus zwei SM-70 abzubauen, wurden drei Anlagen gestaffelt in unterschiedlichen Höhen parallel zum Grenzzaun installiert. Die Verletzungswirkung war auf bis zu 120 Meter ausgelegt (maximale Reichweite der Splitter), wobei in unmittelbarer Nähe eine tödliche Wirkung entfaltet wurde. Die installierten Typen hießen SM-501 und später SM-701.

Zitat aus dem Teilbericht über die taktische Erprobung der Splittermine vom 17. August 1971 (VVS-Nr. G/079675):

„Die SM-70 ist eine Mine mit richtungsgebundener Wirkung unter Teilausnutzung des kumulativen Effektes.
Der Minenkörper besteht aus einem kegelförmigen Blechmantel mit eingesetztem Presskörper TNT. Zwischen den Wandungen sind Splitter (ca. 110 Stahlwürfel) eingebracht.
Nach erfolgter Detonation breitet sich eine kegelförmige Splittersäule aus, deren Mittelachse richtungsgleich zu der vor der Detonation bestehenden Körperachse der Mine verläuft.
Die kinetische Energie der Splittermine reicht aus, um mit Sicherheit Personen unschädlich zu machen, die versuchen, den Sperrbereich der SM-70 zu durchbrechen.
Die Auslösung der SM-70 erfolgt auf mechanisch-elektrischem Wege. Bei Belastung bzw. Zerschneiden des Spanndrahtes wird ein Signal- und Zündstromkreis geschlossen.
Im Verlauf der Truppenerprobung hat sich der mit SM-70 ausgebaute Sperrzaun als wirksame Grenzsicherungsanlage erwiesen.“

Kollegiumsvorlage Nr. 23/71 des Ministeriums für Nationale Verteidigung

„Die Splitterwirkung an den beschossenen Wildarten: Reh-, Schwarz- und Federwild lässt den sicheren Schluss zu, dass durch SM-70 geschädigte Grenzverletzer tödliche bzw. so schwere Verletzungen aufweisen, dass sie nicht mehr in der Lage sind, den Sperrzaun zu überwinden.“

Teilbericht über die taktische Erprobung der Splittermine SM-70 vom 17. August 1971 (VVS-Nr. G/079675)

Entwickelt wurde die Selbstschussanlage mit Hilfe des militärtechnischen Institutes VUSTE aus der Tschechoslowakei ab 1966 in der DDR im VEB Chemiewerk Kapen (dieser Standort war bereits ab 1936 als Munitionsfabrik genutzt worden), wo die SM-70 auch hergestellt wurde. Als Geschosse wurden in Kapen während der Erprobungsphase zunächst Metallkugeln verwendet. Diese wurden „wegen der besseren Treffsicherheit“ durch die noch größere Verletzungen hervorrufenden Metallsplitter ersetzt. Die „versuchsweise Einführung“ (Erprobung) erfolgte 1971 an der innerdeutschen Grenze im Abschnitt Salzwedel/Arendsee (DDR) und Lüchow/Prezelle (Niedersachsen).

Türkei

Die Türkei errichtet wegen des Krieges in Syrien an ihrer dortigen Grenze zu Syrien einen Zaun. Im Februar 2016 berichteten Medien, an dem Zaun seien auch Selbstschussanlagen geplant.[5][veraltet]

Siehe auch

Weblinks

Commons: SM-70 – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Der Spiegel 16/1976 „Schnell das Ding vom Zaun“
  2. Protokoll der 45. Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates der DDR vom 3. Mai 1974
  3. Deutsches Historisches Museum: Chronik 1984, abgefragt am 29. November 2009
  4. Der Spiegel 13/1984 Das schafft nur ein Stabhochspringer. - Trotz Abbau der Todesautomaten ist die DDR-Grenze undurchdringlich
  5. NZZ.ch: Betonblöcke und Selbstschussanlagen