Johan Huizinga
Johan Huizinga (* 7. Dezember 1872 in Groningen, Niederlande; † 1. Februar 1945 in De Steeg bei Arnheim) war ein niederländischer Kulturhistoriker.
Leben
Huizinga entstammt einer mennonitischen Predigerfamilie. Sein Vater Dirk Huizinga war Professor für Physiologie an der medizinischen Fakultät der Universität Groningen. Johan Huizinga wuchs in Groningen auf, besuchte dort seit 1885 das Gymnasium und interessierte sich frühzeitig für Sprachwissenschaft, Geschichte und Anthropologie. Den ursprünglichen Plan, in Leiden Sprachwissenschaft zu studieren, musste er aus finanziellen Gründen aufgeben und begann stattdessen in Groningen ein Studium der Niederländischen Philologie, in dessen Rahmen er auch Geographie und Geschichte bei Pieter Jan Blok und Sanskrit bei Jacob Speyer hörte.
Von 1893-1895 absolvierte er das Referendariat und Abschlussexamen für das Lehramt in Niederländisch, Geschichte und Geographie, anschließend befasste er sich mit der Vorbereitung einer sprachwissenschaftlichen Dissertation, die Ausdrücke für Licht- und Klangempfindungen in verschiedenen indogermanischen Sprachen vergleichend untersuchen sollte. Zu diesem Zweck unternahm im Wintersemester 1895/96 auch einen mehrmonatigen Studienaufenthalt in Leipzig, brach diesen jedoch wieder ab, da die dortige Dominanz der Junggrammatiker kein günstiges Umfeld für die völkerkundlich-kulturgeschichtliche Ausrichtung seiner Arbeit bot. Bald nach der Rückkehr gab er auch sein Dissertationsvorhaben in dieser Form auf und begann stattdessen eine Dissertation über die komische Figur des Vidushaka (vergleichbar dem deutschen Hanswurst) im indischen Theater (De Vidushaka in het indisch toneel). Mit dieser Arbeit, die in einer ihrer Thesen auch einen Teil seines ursprünglichen Dissertationsvorhabens verarbeitete, wurde er 1896 bei Jacob Speyer promoviert.
1897 trat er eine Stelle als Geschichtslehrer an einem Gymnasium in Haarlem an. Im Januar 1903 wurde er außerdem an der Universität Amsterdam als Privatdozent für altindische Literatur- und Kunstgeschichte zugelassen und nahm dort ab Oktober Vorlesungen auf. Seit 1902 war er verheiratet mit der aus einer wohlhabenden Middelburger Familie stammenden Mary Vicentia Schorer. Aus dieser Ehe gingen fünf Kinder hervor, die er nach dem frühen Tod der Mutter im Juli 1914 allein erzog.
Seine Tätigkeit als Lehrer befriedigte ihn nicht, in der Orientalistik bestanden keine günstigen Aussichten auf eine Professur, auch das Angebot einer journalistischen Tätigkeit schlug er aus. Stattdessen wandte er sich auf Anraten seines früheren Lehrers Blok der Geschichtswissenschaft zu. Blok verschaffte ihm 1905 gegen Vorbehalte der Fakultät und des Kuratoriums den Groninger Lehrstuhl für allgemeine und niederländische Geschichte, noch ehe Huizingas erste einschlägig qualifizierende Arbeit, eine auf Archivstudien beruhende Untersuchung zur Stadterhebung Haarlems, vollständig erschienen war.
In Groningen versah er seine Geschichtsprofessur und hielt außerdem eine agrargeschichtliche Vorlesung am 1906 dort gegründeten Institut für Landbau. Er veröffentlichte eine Edition von Rechtsquellen zur Geschichte Haarlems, einige kleinere geschichtliche oder regionalgeschichtliche Arbeiten und eine Arbeit zur Geschichte der Groninger Universität im 19. Jahrhundert, in der er das unversitätsgeschichtliche Thema mit allgemeineren kultur- und geisteswissenschaftlichen Fragestellungen verband.
