Benutzer:Erna2808/Hertha Nathorff

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Hertha Nathorff (* 5. Juni 1895 in Laupheim; † 10. Juni 1993 in New York) war eine deutsche Kinderärztin und Publizistin. Sie leitete als Ärztin von 1923 bis in die 1930er Jahre eine Kinderklinik in Berlin-Charlottenburg. Aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verlor Nathorff im Zuge der nationalsozialistischen Rassenpolitik im Jahr 1938 ihre ärztliche Approbation und flüchtete anschließend 1939 nach Amerika.[1]

Gedenktafel Turmstraße 21 (Moab) Jüdische Ärzte

Familiärer Hintergrund[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Hertha Nathorff (geb. Einstein) wurde am 5. Juni 1895 in der oberschwäbischen Stadt Laupheim (Württemberg) geboren. In Laupheim wuchs sie mit ihren beiden jüngeren Schwestern Sophie Marie und Elsbeth auf. Ihre Eltern, Arthur (1865 - 1940) und Mathilde (1865 - 1940) Einstein, ermöglichten ihnen das Aufwachsen in Wohlstand. Sie waren Besitzer einer Zigarrenfabrik. Aufgrund der hohen gesellschaftlichen Stellung und durch berühmte Verwandte gehörte die Familie Ein-stein zu den bekannten jüdischen Familien der Region.[2] Wenn auch weit entfernt, stammte die Familie von dem Nobelpreisträger und Pazifisten Albert Einstein, dem Musikwissenschaftler Alfred Einstein sowie dem amerikanischen Filmprodu-zenten Carl Laemmle ab.[1]

Ausbildung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Hertha Einstein besuchte 1904 im Alter von 9 Jahren als erstes Mädchen die Laupheimer Lateinschule, das spätere Carl-Laemmle-Gymnasium. Ihr Besuch an der Schule führte Anfang des 20. Jahrhunderts zu erheblichem Aufsehen und anfänglichem Widerstand seitens der Schulbehörden. Von 1910 bis 1914 besuchte sie ein Gymnasium in Ulm, an dem sie 1914 ihre Abiturprüfung ablegte.[3] Im selben Jahr, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, begann Hertha Nathorff statt des von ihr ursprünglich geplanten Musikstudiums ein Medizinstudium, das sie in Freiburg, Heidelberg, München und Berlin absolvierte. Das Studium unterbrach Nathorff für unbekannte Zeit, um als Krankenschwester tätig zu sein. In Berlin legte die 1919 nach dem Ersten Weltkrieg ihr Staatsexamen ab. Anschließend promovierte Nathorff in Heidelberg und arbeitete mehrere Jahre als Assistenzärztin in Freiburg.[2]

Kindheit[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Arthur Nathorff sah in Hertha „immer Ersatz für den […] versagten Sohn“. Aus diesem Grund ließ er seine Tochter „frei und ungeziert“ aufwachsen und ließ ihr sämtliche Bildung zukommen. Neben Gesangsunterricht und Tanzstunden schickte Arthur Nathorff die damalig neunjährige Hertha 1904 als einziges Mädchen auf die Lateinschule für Jungen in Laupheim, das spätere Carl-Laemmle-Gymnasium. Ihr Schulbesuch sorgte bei der Presse, bei der Stuttgarter Schulbe-örde, bei der katholischen Kirche und auch bei Spielabenden in der Stadt und Gesprächen der Bürger für großen Aufruhr. Hindern konnte Nathorff jedoch niemand an ihrem Schulbesuch. Nach Abschluss der Lateinschule wechselte Nathorff 1910 zum Humanistischen Gymnasium in Ulm, welches sie bis 1914 besuchte.[1] „Niemals hatte [sie] in all diesen Jahren zu spüren bekommen, daß [sie] etwa nicht dazugehörte oder weniger galt als die anderen, weil [sie] Jüdin war“.[4] Ihre Zugehörigkeit stellte die junge Frau zum ersten Mal infrage, als ihre Jungendliebe, ein junger Offizier, ihre Beziehung mit ihr beendete, weil „eine Ehe mit einer jüdischen Frau für einen deutschen Offizier zum massiven Karrierehindernis geworden wäre“.[4] Mit Abschluss ihres Abiturexamen begann am 28. Juni 1914 der Erste Weltkrieg mit dem Mord in Sarajewo. Während ihre männlichen Klassenkameraden in den Krieg zogen, bliebt Nathorff zurück. Die zu spürende Einigkeit Deutschlands, unabhängig der Religionen, „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“, weckte in Hertha Nathorff den großen Wunsch zu helfen.[2]

Ausbildung während des Ersten Weltkriegs[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Da die junge Frau als Krankenschwester wegen genügend Fachkräften nicht gebraucht wurde, blieb sie in Laupheim, um dort zu helfen. Als im September 1914 der erste Transport von Verletzten in die Stadt kam und die Menschen ihnen nicht helfen konnten, wie sie es hätten tun müssen, erkannte Nathorff: „Sinnlose Hilfe ist keine Hilfe“.[2] Weil Nathorff um jeden Preis den Verwundeten helfen wollte, entschloss sie sich für das Medizinstudium, welches sie im Oktober 1914 in Heidelberg begann.

