Wikipedia:Nimm nicht an Abstimmungen teil
Beim Aufbau einer freien Enzyklopädie tauchen viele Fragen auf, für die die Gemeinschaft eine Antwort finden muss. In der Wikipedia gibt es zahlreiche Wege, solche Fragen zu lösen. In der Anfangszeit wurde in der Regel diskutiert und versucht, in der Diskussion die beste Lösung herauszuarbeiten, die dann als Namenskonvention, Formatvorlage oder anderes ihren Weg in den Wikipedia-Namensraum fand.
„Auch wenn alle einer Meinung sind, können alle unrecht haben.“
Mit dem Wachstum der Gemeinschaft verbreiterte sich auch das Spektrum unterschiedlicher Meinungen, und Meinungsbilder – später umbenannt in Abstimmungen und wieder zurück – hielten Einzug in die Wikipedia. Die Versuchung, Fragen per Meinungsbild oder Abstimmung zu entscheiden, ist groß. Aber diese Verfahren bleiben nicht ohne schädliche Nebenwirkungen: Da fragt der eine, wie wir mit japanischen Namen umgehen sollen. Der andere fragt, nach welchen Kriterien Musikalben in die Wikipedia aufgenommen werden sollen. Und irgendwann hat der normale Wikipedianer unzählige Seiten, auf denen er seine vier Tilden unter ein „Pro“ oder „Kontra“ setzen kann. Was dabei häufig auf der Strecke bleibt, ist die gründliche Diskussion der Alternativen, aus der oft schon ganz ohne Meinungsbild klar würde, welches die beste Lösung ist. Und haben erst einmal eine Handvoll Wikipedianer ihre Stimmen dort abgegeben, wird das Ergebnis für unantastbar oder unumstößlich gehalten – es wurde ja schließlich per Meinungsbild oder Abstimmung entschieden.
Doch Wikipedia ist ständig im Wandel. Neue Fragen tauchen auf. Oder auch bessere Vorschläge, die beim Meinungsbild gar nicht bedacht wurden. Abstimmungen dagegen sorgen für Erstarrung und machen Wikipedia unflexibel, auf Neues zu reagieren.
Hinzu kommt, dass – im Gegensatz zur Demokratie innerhalb eines Staates – im „virtuellen Raum“ Wikipedia Abstimmungen nicht funktionieren:
- Das Prinzip „ein Bürger, eine Stimme“ klappt in Wikipedia nicht. Jeder kann sich beliebig viele Benutzerkonten (Sockenpuppen) zulegen, mit denen er Abstimmungen manipulieren kann. Auf der anderen Seite muss ein Benutzer, um stimmberechtigt zu sein, mehr als 200 Einträge im Hauptnamensraum vorweisen können.
- Die Zahl der Abstimmungen ist nicht beschränkt: Jeder Nutzer kann eine Abstimmung initiieren.
Hinzu kommt, dass zum natürlichen menschlichen sozialen Verhalten – im Gegensatz zum vernunftbegabten Handeln – der Mensch „irrational“ beeinflusst und beeinflussbar ist (unbewusste Änderung der Interpretation der Situation):
- Der Effekt des Konsistenz-Verhaltens: Vergleich mit früherem Verhalten auf Übereinstimmung des Handelns (Stabilität oder intraindividuelle Unterschiede über die Zeit hinweg).
- Der Pragmatismus der Status-quo-Verzerrung hat viele Motive (z. B. Sicherheit, generell Umgang mit dem Vertrauten, Überbewertung des Vorhandenen).
- Der Effekt des Konsens-Verhaltens: Vergleich mit anderen Personen auf Übereinstimmung des Handelns (soziale normative Motivation). Vor allem bei geringer Erfahrung oder Wissen neigt der Mensch sich der Mehrheit anzuschließen.
Deshalb der Aufruf: Nimm nicht an Abstimmungen teil!
Je mehr Stimmen ein Meinungsbild anzieht, desto mehr Legitimität erhält es. Ignoriere deshalb Meinungsbilder, die du für unsinnig und unnötig hältst. Versuche dort, wo es dir passend erscheint, die Initiatoren dazu zu bewegen, stattdessen eine Diskussion zu führen. Und schließlich: Wenn du selbst eine Entscheidung über eine Frage willst, geh nicht den vermeintlich bequemen Weg über ein Meinungsbild, sondern versuche, in der Diskussion mit anderen Interessierten die beste Lösung zu finden.
Viel Freude, Mut, Gelassenheit und Unterscheidungsvermögen!
„Seit Adam waren stets die Dummen in der Mehrheit.“
„Die Mehrheit? Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn, Verstand ist stets bei wen’gen nur gewesen. Der Staat muß untergehen, früh oder spät, wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.“
„Die Majorität der Dummen ist unüberwindbar und für alle Zeiten gesichert. Der Schrecken ihrer Tyrannei ist indessen gemildert durch Mangel an Konsequenz.“
- Trivia
- Die Wikimedia Foundation bot diesen Empfehlungen zwischenzeitlich umfängliche Unterstützung durch Wikipedia:Superschutz, welcher jedoch im November 2015 mit Entfernung dieses Gruppenrechts aus der deutschsprachigen und der englischen Wikipedia obsolet wurde.[1]
- Anmerkungen
- meta:Polls are evil (englisch) – Abstimmungen sind böse
- Diese Meinung wird nicht von allen Wikipedianern geteilt: Wikipedia:Nimm an Abstimmungen teil
- In anderen Wikipedien ist genau dies der Status quo: Polling is not a substitute for discussion (englisch)
- Wikipedia ist keine Demokratie (englisch) – vgl. Wikipedia:Machtstruktur
- Einzelnachweise