Kriminalfall Niklas P.

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 20. September 2016 um 09:04 Uhr durch Anti. (Diskussion | Beiträge) (→‎Reaktionen: siehe Q). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Der Todesfall Niklas P. bezeichnet den gewaltsamen Tod des siebzehnjährigen Schülers Niklas P. (* 23. September 1998; † 12. Mai 2016) aus Bad Breisig, der im Mai 2016 auf dem Heimweg von einem Konzert in Bad Godesberg angegriffen und brutal zusammengeschlagen wurde, so dass er eine Woche später seinen Verletzungen erlag.

Tathergang und Ermittlungen

Niklas P. besuchte am 6. Mai 2016 ein Vorabendkonzert von Rhein in Flammen. Als er sich zusammen mit einer siebzehnjährigen Freundin und einem achtzehnjährigen Freund auf dem Heimweg befand, wurde er nahe der Haltestelle Rheinallee von drei Männern angegriffen. Die Männer sprachen ihn und seinen Freund an, dann begannen sie auf ihn einzuprügeln und einzutreten. Mehrere Tritte trafen seinen Kopf. Auch seine Freunde wurden attackiert, als sie ihm zur Hilfe eilten, dabei aber nur leicht verletzt. Erst als weitere Personen zur Hilfe kamen, ließen die Angreifer von ihren Opfern ab. Niklas P. verlor bei dem Angriff das Bewusstsein. Er konnte zunächst von einem Notarzt reanimiert werden, erholte sich jedoch nicht mehr und starb am 12. Mai in der Bonner Uni-Klinik.

Die Polizei leitete nach der Tat eine intensive Fahndung ein und suchte mit einer Flugblattaktion in Bad Godesberg nach Zeugen. Die Staatsanwaltschaft setzte für die Ergreifung der Täter eine Belohnung von 3000 Euro aus. Zeugenbeschreibungen deuteten darauf hin, dass die drei Angreifer einen Migrationshintergrund hatten. Mehrere Zeugen gaben an, dass zwei der Angreifer von braunem Hauttyp seien, jedoch alle drei akzentfrei Deutsch gesprochen hätten. Das Fahndungsplakat wurde auch in arabischer und türkischer Sprache verteilt.[1][2][3] Nach Informationen des Focus kam es bei der Untersuchung des Tatorts zu einer Ermittlungspanne: Die Polizei habe erst gut sechs Stunden nach der Tat den Tatort abgesperrt und mit der Spurensicherung begonnen. Ein hoher Ermittler habe beklagt, man habe deshalb keine Hinweise mehr gefunden.[4] Die Polizei wies die Vorwürfe zurück.[5]

Ein paar Tage später wurde der zwanzigjährige Walid S. festgenommen, der bereits mehrfach wegen Gewaltdelikten aufgefallen war.[6] Der Verdächtige bestritt die Tat, verwickelte sich jedoch in Widersprüche. Ein Zeuge identifizierte den Mann eindeutig als Täter. Die Rekonstruktion des Tatablaufs ergab, dass Niklas P. aus der Gruppe der Angreifer zunächst verbal provoziert worden war. Nach einem kurzen Wortgefecht hatte der Haupttäter ihn mit einem Hieb gegen die Schläfe zu Boden geschlagen, wo er reglos liegenblieb. Seine Freunde wurden von einem der anderen Täter geschlagen, als sie ihm zur Hilfe eilten. Dann kehrte der Haupttäter zurück und trat Niklas P. mit voller Wucht gegen den Kopf.[3][7]

Im Juni wurde ein weiterer, einundzwanzigjährige Tatverdächtiger verhaftet, der bereits im Mai vorläufig festgenommen, jedoch mangels Beweisen wieder freigelassen worden war. Mordkommission und Oberstaatsanwalt warfen ihm vor, die Begleiter von Niklas P. attackiert und versucht zu haben, auf den reglos am Boden Liegenden „körperlich einzuwirken“. Der Verdächtige schwieg bei der Vernehmung. Angaben zu seiner Herkunft und zu weiteren Mitgliedern seiner Gruppe machten die Behörden nicht. Er wurde ebenfalls als Haupttäter beschuldigt, ein Richter erließ Haftbefehl wegen gemeinschaftlichen Totschlags.[8] Im Juli wurde er nach einer Haftbeschwerde wieder freigelassen. Vernehmungen hatten ergeben, dass er die Begleiter von Niklas P. angegriffen habe, doch waren ihm nach Auffassung des Richters die Handlungen von Walid S. nicht zuzurechnen. Damit bestehe bei ihm kein dringender Tatverdacht eines Tötungsdelikts mehr.[9][10] Im September wurde wegen Verdunkelungsgefahr erneut Haftbefehl gegen ihn erlassen, nachdem er mit einem gleichaltrigen Bekannten einen 29-Jährigen Zeugen im Fall Niklas P. attackiert und verletzt haben soll.[11][12]

