Essentially Contested Concept

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Ein Essentially Contested Concept (deutsch „wesensmäßig umstrittener Begriff“) ist der Anglizismus für eine abstrakte Idee oder einen abstrakten Begriff (wie z. B. Demokratie, Kunstwerk oder Freiheit), die bzw. der je nach Betrachtungswinkel sehr leicht unterschiedlich interpretiert und konkretisiert werden kann, was letztlich auf unterschiedlichen Wertvorstellungen beruht.

Allgemeines[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Dies bedingt, dass der über die Kernbedeutung solcher Begriffe hinausgehende Begriffsinhalt notwendigerweise umkämpft ist.[1][2] Contested Concepts lassen somit sehr viel Raum für ideologisches Framing und Reframing.[3]

Das Essentially Contested Concept geht auf den Sozialwissenschaftler Walter Bryce Gallie (1956) zurück. Er zeigte, dass sich Menschen mit teilweise unterschiedlichen Anschauungen und Wertvorstellungen auf gemeinsame Begriffe verständigen können. Aufgrund der unterschiedlichen Anschauungen und Wertvorstellungen werden die Begriffe aber so unterschiedlich interpretiert, dass über die Anwendbarkeit auf konkrete politisch-gesellschaftliche Phänomene oft keine Einigkeit besteht. Ebenso kann auch eine Differenz darüber bestehen, in welchem Umfang z. B. die Idee der Demokratie verwirklicht ist.[4] In diesen Fällen liegt ein Essentially Contested Concept dann vor, wenn eine Gruppe in einer Auseinandersetzung um die Deutungshoheit ihre Interpretation der Idee bewusst gegen die Interpretation anderer Gruppen einsetzt.[5]

Sieben Kriterien[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Gallie entwickelte sieben Kriterien, anhand derer festgestellt werden kann, ob ein Begriff ein Essentially Contested Concept ist:[6]

  1. der Begriff muss bewertet sein in dem Sinne, dass er etwas bezeichnet oder anerkennt („appraisiveness“)
  2. der Begriff muss in sich komplex sein, also mehrere ausgeprägt definitorische Komponenten haben („internal complexity“)
  3. der Begriff muss verschiedenartig beschreibbar sein, so dass unterschiedliche Gewichtungen oder Anordnungen dieser Komponenten unterschiedliche Bedeutungen ergeben („diverse describability“)
  4. der Begriff muss offen sein, also Abwandlungen unterliegen z. B. in Reaktion auf sich verändernde historische Umstände („openness“)
  5. die am Diskurs Beteiligten erkennen den umstrittenen Charakter der Konzeptbedeutung an („reciprocal recognition“)
  6. die unterschiedlichen Konzeptbedeutungen fußen auf der Bedeutung einer spezifischen historischen Instanz („original exemplar“)
  7. der anhaltende Diskurs führt zu einer erhöhten Qualität der Argumente und zu einer größeren Übereinstimmung über die historische Instanz („progressive competition“)

Während die Relevanz der ersten vier Kriterien weitestgehend akzeptiert ist, trifft dies auf die Kriterien (5), (6) und (7) nicht zu.[7]

Im Gegensatz zu einem „contingently contested concept“ – also einem nur zufälligerweise oder bedingt umstrittenen Begriff – wird bei einem notwendigerweise umstrittenen Begriff angenommen, dass er „stets Gegenstand von Streit und Uneinigkeit sein wird“.[8]

Beispiele[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als Essentially Contested Concept werden zum Beispiel Soziale Gerechtigkeit, Kunst, Demokratie,[9] Rule of law,[10] Neoliberalismus,[11] Mittelschicht, Kapitalismus[12], Islam[3] oder Europa[13] interpretiert.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. George Lakoff/Elisabeth Wehling: Der notwendige Ideenstreit: Essentially Contested Concepts. In: Ludger Hoffmann (Hrsg.): Sprachwissenschaft. 3. Auflage. Walter de Gruyter, 2010, ISBN 978-3-11-022629-4, S. 152.
  2. William E. Conolly: Essentially contested concepts Sozialwissenschaften (1974). In: William E. Connolly: Democracy, Pluralism and Political Theory. Routledge Chapman & Hall, 2008, ISBN 978-0-415-43123-1, S. 267.
  3. a b Elisabeth Wehling: Politisches Framing: Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht. Herbert von Halem/Köln, 2016, S. 161.
  4. William E. Conolly: Essentially contested concepts. (1974) In: William E. Connolly: Democracy, Pluralism and Political Theory. Routledge Chapman & Hall, 2008, ISBN 978-0-415-43123-1, S. 257.
  5. Jochen Walter: Die Türkei: ,Das Ding auf der Schwelle’ - (De-)Konstruktionen der Grenzen Europas. VS, 2008, ISBN 978-3-531-15931-7, S. 96.
  6. Collier, Hidalgo, Maciuceanu: Essentially Contested Concepts - Debates and Applications. In: Journal of Political Ideologies. 11 (3), 2006, S. 211–246, hier: S. 216ff.
  7. Collier, Hidalgo, Maciuceanu: Essentially Contested Concepts - Debates and Applications. In: Journal of Political Ideologies. 11 (3), 2006, S. 211–246, hier: S. 237ff.
  8. Vgl. - mit Bezug auf den Begriff der Macht - Michael Maset: Diskurs, Macht und Geschichte: Foucaults Analysetechniken und die historische Forschung. Campus Verlag, 2002, S. 58.
  9. W. B. Gallie: Essentially Contested Concepts. In: Proceedings of the Aristotelian Society. 56, 1956, S. 167–198.
  10. Collier, Hidalgo, Maciuceanu: Essentially Contested Concepts - Debates and Applications. In: Journal of Political Ideologies. 11 (3), 2006, S. 211–246, hier: S. 222ff.
  11. Taylor C. Boas, Jordan Gans-Morse: Neoliberalism - From New Liberal Philosophy to Anti-Liberal Slogan. In: Studies in Comparative International Development. 44 (2), 2009.
  12. Robert D. Johnston: The Radical Middle Class, Princeton University Press, 2003, ISBN 978-0-691-09668-1, Seite 81.
  13. Jochen Walter: Die Türkei: ,Das Ding auf der Schwelle’ - (De-)Konstruktionen der Grenzen Europas. VS, 2008, ISBN 978-3-531-15931-7, S. 71ff.