Encheleer

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Encheleer (altgriechisch Έγχελέαι Encheléai; lateinisch Enchelei[Anmerkung 1]) ist die eingedeutschte Bezeichnung für einen antiken Volksstamm im südlichen Illyrien.

Schon früh wiesen Forscher wie Alfred Philippson (1905) auf das Lokalisierungsproblem der Encheleer hin. Nach Hekataios von Milet (6./5. Jahrhundert v. Chr.) siedelte der Stamm nördlich des Ceraunischen Gebirge zwischen den Chaoniern im Süden und den Taulantiern im Norden, und laut Skymnos (2. Jahrhundert v. Chr.) damit in der Gegend von Apollonia. (Eigentlich spricht Hekataios aber nicht von Chaoniern, sondern von den Dexaroi, wie Nade Proeva präzisiert, die entweder ein chaonischer Stamm um den Tomorr oder als Hapax legomenon eigentlich dieselben wie die illyrischen Dassareten wären.[1]) Pseudo-Skylax (4. Jahrhundert v. Chr.) aber verortet sie weiter nördlich, und zwar im Norden von Epidamnos in der Nähe der Mündung des Drilon.[2] In dieselbe Region setzen Andreas Lippert und Joachim Matzinger (2022) die Encheleer und vermuten sie im heutigen Montenegro. Zwischen ihnen und den Dassareten am Ohridsee siedelten Lippert und Matzinger zufolge noch die Bryger.[3]

Malcolm Errington (1986) lokalisiert die Encheleer in der Ohridsee-Region und damit westlich der Lynkestis.[4]

John J. Wilkes (1992) bietet quasi einen Kompromiss und vermutet die Encheleer am Ober- und Unterlauf des Drin und damit sowohl am Ohridsee als auch am Skutarisee.[5]

Milutin V. Garašanin (1997) zufolge befinden sich auch die ausgegrabenen Nekropolen bei Trebeništa und Gorenci (am Ohridsee) im „Land der Encheläer“ und damit auch im Gebiet der Dassareten. Für ihn sind die Encheleer „einwandfrei als Illyrer anzusehen“. Dass die griechische Mythologie und Pseudo-Skylax sie im heutigen Montenegro verorten, liegt laut Garašanin wohl an nicht rekonstruierbaren Migrationen.[6]

Im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. besiedelten die Encheleer die Region rund um den Ohridsee, zwischen den Gebieten der Chaonier und der Taulantier.[7] Sie standen oft im Krieg um die Vorherrschaft des Gebietes mit den antiken Makedoniern, die weiter im Osten siedelten. Andere Nachbarn der Encheleer waren im Norden die Dardaner und im Süden die Dassareten, bei denen es sich ebenfalls um illyrische Stämme handelte.

Als eines der ersten illyrischen Völker fanden die Encheleer bereits in dieser Zeit zu einer politischen Organisation als Königreich, verloren ihre Macht aber auch wieder recht schnell und gerieten bis zum 6. Jahrhundert in politische Abhängigkeit von den Makedoniern. Nachdem diese das Gebiet schließlich erobert hatten, besiedelten es die illyrischen Dassareten vom Süden her und machten Lychnidos zu ihrer Hauptstadt.

Durch spätere Quellen wie den Periplus des Pseudo-Skylax aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. ist für die Encheleer ein völlig abweichendes Siedlungsgebiet als für das 8. und 7. Jahrhundert belegt. Nun lebten sie nördlich der Taulantier am Unterlauf des Drin; so wird die Stadt Bouthoe an der Bucht von Kotor (heute in Montenegro) zum Territorium der Encheleer gerechnet, während das (heute albanische) Epidamnus bereits zum taulantischen Gebiet gehörte.[8] Dass der Volksstamm 300 Jahre nach seiner ersten Erwähnung am Ohridsee nun viel weiter im Norden und an der adriatischen Küste siedelte, erklärt sich vermutlich durch die Einwanderung der Dassareten in sein ursprüngliches Siedlungsgebiet.

Herodot zitiert in seinem Geschichtswerk eine Prophezeiung, der zufolge ein Volk Theben erobern und den Tempel von Delphi plündern, dann aber zugrunde gehen würde. Mardonios bezog dies Herodot zufolge auf die Perser; der antike Historiker selbst behauptet jedoch, damit seien die Encheleer gemeint gewesen.[9] Diese scheinen also mit einigem Erfolg in Griechenland eingefallen zu sein.[10]

356/355 v. Chr. und 344 v. Chr. kämpfte Philipp II. von Makedonien siegreich gegen die Encheleer und weitere illyrische Stämme, die zumindest nominell seine Herrschaft anerkannten. Nach seinem Tod 336 v. Chr. erhoben sie sich wieder, wurden aber von Alexander dem Großen erneut besiegt.[11] Im Laufe der Jahrhunderte ging jedoch zunehmend die Identität der einzelnen Stämme verloren, die nunmehr pauschal als Illyrer bezeichnet wurden.