In der Wohnung von Walid S. fanden Ermittler eine Jacke mit Blutspuren des Opfers. S. gab an, die Jacke nur geliehen zu haben. Der Besitzer der Jacke, der sich wegen eines anderen Delikts in Untersuchungshaft befand, erklärte, die Jacke zwar verliehen zu haben, jedoch nicht an S. sondern an einen anderen Freund. Dieser wurde polizeilich vernommen, dann aber wieder freigelassen.[13]

Im August 2016 ergab ein medizinisches Gutachten, dass die Gefäße im Gehirn des Opfers „vorgeschädigt“ waren. Todesursache sei der Riss einer Ader im Gehirn infolge eines Schlags, der „im Normalfall keine schwerwiegenden Folgen gehabt hätte“, noch vor den Tritten gegen den am Boden Liegenden gewesen. Die Staatsanwaltschaft änderte daraufhin den Vorwurf des Totschlags in Körperverletzung mit Todesfolge,[14] S. blieb jedoch wegen Wiederholungsgefahr in Untersuchungshaft.[15]

Reaktionen

Nachdem Überfälle und brutale Attacken in Bad Godesberg bereits in den Monaten davor massiv zugenommen hatten, reagierte die Bevölkerung des Stadtteils auf den Angriff auf Niklas P. sehr betroffen. Der Godesberger Pfarrer Wolfgang Picken stellte in der Nähe des Tatortes ein Kreuz auf, Bürger brachten Blumen und Kerzen.[1] Picken erklärte, der Vorfall sei die Spitze einer langen Eskalation der Gewalt in Bad Godesberg und eine Zäsur, nichts sei mehr wie vorher. Es müsse nun gehandelt werden, sonst würde es zu erheblichen Protesten und möglicherweise auch Radikalisierung kommen.[3]

Wenige Stunden nach dem Tod von Niklas P. besuchte seine Mutter mit Picken den Tatort. Dort erhielt sie Zuspruch unter anderem von einer Frau, die ihren Sohn gerade aus der Klinik geholt hatte, nachdem er vor einem halben Jahr zusammengeschlagen worden war, einer anderen Mutter, deren Sohn in der Nähe verprügelt worden war, und einem Vater, der von einem Messerangriff auf seinen Sohn berichtete. Eine Gruppe muslimischer Jugendlicher kondolierte der Mutter am Tatort, legte weiße Rosen nieder und betete.[16] Da der Verdacht bestand, dass einige solche Taten von jungen Männern mit Migrationshintergrund verübt worden waren,[1] demonstrierten rechte Gruppen mit etwa 50 Teilnehmern in der Nähe des Tatorts. Etwa 400 Menschen kamen zu einer Gegendemonstration, die von mehreren Parteien, Kirchen und Gewerkschaften unterstützt wurde.[17]

Rund 700 Trauergäste nahmen an der öffentlichen Trauerfeier und Beisetzung teil, darunter der Bonner Oberbürgermeister Ashok-Alexander Sridharan (CDU) und der Kölner Weihbischof Ansgar Puff. Der Bonner Rapper Djaspora trat mit einem eigens komponierten Song auf, dessen Video bis zum Tag der Beisetzung über 90.000 Mal abgerufen wurde. Pfarrer Picken, der Niklas P. und seine Familie seit langem kannte, würdigte ihn als liebenswerten und ernsthaften Jugendlichen mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn und rief dazu auf, in seinem Sinne bei der Ursachensuche auf jede Form von Pauschalisierung oder Diskriminierung zu verzichten.[18][19]

Sridharan, die Bonner Polizeipräsidentin Ursula Brohl-Sowa und Experten von Polizei, Stadt, Kirchen und Jugendorganisationen beschlossen bei einem „Runden Tisch gegen Gewalt“ mehr Polizeipräsenz, Maßnahmen zur besseren Einsehbarkeit des Tatortbereichs und ein Programm zur Gewaltprävention.[20] In einer „Aktuellen Viertelstunde“ des Innenausschusses im nordrhein-westfälischen Landtag erklärte der CDU-Innenexperte Gregor Golland, der tragische Tod von Niklas P. sei trauriger Höhepunkt eines schon länger feststellbaren Abrutschens eines Stadtteils. Während seine Partei eine Gesetzesänderung für mehr polizeiliche Videobeobachtung forderte, warnte Innenminister Ralf Jäger (SPD) davor, den Tod von Niklas P. politisch zu instrumentalisieren.[21]

