Benutzer:Toter Alter Mann/Was Wikipedia ist

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Wir alle wissen, was Wikipedia nicht ist, und falls es uns mal nicht einfällt, können wir jederzeit nachschlagen. Die Frage aber, was Wikipedia ist, ist nicht ganz so einfach zu beantworten. Neben den Allgemeinplätzen Online-Enzyklopädie bzw. Projekt zur Erstellung einer Online-Enzyklopädie reichen die Hypothesen von Digitalem Maoismus über ein großes soziales Experiment oder eine Löschhölle bis hin einem Turmbau zu Babel.

Leute wie Christian Stegbauer, der Waldschrat Jaron Lanier oder dieser spanische Kerl, der eine Doktorarbeit über Wikipedia geschrieben hat, haben wohl auch ihre mehr oder minder wissenschaftlichen Meinungen. Ebenso haben sich viele Benutzer hier Gedanken gemacht, auch die Presse und diverse Blogs, der Diderot-Club und natürlich auch die Leute, die Wikipedia einfach nur benutzen, ohne ihre wertvolle Zeit für etwas zu opfern, von dem man im Grunde nichtmal richtig weiß, was es ist. Einige dieser Meinungen sind erstaunlich zutreffend, andere eher weniger, aber bisher ist mir noch keine begegnet, die Wikipedia zutreffend in seiner Gänze beschrieben hat. Dann muss ich es wohl selber tun. Da mir heute Nacht nicht so recht nach Ironie ist, könnte es etwas trocken werden, dafür verzichte ich auch auf Formulierungen, die mir hinterher wieder peinlich sind. Mit Fakten, der normativen Kraft des Faktischen oder Einkäufen bei Norma werde ich mich nicht aufhalten, darum keine Garantie für frei aus dem Gedächtnis zitierte Begenheiten und Umstände. Also, dann mal los:

Aussichtsplattform: Perspektiven auf Wikipedia[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Was man in Wikipedia sieht, hängt zu einem Großteil davon ab, wo man steht und in welchem Rahmen man mit WP zu tun hat. Grob lassen sich drei Sichtweisen zusammenfassen: Die der außenstehenden Nutzer, die der involvierten Autoren, Programmierer und Wikipolitiker und nicht zuletzt die realistische holistische Sicht.

Von außen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Von Außen ist Wikipedia das, was es vorgibt zu sein: Eine Enzyklopädie. Oder ein Lexikon, wenn man es in normalem Deutsch sagen will. Das ist so simpel, wie es klingt: Wer als unbedarfter Besucher einen Begriff seiner Wahl ins Suchfeld eingibt, hat gute Chancen, von WP zu eine Happen Gelehrigem geführt zu werden. Wikipedia weiß eigentlich über alles bescheid, und das in der Regel besser, als man selbst, vorausgesetzt, man ist kein Geschichtsrevisionist, Wünschelrutengänger oder Scientologe. Zu jedem Begriff gibt es einen Artikel, und die deutsche Wikipedia ist mittlerweile so weit, dass das Angebot der Nachfrage voraus ist. Sprich, die Autoren stoßen vor den Lesern auf Lücken. Wikipedia ist also ein ziemlich großer, ziemlich guter Brockhaus. Klar, einige Seiten zu meinen Lieblingsbands könnten ausführlicher, aktueller oder besser sein, aber wer will schon über Wikipedia meckern? Wikipedia ist eine enorme Ressource, die Wissen und Fakten umsonst anbietet, wo man früher in die Bücherei rennen musste. Von außen sieht Wikipedia eigentlich ziemlich gut aus (wenn man von unten nach oben schaut, sieht man auch nicht, dass da ein paar Puzzlestücke fehlen).

Klar gibt es ein paar Kritiker: Hauptsächlich Experten, die bei näherer Betrachtung allerdings auch nur Außenstehende sind, nur dass sie etwas länger vor dem Puzzleball gestanden haben und vielleicht das fehlende Puzzlestück gesehen haben, zu dem es manchmal reinregnet. Christian Stegbauer beispielsweise kritisiert Mobbing gegen Autoren, Jaron Lanier kritisiert Mob-Ideologie in Artikeln, fefe wendet sich gegen Zensur, Exklusionismus und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und Frank Schirrmacher findet es schade, dass für Wikipedia nicht mehr Bäume sterben, und Larry Sanger, der die Tragweite der Wikipedia nie erkannt hat (Jimbo übrigens auch nicht), hat ein Problem mit Leuten, die keinen österreichischen Adelstitel besitzen. Das bleiben aber keine wirklichen Innenansichten der Wikipedia. Sie kritisieren lediglich Mängel, die sich aus Sicht des Leser ergeben: Hier fehlt ein Artikel! Das ist mir zu unübersichtlich! Ich mochte die 1980er eigentlich viel lieber als die 2000er! Mit dem Prinzip der Wikipedia an sich haben sie aber nichts zu tun, weil die Wikipedia immer noch als konventionelles Lexikon und die Ersteller als konventionelle Redakteure wahrgenommen werden.

