Abstammungstheorie

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
(Weitergeleitet von Deszendenzlehre)
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Die Abstammungstheorie, auch Deszendenztheorie und Deszendenzlehre genannt, ist die naturwissenschaftliche Theorie, die besagt, dass alle Arten der Lebewesen (d. h. der zellulär aufgebauten Organismen) auf eine oder wenige Urformen als gemeinsamen Vorgänger zurückgehen, mit dem jedes Lebewesen in gerader Abstammungslinie verbunden ist.[1]

Charles Darwin bezeichnete seine Evolutionstheorie selbst als Deszendenz-Theorie, da er sich zu Anfang nicht als „Evolutionist“ sah: Evolution galt zu seiner Zeit als Begriff für eine lineare „Höherentwicklung“ der Arten von primitiven Formen bis hin zum Menschen ohne eine gemeinsame Abstammungsgeschichte. Der bedeutendste Vertreter dieser Vorstellung war Jean-Baptiste de Lamarck. In Deutschland wurden für Darwins Theorie noch bis in die 1920er Jahre die Bezeichnungen Deszendenstheorie oder Abstammungslehre verwendet.[2]

Nach der monophyletischen (griech.: einstämmigen) Abstammungslehre gehen alle Arten auf nur eine Urart zurück. Eine beliebige Menge irgendwelcher lebenden Organismen hat also stets nur einen jüngsten gemeinsamen Urvorfahr und eine aufeinanderfolgende Reihe weiterer gemeinsamer Vorfahren. Das gilt für alle lebenden und jemals existierenden Organismen auf der Erde.

Nach der polyphyletischen (griech.: mehrstämmigen) Abstammungslehre gehen alle gegenwärtigen Arten auf mehrere Grundstämme zurück.

Die Frage nach den Mechanismen hinter der Entstehung der Arten in diesem Prozess ist der Gegenstand der Evolutionstheorien. Die Frage nach der Herkunft des gemeinsamen Vorgängers wird in der Naturwissenschaft im Rahmen der chemischen Evolution erforscht.

Die Abstammungstheorie erklärt folgende wesentlichen Sachverhalte:

Eine statistische Untersuchung aus dem Jahr 2010 hat ergeben, dass das Leben sehr wahrscheinlich von einer einzigen Urart abstammt.[3] Ein einziger gemeinsamer Vorfahr ist danach 102.860 mal wahrscheinlicher als mehrere.[4]

Einige Indizien für diese Annahme sind neben der genannten starken Universalität des genetischen Codes die sonst unerklärliche Ähnlichkeit der membrangebundenen ATPasen (verantwortlich für das Verfügbarmachen von Energie in der Zelle) über alle drei Domänen des Lebens hinweg, sowie die Erkenntnis, dass Archaeen (wie Halobacterium salinarum) die gleichen Mechanismen zur Erhaltung der Zellgröße benutzen wie Bakterien (z. B. Escherichia coli) und Eukaryonten (wie z. B. Hefen), d. h. dass die Zellteilungsstrategie in allen drei Domänen des Lebens offenbar gleich ist.[5]

Die Fähigkeit primitiver Lebewesen zum horizontalen (lateralen) Gentransfer eröffnet die Möglichkeit, dass anstelle eines einzigen universellen Ahns eine Gemeinschaft primitiver Einzeller tritt, die sich jedoch untereinander im stetigen Genaustausch befanden (Common ancestral community), und daher aus heutiger Sicht als eine Einheit (Species) erscheinen. Zu Beginn des Lebens musste der vertikale Gentransfer (Vererbung) erst erfunden werden (siehe RNA-Welt-Hypothese), während der horizontale Genaustausch bei noch unvollständiger Separation der Zellen am Anfang stand.[6]

Im Unterschied zu den zellulär aufgebauten Organismen wird nicht von einer monophyletischen Abstammung aller Viren-Arten ausgegangen, allenfalls innerhalb der einzelnen Virus-Realms. Im Gegensatz zu den drei Domänen der zellulären Organismen – Archaeen, Bakterien und Eukaryoten, die einen gemeinsamen Vorfahren haben, haben die Virus-Realms im Allgemeinen keine genetische Beziehung zueinander, die auf gemeinsamer Abstammung beruht. Die Realms fassen Viren auf der Grundlage hochkonservierter Merkmale zusammen, und nicht auf der Grundlage gemeinsamer Abstammung, wie sie als Grundlage für die Taxonomie des zellulären Lebens dient. Daher stammen selbst Viren innerhalb der einzelnen Realms nicht notwendigerweise von einem einzelnen gemeinsamen Vorfahren ab.[7]

  • Schischkoff: Philosophisches Wörterbuch. 22. Auflage. 1991, ISBN 3-520-01322-3, Abstammungslehre
  • Regenbogen, Meyer: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. 2005, Abstammungslehre
Wiktionary: Abstammungstheorie – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Abstammung. Lexikon der Biologie. Spektrum.de, abgerufen am 14. Juli 2022.
  2. Philipp Sarasin, Marianne Sommer (Hrsg.): Evolution. Ein interdisziplinäres Handbuch. J. B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2010, ISBN 978-3-476-02274-5, S. VII, 3, 18.
  3. Douglas L. Theobald: A formal test of the theory of universal common ancestry. Nature: Nature Publishing Group (www.nature.com), abgerufen am 15. Januar 2011 (englisch).
  4. Tina Hesman Saey: All Present-day Life Arose From A Single Ancestor – Protein analysis rules out multiple sources. Auf: ScienceNews, Band 177, Nr. 12, 5. Juni 2010, S. 12. Memento im Webarchiv vom 11. Januar 2011.
  5. Archaea, Bacteria, and Eukarya Have More in Common Than Previously Thought, auf SciTechDaily vom 2. Januar 2018.
  6. Geoffrey M. Cooper: The Origin and Evolution of Cells. In: NCBI 2000.
  7. International Committee on Taxonomy of Viruses Executive Committee: The new scope of virus taxonomy: partitioning the virosphere into 15 hierarchical ranks. In: Nature Microbiology: Consensus Statements, Band 5, 27. April 2020, S. 668–674; doi:10.1038/s41564-020-0709-x (englisch).