Name, Wirtschaft und Kultur

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Die Encheleer lebten vom Fischfang (ursprünglich im Ohridsee) und vom Handel mit griechischen Waren, wie durch archäologische Ausgrabungen vielfach belegt ist. Ihr Name leitet sich vom altgriechischen ἔγχελυς (Aal) her, bedeutet also so viel wie „Aalmänner“.[12] Dieser Fisch war im südlichen Illyrien sehr häufig und ein wichtiger Exportartikel.

Die Encheleer waren die Gründer der Städte Lychnidos (die Vorgängerin der heutigen Stadt Ohrid) und Enhallon (Lokalisierung unsicher, vermutlich heutiges Struga). Es wird außerdem vermutet, dass sie die kultische Verehrung des Kadmos (von dem sie der Mythologie zufolge auch abstammten, siehe unten) nach Illyrien brachten. Kultstätten für ihn fanden sich an den Mündungen der Flüsse Aoos, Drilon und Naron sowie in Rhizon, Bouthoe und Pola.[13]

Griechische Mythologie

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Laut der griechischen Mythologie erhielten die Encheleer ihren Namen von Encheleus, der das Herrschergeschlecht dieses Volkes begründet haben und ein Kind des Illyrios gewesen sein soll.

Dieser wiederum war laut der Bibliotheke des Apollodor der Sohn des Kadmos und der Harmonia.[14] Diese beiden, die Großeltern des Encheleus, hatten der Mythologie zufolge, aus Phönizien stammend, nach langen Abenteuern Theben gegründet und regiert. Als aber die Encheleer mit den Illyrern im Kampf lagen, sagte ein Orakel voraus, dass ihnen nur dann der Sieg verheißen sei, wenn Kadmos und Harmonia sie als Herrscherpaar in den Kampf führen würden. Die beiden gaben daraufhin ihre Herrschaft in Theben an einen anderen Enkel, Pentheus, ab, und zogen zu den Encheleern. Nachdem die Voraussage eingetroffen und diese den Kampf erfolgreich bestanden hatten, blieben die beiden weiter an der Regentschaft und gründeten die Städte Bouthoe und Lychnidus. Schließlich wurden sie von Zeus in Schlangen verwandelt und auf die Insel der Seligen entrückt.

Appian hingegen gibt an, Illyrios sei ein Kind des Polyphem und der Galateia gewesen.[15]

Einzelnachweise

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  1. Nade Proeva: The Region of Ohrid and Struga in the 6th–5th c. BC. Area, Population, Ethnicity. In: Ardjanliev et al. (Hrsg.): 100 years of Trebenishte. Sofia 2018, ISBN 978-954-9472-70-7, S. 153.
  2. Philippson 1905: Enchelees, Encheleioi.
  3. Andreas Lippert, Joachim Matzinger: Die Illyrer. Geschichte, Archäologie und Sprache. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2022, ISBN 978-3-17-037709-7, S. 11–12.
  4. Malcolm Errington: Geschichte Makedoniens. Von den Anfängen bis zum Untergang des Königreiches. München 1986, ISBN 3-406-31412-0.
  5. John J. Wilkes: The Illyrians. Blackwell Publishers Inc., Cambridge 1992, ISBN 0-631-14671-7, S. 93; 99.
  6. Milutin V. Garašanin: Značenje funeralnih maski u bogatim (kneževskim) grobovima Makedonije. In: Akademie der Wissenschaften und Künste von Bosnien und Herzegowina (Hrsg.): Godišnjak Centra za balkanološka ispitivanja. Band 30. Sarajevo 1997, S. 66.
  7. Hekataios von Milet, Fragment 73.
  8. Pseudo-Skylax, Periplus, 24 f.
  9. Herodot, Historien 9,42 f.
  10. Robin Hard: The Routledge Handbook of Greek Mythology. Routledge, London und New York 2004, ISBN 0–415–18636–6(?!), S. 643.
  11. Illyrien, Illyrer. In: Hatto H. Schmitt, Ernst Vogt (Hrsg.): Kleines Lexikon des Hellenismus. Harrassowitz, Wiesbaden 1993, ISBN 3-447-03278-2, S. 261–267, hier S. 262 (online)
  12. John Wilkes: The Illyrians (The Peoples of Europe). Wiley-Blackwell, Oxford 1995, ISBN 0-631-19807-5, S. 244.
  13. Heinrich Kiepert: Lehrbuch der alten Geographie. Dietrich Reimer, Berlin 1878, S. 357, Anm. 2.
  14. Bibliotheke des Apollodor, 3,5,4.
  15. Appian, Illyrischer Krieg, 2 (englische Übersetzung (Memento des Originals vom 29. Januar 2009 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.livius.org).
  1. Hekataios von Milet, FGH I, F 73