Die Sicht von außen auf die Wikipedia kann man vielleicht am ehesten mit der Sicht eines Menschen auf einen Bienenkorb vergleichen: Er wirkt von außen abgeschlossen und liefert Honig. Was genau drinnen vorgeht, erschließt sich nicht.

Im Bienenstock[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Über diese „naive“ (im Grunde aber recht präzise) Sicht der Dinge wähnen sich die meisten Wikipedia-Autoren längst hinweg: Sie wissen, wie der Hase läuft, egal ob bei Adminwahlen, Checkuser-Anträgen oder Löschdiskussionen. Sie wissen, wie Artikel auszusehen haben, erkennen die Relevanzhürde intuitiv und sind weit mehr als nur Autoren – so wie ein Zeitungsjournalist natürlich auch mehr als nur ein Autor ist: Er ist Chef, Untergebener, Mitarbeiter, Freund, verhasster Konkurrent, belächelter Idealist oder gefürchteter Kotzbrocken. Wer sich zur Mitarbeit an Wikipedia entschließt, dem eröffnet sich Schritt für Schritt der Metaraum. Er lernt, dass Autoren nicht nur einfach so vor sich hinschreiben, sondern sich auch gegenseitig unterstützen oder Steine in den weg legen. Er merkt, dass neben der Liebe zum eigenen Wissen vor allem die Anerkennung die Hauptmotivation vieler unbezahlter Autoren ist. Und er erfährt, dass sich in vielen Themenbereichen regelrechte Kriegsschauplätze entwickeln, die sich über die Sanktionsseiten (LK, LP, VM, CU, A/W, SG) und den Rest des Metaraumes erstrecken.

Naturgemäß gibt es Leute, die in der Kunst des Krieges bewanderter sind als andere. Sie lernen dazu und setzen sich bei Streitereien, Kontroversen und Rangkämpfen durch; andere hingegen ziehen den kürzeren, mitunter weil sie die Regeln der Wikipedia nicht voll erfassen.

Von vielen werden diese Wikipolitics verabscheut, obgleich sie oft selbst daran beteiligt sind. Oft wird nach einer Wikipedia „der Autoren“, ohne „Geschwafel“, dafür mit „Artikelarbeit“ gerufen. Diese Forderung diente erfahreneren Wikipedianern mit Adminrechten nicht selten als Begründung, um notorische Quengler zu sperren, die sich ohnehin nicht durchsetzen konnten. Aber ist eine Wikipedia ohne Metadiskussionen realistisch? Natürlich nicht, es gibt sie ebensowenig wie Weintrauben ohne Kerne Knoblauch ohne Mundgeruch. Die inneren Zwistigkeiten und Machtkämpfe der Wikipedia entspringen der für die Wikipedia notwendigen Vernetzung und gegenseitigen Kontrolle. Wo Vertrauen und Anerkennung zur Währung wird, kommt es zwangsweise zu Konflikten. Der Wunsch nach einer Wikipedia als Fassade (so wie sie die Leser sehen) ist deshalb nachvollziehbar, aber nicht machbar.

Ein bisschen sind also die Wikipedianer wie die Bienen: Sie ackern und schuften, aber sie wissen nicht so recht wofür. Soweit zur Innensicht des Projekts zur Erstellung eines Bienenstocks.

Was Wikipedia wirklich ist[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Wikipedia ist nun aber mehr als nur die Summe ihrer Artikel (Enzyklopädie) und Autoren (Projekt zur Erstellung einer Enzyklopädie). Jimbo (der auf ähnliche Weise zu Wikipedia gekommen ist wie der Fisch zum Fahrrad) glaubt, ganz im Sinne der Autoren, die nicht selten einen höheren Zweck für ihr Tun postulieren, dass die Wikipedia ein Instrument der Aufklärung ist. Und wem schwebt das nicht vor, während man gerade einen Artikel über einen Korbblüter oder eine Kirche im Burgenland schreibt? „Hiermit wird die Welt wieder ein Stück klüger!“ Das hat etwas sehr Visionäres und Nobles, ist aber von der Wirklichkeit meilenweit entfernt.