Ihr Studium, in dem sie sich auf Gynäkologie spezialisierte, wurde von den Nachrichten und Ereignissen des Ersten Weltkriegs begleitet. Sie und ihre Kommilitonen feierten „deutsche Siege“, hörten aber auch von vielen Gefallenen und mussten Abschied von Freunden nehmen, die in den Krieg geschickt wurden. Wegen herrschender Schwesternknappheit studierte die junge Frau am Tag und arbeitete nachts als Krankenschwester in der chirurgischen Universitätsklinik. Sie wechselte zum Studieren bald darauf nach München und arbeitete dort in der Inneren Klinik. Zusätzlich gab Hertha Nathorff abends „Kurse für Arbeiter in Lesen und Schreiben, da Lehrkräfte mangelten“. Ihre Studienzeit war begleitet von vielen Opfern des Krieges, die sie behandelte, von Lebensmittelknappheit und Verzweiflung, die sie in jedem Bereich ihres Lebens mitbekam.[2]

Wieder in Heidelberg arbeitete Nathorff als Hilfsärztin der Chirurgischen und Universitätsfrauenklinik.

Folgen des Nationalsozialismus[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ein Gesetz, dass die Nationalsozialisten am 7. April 1933 beschlossen, wies Nathorff von dort an als Jüdin aus. Beide Nathorffs wurden nach 1933 im Rahmen der „Arisierung“ aus dem Klinikdienst entlassen und sahen sich als Juden wachsender Diskriminierung ausgesetzt. 1934 wurde Hertha Nathorff die Kassenzulassung genommen sowie 1938 seitens der nationalsozialistischen Machthaber die ärztliche Approbation entzogen. Während Hertha Nathorff nur noch ehrenamtlich in einer Klinik arbeiten durfte, durfte Erich Nathorff die gemeinsame Praxis als „Judenbehandler“ weiterführen. Auch in seiner Praxis arbeitete Nathorff nur noch ehrenamtlich als Sprechstundenhilfe bis zu den Novemberpogromen 1938. Dort verschleppten die Nationalsozialisten Erich Nathorff ins KZ Sachsenhausen, aus dem er nach fünf Wochen Tortur entlassen wurde.[1]

Halb zehn abends. Es klingelt zweimal kurz und scharf hintereinander. Ich gehe an die Tür: ‚Wer ist da?‘ – ‚Aufmachen! Kriminalpolizei!‘ Ich öffne zitternd, und ich weiß, was sie wollen. ‚Wo ist der Herr Doktor?‘ – ‚Nicht zu Hause‘, sage ich – ‚Was? Die Portierfrau hat ihn doch nach Hause kommen sehen.‘ – ‚Er war zu Hause, aber ist wieder weggerufen worden.‘ (…) Doch in diesem Augenblick höre ich, wie die Türe zu unserer Wohnung aufgeschlossen wird. Mein Mann kommt – er kommt, der Unglückselige, in dem Augenblick, da ich ihn gerettet wähne. Und wie er geht und steht, führen sie ihn ab. ‚Danken Sie Ihrem Herrgott, daß Ihrer Frau nicht die Kugel im Hirn sitzt.‘ (…) Ich renne ihnen nach auf die Straße. ‚Wohin mit meinem Mann, was ist mit meinem Mann?‘ Brutal stoßen sie mich zurück. (…) Und ich sehe, wie sie in ein Auto steigen und davonfahren mit meinem Mann in die dunkle Nacht.

Hertha Nathorff: Das Tagebuch der Hertha Nathorff., S. 119

Flucht und Aufbau eines neuen Lebens[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Carl Laemmle riet den Nathorffs zur Auswanderung aus Deutschland und bürgte für sie, so dass sie im August 1938 ein Visum für die USA beantragten. Das Ehepaar reiste 1939 zuerst nach London, wohin sie bereits Monate zuvor den Sohn mit einem Kindertransport in Sicherheit gebracht hatten, von London aus reisten sie weiter nach New York. Inzwischen war die Familie völlig mittellos, da sie von den Nationalsozialisten um ihr Vermögen gebracht wurden. Carl Laemmle war 1939 verstorben, daher konnte die Familie von dieser Seite auch keine Hilfe mehr erwarten. 1940 schrieb Hertha Nathorff:

„Dieses Wartenmüssen, es hat uns um alles gebracht, alles, was wir an irdischen Gütern noch besessen hatten. Unsere Schiffskarten sind verfallen, unser Lift (Umzugsgut) in Holland ist verloren, weil wir jetzt den Transport in Devisen ein zweites Mal zu bezahlen hätten, da die Nazi-Räuber auch dieses Geld nicht transferiert haben. Auf fremde Hilfe und Güte sind wir angewiesen.[3]“

Hertha Nathorff: Das Tagebuch der Hertha Nathorff., S. 130

Da die Studienabschlüsse der Nathorffs in den USA nicht anerkannt wurden, konnten sie nicht als Ärzte arbeiten. Die Stimmung gegenüber den deutschen Emigranten in den USA war zudem von Misstrauen geprägt, Unterstützung bekamen die Nathorffs keine. Hertha Nathorff arbeitete daher als Krankenpflegerin, um das Familieneinkommen zu sichern, während Erich Nathorff sich auf amerikanische Studienabschlüsse vorbereitete. Ihre eigene Qualifikation zum Wiedereinstieg in den Arztberuf blieb ihr verwehrt, da das Einkommen der Arztpraxis ihres Mannes niedrig war und er ihr jegliche Unterstützung beim Zusatzstudium verwehrte. So arbeitete sie als Sprechstundenhilfe in seiner Praxis.[2]

Obwohl es für Hertha Nathorff nicht leicht war, ihren Beruf als Ärztin nicht mehr ausüben zu können, setzte sie sich für die sozialen Belange deutscher Emigranten in New York ein. Sie arbeitete als Psychotherapeutin und war Mitglied der Virchow Medical Society sowie der Association for the Advancement of Psychotherapy, zudem gehörte sie der Alfred Adler Mental Hygiene Clinic an. Gerade als die Familie eine neue Existenz aufgebaut hatte, starb Erich Nathorff im Jahr 1954.[1]

Sie publizierte mehrere Werke, darunter einen Gedichtband, und erhielt verschiedene Auszeichnungen wie zum Beispiel 1967 das Bundesverdienstkreuz.

Hertha Nathorff lebte bis zu ihrem Tod 1993 in bescheidenen Verhältnissen in New York. 1986 stiftete sie im Andenken an ihre Schulzeit ihrer ehemaligen Schule in Laupheim einen jährlichen Preis für das beste Abitur. Deutschland selbst hat Hertha Nathorff jedoch nie wieder besucht.[3]

Öffentliche Auftritte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

1940 wurde Hertha Nathorff für ihre Tagebuchaufzeichnungen aus der NS-Zeit ein Preis im Manuskriptwettbewerb der Harvard University zum Thema „Mein Leben in Deutschland“ verliehen. Anschließend publizierte sie Beiträge über medizinische und psychologische Probleme, Kurzgeschichten und Gedichte in amerikanisch-deutschsprachigen Zeitschriften, wie dem Aufbau, der New Yorker Staatszeitung und der Zeitschrift „Die Welt“. Außerdem hielt sie Vorträge in den deutschen Programmen New Yorker Radiostationen und spielte als Gründerin des Open House für ältere Menschen deutscher Sprache und Kultur eine wichtige Rolle.[2]

Ehrungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Für ihr soziales Engagement in Deutschland und den USA wurde Hertha Nathorff 1967 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. 1995 stiftete die Ärztekammer Berlin eine nach Hertha Nathorff benannte jährliche Auszeichnung für die besten Abschlussarbeiten in gesundheitswissenschaftlichen Studiengängen an der Berlin School of Public Health und der Freien Universität Berlin.[3]

Lebensende[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Hertha Nathorff überlebte ihren Mann um fast 40 Jahre, der im Jahr 1954 starb. Sie überlebte ebenfalls ihren Sohn Heinz, der 1988 starb. Bis zu ihrem Tod lebte sie in der 1942 bezogenen New Yorker Wohnung am Central Park. Am Ende ihres Lebens war sie durch Krankheit an ihre Wohnung gebunden und hatte nur noch durch Briefe Kontakt zur Außenwelt. Hertha Nathorff verstarb 1993.[2]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c d e Deutsche Biographie: Nathorff, Hertha - Deutsche Biographie. Abgerufen am 17. April 2023.
  2. a b c d e f g h Wolfgang Benz: Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York, Aufzeichnungen 1933 bis 1945. 4. Auflage. FISCHER Taschenbuch, Frankfurt am Main November 2013, S. 21.
  3. a b c Nathorff Hertha - Detailseite - LEO-BW. Abgerufen am 17. April 2023.
  4. a b Edda Ziegler: Verboten - verfemt - vertrieben: Schriftstellerinnen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Deutscher Taschenbuchverlag, München 210, S. 192.