„Verfassunggebende Versammlung“ – Versionsunterschied

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'''Verfassunggebende<ref>Die Gesellschaft für deutsche Sprache hält „Verfassungsgebende“ ebenso für vertretbar.</ref> Versammlung''' ist ein [[Staatsrecht|staatsrechtlicher]] bzw. [[Politikwissenschaft|politikwissenschaftlicher Begriff]]. Eine '''Verfassunggebende Versammlung''' ist eine außerordentliche, [[Souverän|souveräne]] politische [[Institution#Zur Begriffsgeschichte|Institution]], oftmals [[Konvent|Verfassungskonvent]] genannt, welche temporär eingerichtet werden kann, um einem [[Staat]] eine erste oder eine neue [[Verfassung]] zu geben. Sie ist - als Ausdruck des originären ''[[pouvoir constituant]]'' - im Besitz der verfassunggebenden Gewalt des [[Volkssouveränität|Volkes]]. Bedeutende [[Verfassunggebende Versammlung#Historische Beispiele|historische Beispiele]] zeigen, wie Verfassungskonvente aus [[Revolution#Definitionsansatz|Revolutionen]] hervorgegangen sind.
'''Verfassunggebende<ref>Die Gesellschaft für deutsche Sprache hält „Verfassungsgebende“ ebenso für vertretbar. [http://blog.tessarakt.de/archiv/2004/12/18/fugen-s-bleibt/ Antwort des Petitionsausschusses auf eine gegen die Entfernung des Fugen-s gerichtete Petition] (vgl. auch [http://www.spiegel.de/spiegel/vorab/0,1518,321163,00.html Spiegel Online vom 2. Oktober 2004 – Bundestag muss jahrzehntealten Grammatikfehler im Grundgesetz korrigieren])</ref> Versammlung''' ist ein [[Staatsrecht|staatsrechtlicher]] bzw. [[Politikwissenschaft|politikwissenschaftlicher Begriff]]. Eine '''Verfassunggebende Versammlung''' ist eine außerordentliche, [[Souverän|souveräne]] politische [[Institution#Zur Begriffsgeschichte|Institution]], oftmals [[Konvent|Verfassungskonvent]] genannt, welche temporär eingerichtet werden kann, um einem [[Staat]] eine erste oder eine neue [[Verfassung]] zu geben. Sie ist - als Ausdruck des originären ''[[pouvoir constituant]]'' - im Besitz der verfassunggebenden Gewalt des [[Volkssouveränität|Volkes]]. Bedeutende [[Verfassunggebende Versammlung#Historische Beispiele|historische Beispiele]] zeigen, wie Verfassungskonvente aus [[Revolution#Definitionsansatz|Revolutionen]] hervorgegangen sind.


== Begriffserklärung ==
== Begriffserklärung ==

Version vom 28. Dezember 2007, 17:34 Uhr

Verfassunggebende[1] Versammlung ist ein staatsrechtlicher bzw. politikwissenschaftlicher Begriff. Eine Verfassunggebende Versammlung ist eine außerordentliche, souveräne politische Institution, oftmals Verfassungskonvent genannt, welche temporär eingerichtet werden kann, um einem Staat eine erste oder eine neue Verfassung zu geben. Sie ist - als Ausdruck des originären pouvoir constituant - im Besitz der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Bedeutende historische Beispiele zeigen, wie Verfassungskonvente aus Revolutionen hervorgegangen sind.

Begriffserklärung

In einer Verfassunggebenden Versammlung konkretisiert sich die verfassunggebende Gewalt des Volkes. Nach dem Prinzip der Volkssouveränität ist sie im Besitze des originären pouvoir constituant, weshalb sie einen höheren Rang hat als die auf Grund einer bereits erlassenen Verfassung gewählte Legislative (siehe pouvoir constitué):

"Eine verfassunggebende Versammlung hat einen höheren Rang als die auf Grund der erlassenen Verfassung gewählte Volksvertretung. Sie ist im Besitz des pouvoir constituant. Mit dieser besonderen Stellung ist unverträglich, daß ihr von außen Beschränkungen auferlegt werden." [2]

Ihre Mitglieder können gewählt oder berufen werden oder sich im Rahmen eines Staatsstreiches oder einer Revolution selbst dazu konstituieren (so z.B. geschehen im Ballhausschwur, einem Schlüsselereignis während der Französischen Revolution, mit dem die Phase der Konstituanten beginnt).[3] Durch plebiszitäre Annahme der erarbeiteten Verfassung überträgt das Volk die Staatsgewalt an die Organe des neuen pouvoir constitué, und die Verfassunggebende Versammlung ist damit aufgelöst oder sie löst sich danach selbst auf.