1915 wurde er auf den Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte an der Universität Leiden, einen der renommiertesten Lehrstühle des Landes, berufen, den er bis zur Schließung der Universität im Jahre 1942 innehatte. 1916 wurde er Mitglied der Niederländischen Akademie der Wissenschaften in Amsterdam, in der er ab 1929 den Vorsitz der geisteswissenschaftlichen Abteilung führte, außerdem wirkte er von 1916 bis 1932 als Redakteur bei De Gids, einer der führenden Kulturzeitschriften der Niederlande. 1919 erschien sein Werk Herbst des Mittelalters (Herffstij der Middeleuwen), das heute zu den Hauptwerken der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts zählt. Er publizierte in den folgenden Jahren eine Vielzahl von Studien zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte, Literatur und Kunst, aber auch zwei Arbeiten zur Geschichte und Kultur der USA, die er 1926 auf Einladung der Rockefeller Foundation besuchte. Er engagierte sich in in der Akademie, in wissenschaftlichen Gesellschaften (u.a. 1918/19 als Vorsitzender der Maatschappij der Nederlandse Letterkunde) und in verschiedenen Gremien, außerdem war er universitätspolitisch aktiv und wurde 1927 für vier Jahre zum Dekan seiner Fakultät und 1933 zum Rektor gewählt. Er hielt weltweit Vorträge -- in Frankreich, Belgien, der Schweiz, Österreich, England, Spanien, den USA und Niederländisch-Indien -- und wurde von den Universitäten von Tübingen (1927) und Oxford (1937) mit Ehrendoktorwürden geehrt.
Obwohl Huizinga in seinen Veröffentlichungen meist Abstand zum tagespolitischen Geschehen hielt und in seinen politischen Einstellungen eher als konservativ und wenig demokratisch gesinnt galt, setzte er 1933 ein weithin wahrgenommenes Zeichen gegen den deutschen Nationalsozialismus und Antisemitismus, als er im April an der Leidener Universität eine Französisch-Deutsch-Englische Tagung des International Student Service eröffnete und dort unter Berufung auf seine Rechte als Rektor den mit einer deutschen Studiendelegation anwesenden Nationalsozialisten Johann von Leers von der Universität verwies, nachdem er Kenntnis von einer der antisemitischen Hetzschriften Leers erhalten hatte. Der Fall führte zu einem offiziellen Protest der deutschen Regierung in Den Haag, und Huizinga musste sich auch universitätsintern vor dem Kuratorium der Universität rechtfertigen. In Deutschland distanzierte sich die Redaktion der Historischen Zeitschrift öffentlich von einem bereits im Druck befindlichen Aufsatz Huizingas, und Huizinga wurde 1936 auf die im April 1935 von der Reichsschrifttumskammer eingeführte Liste des schädlichen und unerwünschen Schrifttums gesetzt. Dies kam einem Publikationsverbot gleich, da damit in Deutschland die Verbreitung seiner Schriften durch den Buchhandel und öffentliche Bibliotheken untersagt war.
Während der deutschen Besatzung der Niederlande (1940-45) im Zweiten Weltkrieg konnte er seine Professur anfangs noch weiterhin ausüben. Obwohl sein Name seit Mai 1940 auf einer Liste potentieller Geiseln stand und er mit seiner Verhaftung rechnete, lehnte er im August 1940 eine Einladung zur Emigration in die USA ab. Im Februar 1941 wirkte er mit an der Formulierung einer Eklärung gegen die antisemitischen Maßnahmen der deutschen Besatzer, die anschließend von Rektorat und Kuratorium der Universität wieder abgeschwächt wurde. 1942 wurde die Universität geschlossen. Ende April 1942 bat Huizinga im Rahmen eines Protests gegen die Einmischungen der Besatzungsbehörden in Universitätsangelegenheiten um seine Emeritierung, am 1. Juni 1942 wurde er emeritiert, auch seine Mitgliedschaft in der Akademie der Wissenschaften musste er niederlegen.
Im August 1942 wurde er mit anderen Prominenten in dem Geisellager St. Michielsgestel interniert, aber aufgrund eines ärztlichen Gutachtens, das ihn als "für die Dauer nicht haft- und lagerfähig" erklärte, wurde er auf eine ministerielle Anordnung hin bereits im Oktober wieder entlassen, da im Hinblick auf die internationale Bekanntheit Huizingas auf jeden Fall vermieden werden sollte, dass er in deutscher Haft ums Leben kam. Die Entlassung erfolgte jedoch unter der Auflage, nicht nach Leiden zurückzukehren. Mit seiner zweiten Ehefrau, der fast dreißig Jahre jüngeren Auguste Schölvinck, die er 1937 geheiratet hatte, und mit ihrer gemeinsamen Tochter ließ er sich daraufhin in De Steeg bei Arnheim nieder. Den Kontakt zu Freunden und Kollegen hielt er dort brieflich aufrecht. Am 7. Dezember 1942 wurden ihm zu seinem siebzigsten Geburtstag zwei Festschriften im Manuskript angeboten, die jedoch erst 1948 im Druck erscheinen konnten. Im März 1943 wurden seine Schriften in den Niederlanden verboten. Nach einer kurzen Krankheit starb Huizinga am 1. Februar 1945 in De Steeg.