Um zu verstehen, was Wikipedia ist, hilft es vielleicht, sich die Welt ohne Wikipedia vorzustellen. Wer älter als 15 Jahre ist, dem dürfte das keine großen Probleme bereiten, was also ist der Unterschied? Wo man früher ein Buch zur Hand nahm, nimmt man heute Wikipedia zur Hand. Wo man früher die Mama oder den Papa gefragt hat, fragt man jetzt die Wikipedia. Die Crux daran ist, dass man nur noch die Wikipedia fragt. Kein Lehrer, kein Sachbuch, kein Physikprofessor kann auf Dauer mit dem Wissen der Wikipedia mithalten. Die Wikipedia komprimiert bekanntes Wissen und stellt es jedem zur Verfügung. Um es aber komprimieren zu können, muss das Wissen auch normiert werden. Die Wikipedia nennt das WP:NPOV: Was der allgemein gültigen Meinung widerspricht, fliegt raus. Übrig bleibt ein Konzentrat, das durch die Monopolstellung der Wikipedia eine Aufwertung zur Wahrheit erhält. Was in der Wikipedia steht, wird für voll genommen, das ist natürlich das genaue Gegenteil von Aufklärung und der Fähigkeit zum kritischen Denken.

Hier mögen nun einige aufschreien, entweder, weil das nach Miesmacherei der Wikipedia klingt, oder weil es nach einer miesen Wikipedia klingt. Tatsächlich ist es das Natürlichste der Welt: Wenn sich, gemäß Michel Foucault, Macht durch Wissen ausbreitet, dann ist Wikipedia nur ein Katalysator. So findet etwa das, was anerkanntes Wissen ist, wie „1 + 1 = 2“ ohne Probleme den Eingang in die Wikipedia. Ist ein Stück Wissen nicht sofort plausibel, muss es belegt (bewiesen) werden. Wird sowohl der Beweis als auch das Stück Wissen anerkannt, kann es Teil des Kanons werden. So entstehen ohne Probleme tausende Artikel über Lebewesen, Dörfer, Berge, Flüsse und Seen, kurz: Alles was einfach zu begreifen ist.

Die Aufgabe des Bienenvolks ist es also nicht einfach, fleißig am Artikel-Bienenstock zu basteln und dem Imker leckeren Honig zu liefern, es hat auch eine tiefere, ökologische Bedeutung, die auf die Reproduktion der Welt, wie sie ist, abzielt.

Was daraus folgt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Dabei stellen sich jedoch zwei Probleme. Wenn die Wikipedia das Wissen ihrer Autoren, d.h. das Wissen der Gesellschaft abbildet, dann ist sie auch an die Grenzen dieses Wissens gebunden. Die erste Grenze liegt am äußeren Rand der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Über eine Schülerband aus Buxtehude kann man kein Wissen zusammentragen, weil sie von der Gesellschaft nicht wahrgenommen wird, so wie man von Molekülen keine Fotos schießen kann. Was nicht normiert werden kann, kann nicht in die Wikipedia: Wenn man sie denn aufnähme, würde das dazu führen, dass wir 1000 nahezu identische Schülerbandartikel hätten. Weil aber die Wikipedia spezifisches Wissen immer genau einem Objekt zuordnet, versagt sie automatisch, wenn sie das gleiche Wissen mehreren Objekten zuorden muss.

Die zweite Grenze liegt im Inneren der gesellschaftlichen Wahrnehmungen. Es ist die Art von Grenze, die dazu führt, dass der Artikel Mensch der schlechteste aller Lebewesen-Artikel ist. Themen, die übermäßig mit Bedeutung aufgeladen sind – Abtreibung, kurz zurückliegende Katastrophen, der Nahostkonflikt, die Beschneidung weiblicher Genitalien, die Teilungen Polens, der Klimawandel, Gott etc. – sind entweder zu komplex oder zu jung, als dass sich darüber in der Gesellschaft normiertes Wissen über einen Diskurs hätte bilden können. Dadurch kann schließlich die Wikipedia höchstens die Komplexität dieser Themen abbilden, nicht aber die Themen selbst, sie sind noch nicht abgekühlt und haben keine feste Form angenommen. Sollte es also in 200 Jahren die Wikipedia noch geben, und sollten wir bis dahin noch in einer leben, so wird es auch in 200 Jahren keinen exzellenten Artikel über die Demokratie geben, und auch für Gesellschaft sieht es schlecht aus.

Dies sind auf absehbare Zeit die Grenzen, die Wikipedia auferlegt sind. Davon abgesehen verändert Wikipedia unsere Welt viel stärker und unbemerkter als jeder Clou von Apple oder Google (mittlerweile nur noch ein Redirect auf Wikipedia), deren Projekte sich gegen Wikipedia wie nette Spielereien ausnehmen, aber nicht die gleiche normative Kraft besitzen. Wikipedia wird darüber hinaus das einzige funktionierende Gegenmodell zu Google bleiben, weil es durch Freiwillige funktioniert und gemäß seiner Natur nicht mit Geld betrieben werden kann: Dann müsste man die Wirklichkeit kaufen.