Nach dem Prinzip der Volkssouveränität wäre eine Verfassunggebende Versammlung von Vorgaben der amtierenden Staatsgewalten unabhängig und auch nicht an Regelungen einer schon bestehenden Verfassung gebunden. Da sie im Besitz des originären pouvoir constituant sei, könne sie sich nur selbst inhaltliche und verfahrensmäßige Schranken auferlegen:

„Un peuple a toujours le droit de revoir, de réformer et de changer sa Constitution. Une génération ne peut assujettir à ses lois les générations futures.“
(„Ein Volk hat stets das Recht, seine Verfassung zu überprüfen, zu reformieren und zu ändern. Eine Generation kann nicht die kommenden Generationen ihren Gesetzen unterwerfen.“)[4]

Eine andere rechtsphilosophische Ansicht besagt, dass der Volkssouveränität in Ausübung des pouvoir constituant sehr wohl Grenzen gesetzt seien. Die Verfassunggebende Versammlung sei nämlich gebunden an überpositiven Rechtsgrundsätze, zu denen allgemeine rechtsstaatliche Prinzipien und insbesondere die universalen Menschenrechte gehörten. Diese allgemeinen Rechtsgrundsätze gingen als Naturrecht, bzw. Vernunftrecht dem Volkswillen und dem positiven, gesetzten Recht immer schon voraus:

„Das Bundesverfassungsgericht erkennt die Existenz überpositiven, auch den Verfassungsgesetzgeber bindenden Rechtes an
und ist zuständig, das gesetzte Recht daran zu messen.“
(BVerfGE 1, 14 – Südweststaat, [LS 27]; 23.10.1951, 2. Senat)

Der österreichische Staatsrechtler Peter Pernthaler betont in diesem naturrechtlichen Zusammenhang die Bedeutung der Präambeln neuzeitlicher Verfassungen. In religiösen oder säkularisierten Formeln, wie z. B. invocatio Dei („Anrufung Gottes“), werde darin ein „Transzendenzbezug der verfassunggebenden Gewalt des Volkes“ rechtlich festgeschrieben, welcher die Funktion habe, diese Begrenzungen der Volkssouveränität klarzustellen:

„Nicht in diesen Formeln, sondern in der damit vorausgesetzten Begrenzung der Volkssouveränität durch Menschenrechte, Verantwortlichkeit der Staatsgewalt und andere überpositive Rechtsgrundsätze, die auch die demokratische Verfassungsgebung beschränken, liegt die Bedeutung des Transzendenzbezugs der modernen Staatsverfassung: Nach den Erfahrungen plebiszitär verbrämter totalitärer Staatsgewalt in Diktaturen und autoritären Regimen ist die Grundvorstellung des Verfassungsstaates, dass auch die verfassungsgebende Gewalt des Volkes keine schrankenlose Gewalt des Staats über Menschen begründet, ein besonders wichtiges Element der Freiheitlichkeit dieser Ordnung.“[5]

Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist zudem ein besonderes Verfassungsveränderungsverbot verankert, die sogenannte Ewigkeitsklausel. Inwieweit auch eine künftige bundesdeutsche Verfassunggebende Versammlung an die noch weiterreichenden Beschränkungen dieses Artikels 79 III GG gebunden wäre – wie z. B. an die Ewigkeitsgarantie für den föderalen Staatsaufbau Deutschlands –, ist unter Verfassungsrechtlern umstritten.

Künstlerische Bearbeitung

Friedrich Schiller brachte 1804 im 2. Akt seines Wilhelm Tell eine Verfassunggebende Versammlung meisterhaft auf die Bühne, einschließlich Geschäftsordnungsdebatten, einstimmigem Gründungsbeschluss und Einzelbeschlussfassung mit Mehr- und Minderheit.

Siehe auch

Federalist Papers, Legitimität, pouvoir constituant, Revolution, Verfassung, Verfassungsstaat, Verfassungsgeschichte, Volkssouveränität

Historische Beispiele

Literatur

  • Hannah Arendt: Über die Revolution. ('On Revolution', New York 1963, dt. Ausgabe 1965). Piper, München 1994, ISBN 3-492-11746-5.
  • Horst Dreier (Hrsg.): Grundgesetz. Kommentar, seit 1996, 3 Bände; von der aktuellen 2. Auflage sind bislang 2 von 3 Bänden erschienen; Mohr Siebeck Verlag, Tübingen, ISBN 3-16-148233-6.
  • Hauke Möller: Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes und die Schranken der Verfassungsrevision: Eine Untersuchung zu Art. 79 Abs. 3 GG und zur verfassungsgebenden Gewalt nach dem Grundgesetz. dissertation.de, 1. Auflage 2004, ISBN 3898258483.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Die Gesellschaft für deutsche Sprache hält „Verfassungsgebende“ ebenso für vertretbar. Antwort des Petitionsausschusses auf eine gegen die Entfernung des Fugen-s gerichtete Petition (vgl. auch Spiegel Online vom 2. Oktober 2004 – Bundestag muss jahrzehntealten Grammatikfehler im Grundgesetz korrigieren)
  2. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Oktober 1951, II. Senat, Leitsatz 21 (BVerfGE 1, 14 – Südweststaat, LS 21)
  3. In ihrem Buch Über die Revolution untersucht die politische Theoretikerin Hannah Arendt die Frage der Legitimierung Verfassunggebender Versammlungen und wie es zu solchen Versammlungen kommt. Dabei arbeitet sie die Unterschiede im revolutionären Entstehungsprozess der US-amerikanischen Verfassung und der Französischen Verfassung heraus. Anders als im Fall der französischen Verfassung wurde die Verfassung in den USA 1787 Abschnitt für Abschnitt bis in alle Details mit lebhafter Bürgerpartizipation in town hall meetings und Länderparlamenten durchdiskutiert und mit Amendments ergänzt. Siehe dazu auch Federalist Papers.
  4. Verfassung der Französischen Republik vom 24. Juni 1793, Erklärung der Menschen und Bürgerrechte, Art. 28. Constitution de l’an I (1793), Déclaration des droits de l’homme et du citoyen, article 28.
  5. Peter Pernthaler: Die freiheitliche Demokratie ist Menschenrechtsherrschaft, in: Genius 1/2005, Wien)