Leistung
Huizingas Geschichtsverständnis war von seinem Studium der Sprachwissenschaften und seiner Begeisterung für Kunst - insbesondere Malerei - geprägt. Er begriff Geschichtsschreibung als bildhaft-intuitive Mentalitäts- bzw. Kulturgeschichte. Seine Antrittsvorlesung in Groningen mit dem Titel Het aesthetische bestanddeel van geschiedskundige voorstellingen (1905) kann hierfür als programmatisch angesehen werden. Ausführlicher zu seiner Methodik äußerte er sich in Aufsätzen, die in dem Band Wege der Kulturgeschichte (1930) veröffentlicht wurden.
Sein bekanntestes Werk ist Herbst des Mittelalters (1919), das heute als Klassiker der europäischen Historiographie des 20. Jahrhunderts gilt.
Ein weiteres bedeutendes Buch von Huizinga ist Homo ludens. In diesem Werk begründete er eine kulturanthropologische Spieltheorie.
Daneben veröffentlichte er eine Geschichte der Universität Groningen im 19. Jahrhundert, Mensen en menigde in Amerika (1917) und Amerika levend en denkend (1926) zur Kultur und Geschichte der USA, eine Biographie des Erasmus von Rotterdam, eine Biographie des niederländischen Künstlers Jan Veth, eine Darstellung der niederländischen Kultur des "goldenen" 17. Jahrhunderts sowie die beiden Schriften Im Schatten von morgen (1935) und Geschändete Welt (posthum 1945), die sich kritisch mit gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Gegenwart beschäftigten. Zudem verfasste er kurz vor seinem Tode die kleine autobiografische Schrift Mein Weg zur Geschichte (postum 1947).
Neben seiner Professur hatte Huizinga zahlreiche sonstige Funktionen inne. Von 1915 bis 1932 war Huizinga Redakteur der Zeitschrift De Gids, einer der traditionsreichsten Kulturzeitschriften der Niederlande. 1916 wurde er Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Amsterdam und 1929 Vorsitzender der Geisteswissenschaftlichen Klasse. In den zwanziger Jahren war er niederländischer Gutachter des Laura Spelman Rockefeller Memorial der Rockefeller Foundation und bereiste in dieser Eigenschaft 1926 drei Monate lang amerikanische Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen. 1932/33 war er Rektor an der Universität Leiden. Die Universitäten Oxford und Tübingen verliehen Huizinga die Ehrendoktorwürde. 1933 wurde er Mitglied der Commission Internationale de Coopération Intellectuelle des Völkerbunds.
Werke (Auswahl)
- Léon Hanssen u.a. (Hrsg.): Briefwisseling (Briefwechsel). Edition Veen, Utrecht
- 1. - 1894-1924. 1989, ISBN 90-218-3693-9
- 2. - 1925-1933. 1990, ISBN 90-204-1991-9
- 3. - 1934-1945. 1991, ISBN 90-204-2036-4
- Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, Stuttgart: A. Kröner 1987, ISBN 3-520-82501-5
- Homo Ludens Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Originalausgabe: Amsterdam: Pantheon 1939. Aktuell erhältlich: Reinbek: Rowohlt 2004, ISBN 3-499-55435-6
- Verzamelde Werken (niederländische Werkausgabe). Tjeenk Willink, Haarlem
- 1. - Oud-Indië, Nederland. 1948
- 2. - Nederland. 1948
- 3. - Cultuurgeschiedenis I. 1949
- 4. - Cultuurgeschiedenis II. 1949
- 5. - Cultuurgeschiedenis III. 1950
- 6. - Biografie. 1950
- 7. - Geschiedwetenschap, Hedendaagsche Cultuur. 1950
- 8. - Universiteit, Wetenschap en Kunst. 1951
- 9. - Bibliografie en Register. 1953
- Im Bann der Geschichte. Betrachtungen und Gestaltungen. [Amsterdam]: Pantheon 1942.
- Wege der Kulturgeschichte. Studien. München: Drei Masken Verl. 1930.
Literatur
- Anton van der Lem: Johan Huizinga: leven en werk in beelden & documenten. Wereldbibliotheek, Amsterdam 1993, ISBN 90-284-1652-8
- Christoph Strupp: Johan Huizinga: Geschichtswissenschaft als Kulturgeschichte. Vandenhoeck & Rupprecht, Göttingen 2000, ISBN 3-525-36242-0
Weblinks
- Vorlage:PND
- Johan Huizinga. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL).
- http://cf.hum.uva.nl/~huizinga/opzet/index_ie.htm (Huizinga Instituut, Amsterdam, NL)
- Nachruf und Bibliographie, niederländ.
Personendaten | |
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NAME | Huizinga, Johan |
KURZBESCHREIBUNG | niederländischer Kulturhistoriker |
GEBURTSDATUM | 7. Dezember 1872 |
GEBURTSORT | Groningen, Niederlande |
STERBEDATUM | 1. Februar 1945 |
STERBEORT | bei Arnheim |