Die Journalistin Bettina Röhl kritisierte „das aktive Schweigen des Landes, der Regierung, der Medien und der Gesellschaft“ zu der Frage, ob der Angriff auf Niklas P. aus organisierten Strukturen heraus entstanden sein könnte, nachdem es in ganz Deutschland immer wieder vergleichbare Fälle gebe. Sie zog Parallelen zum Missbrauchsskandal von Rotherham. Ungewöhnlich sei zu erfahren, dass mindestens zwei der Täter akzentfrei deutsch gesprochen hätten, aber nicht zu erfahren, was sie gesagt hätten, und ob dies womöglich auf rassistische Tatmotive schließen lasse.[22]

Als das Gutachten über die Vorschädigung des Opfers und die darauffolgende Rücknahme des Totschlagvorwurfs bekannt wurden, zog der Journalist und Jurist Reinhard Müller Parallelen zum Fall Dominik Brunner und wies darauf hin, dass in diesem und anderen ähnlichen Fällen trotz Vorschädigungen Urteile wegen Mordes ergangen seien.[23] Auch bei der Familie des Opfers und in der Öffentlichkeit sorgte die Änderung des Tatvorwurfs für Empörung und Entsetzen.[15][24]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c Jürgen Kleikamp: Jugendlicher in Bonn zu Tode geprügelt, WDR, 13. Mai 2016.
  2. Attacke in Bonn: Niklas P. von Schläger-Trio lebensgefährlich verletzt – Polizei verteilt Flugblätter, Focus, 12. Mai 2016.
  3. a b c Reiner Burger: Fall Niklas P.: Haftbefehl wegen Totschlags erlassen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Mai 2016.
  4. Ermittlungspanne im Fall Niklas P.: Polizei sperrt Tatort erst sechs Stunden nach dem Verbrechen ab, Focus, 16. Juli 2016.
  5. Dieter Brockschnieder: Fall Niklas P. in Bad Godesberg: Polizei weist Vorwürfe der Ermittlungspanne zurück, Rhein-Sieg-Anzeiger, 18. Juli 2016.
  6. Fall Niklas P.: Verdächtiger war kurz vor der Tat in Schlägereien verwickelt, Spiegel online, 1. Juni 2016.
  7. Christoph Hensgen: Fall Niklas: Bonner Richterin verschiebt Haftprüfung, WDR, 17. Juni 2016.
  8. Fall Niklas P. Verdächtiger bleibt in Haft – neue Erkenntnisse, Rhein-Sieg-Anzeiger, 20. Juni 2016.
  9. 21-jähriger Verdächtiger im Fall Niklas P. wieder frei, Rhein-Sieg-Anzeiger, 8. Juli 2016.
  10. Axel Spilcker: Richter lässt Tatverdächtigen im Fall Niklas P. wieder frei, Focus, 8. Juli 2016.
  11. Todesfall Niklas P.: Tatverdächtiger soll Zeugen verprügelt haben, Rheinische Post, 19. September 2016.
  12. Gemeinsame Presseerklärung von Staatsanwaltschaft und Polizei: Erneute Festnahme im Fall "Niklas P." / 21-Jähriger attackierte Zeugen, Focus, 19. September 2016.
  13. Christian Parth: Nach Tod von Niklas Hundertschaft und Hundestaffel in Bonn-Bad Godesberg, Rhein-Sieg-Anzeiger, 25. Juni 2016.
  14. Fall Niklas P. Der erste Schlag war schon zu viel , Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. August 2016.
  15. a b Kristian Frigelj: Fall Niklas P. aus Bonn - Bad Godesberg: "Sind ja beruhigt, wenn es nur ein halber Mord war", N24, 22. August 2016.
  16. Reiner Burger: Bad Godesberg: Gewalt liegt in der Luft, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Juni 2016.
  17. Claudia Hauser: Tödliche Prügelattacke in Bad Godesberg: Rechte kapern Trauerfeier für Niklas P., Spiegel online, 14. Mai 2016.
  18. Trauerfeier für Niklas P. aus Bad Breisig: "Wie ist es möglich?, SWR, 21. Mai 2016.
  19. Katja Heins: Trauerfeier für Niklas P.: "Mama, ich bin einfach glücklich", Die Welt, 21. Mai 2016.
  20. Dieter Brockschnieder: Prügeltod von Niklas P. Mehr Polizeipräsenz und Platzumgestaltung in Bonn, Rhein-Sieg-Anzeiger, 30. Mai 2016.
  21. Bernd Eyermann: Von Grünberg: Dechant Picken schürt Ängste, General-Anzeiger, 2. Juni 2016.
  22. Bettina Röhl: Gewaltsamer Tod von Niklas P. : Die Trauer kommt an zweiter Stelle, Tichys Einblick, 10. Juni 2016.
  23. Reinhard Müller: Fall Niklas P.: Der Tötungsvorsatz reicht, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. August 2016.
  24. Rita Klein, Ayla Jacob: Tödliche Attacke auf Niklas P.: Walid S. bleibt hinter Gittern, General-Anzeiger, 22. August 2016.