Jotamfabel

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Die Jotamfabel ist eine Fabel aus dem Buch der Richter des Tanach bzw. des christlichen Alten Testaments. Sie wird Jotam in den Mund gelegt, der sie auf dem Berg Garizim den Bewohnern von Sichem und Bet-Millo vorträgt. Die Fabel thematisiert die Legitimität des Königtums und ist ein klassisches Beispiel für einen biblischen Apolog.

Die Fabel[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Fabel lautet:

8 Einst machten sich die Bäume auf, um sich einen König zu salben, und sie sagten zum Ölbaum: Sei du unser König! 9 Der Ölbaum sagte zu ihnen: Soll ich mein Fett aufgeben, mit dem man Götter und Menschen ehrt, und hingehen, um über den anderen Bäumen zu schwanken?
10 Da sagten die Bäume zum Feigenbaum: Komm, sei du unser König! 11 Der Feigenbaum sagte zu ihnen: Soll ich meine Süßigkeit aufgeben und meine guten Früchte und hingehen, um über den anderen Bäumen zu schwanken?
12 Da sagten die Bäume zum Weinstock: Komm, sei du unser König! 13 Der Weinstock sagte zu ihnen: Soll ich meinen Most aufgeben, der Götter und Menschen erfreut, und hingehen, um über den anderen Bäumen zu schwanken?
14 Da sagten alle Bäume zum Dornenstrauch: Komm, sei du unser König! 15 Der Dornenstrauch sagte zu den Bäumen: Wollt ihr mich wirklich zu eurem König salben? Kommt, findet Schutz in meinem Schatten! Wenn aber nicht, dann soll vom Dornenstrauch Feuer ausgehen und die Zedern des Libanon fressen.“

Ri 9,8–15 EU

Dem Ölbaum, dem Feigenbaum und dem Weinstock wird angeboten, König zu werden, und alle drei lehnen nacheinander ab, sodass die Königswürde dem Dornenstrauch angetragen wird.

Charakteristisch für diese Fabel ist, dass sie auf eine theologische Argumentation oder ein göttlich legitimiertes Urteil verzichtet und vielmehr „profan“ argumentiert. JHWH kommt nicht vor, stattdessen werden – sehr ungewöhnlich im Alten Testament – „Götter und Menschen“ mehrfach in einem Atemzug genannt.

Einordnung in den Zusammenhang[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das neunte Kapitel des Richterbuchs beschreibt die Zeit, als Abimelech Richter von Israel war; davor hatte sein Vater Gideon (mit dem Beinamen „Jerubbaal“, Ri 6,32 EU) dieses Amt inne.

Abimelech gelang es, die Bevölkerung des Stadtstaates Sichem dazu zu bewegen, statt der Herrschaft von „siebzig Männern“ (Ri 9,2 EU) ihn als alleinigen Führer einzusetzen. Dazu gaben sie ihm siebzig Silberstücke aus der Tempelkasse des „Baal des Bundes“, des Stadtgottes von Sichem, womit Abimelech sich eine Söldnertruppe anheuerte. So überfiel er Ofra, den Herkunftsort seines Vaters Gideon/Jerubbaal, um die führende Familie, seine eigene Verwandtschaft, umzubringen. Daraufhin wurde er von den Bürgern von Sichem und Bet-Millo zum König gekrönt.

Einzig Jotam, der jüngste Sohn, überlebte den Mordzug Abimelechs an seiner Familie, da er sich versteckt hatte (Vers 5). Nachdem er von dessen Königskrönung erfährt, hielt er der Bevölkerung „auf dem Gipfel des Berges Garizim […] mit erhobener Stimme“ (Vers 7) eine Rede (Verse 8–20), die mit der Erzählung dieser Fabel beginnt. An diese schließt sich eine Mahnung an: Wenn es treu, redlich und dem Vater Jerubbaal und dem (ausgelöschten) Haus gebührend war, Abimelech zum König zu machen, so haben Volk und König aneinander Freude, andernfalls gehe vom Volk und von Abimelech Feuer aus, welches sie gegenseitig verzehre.

Im Anschluss an seine Rede flieht Jotam „vor seinem Bruder Abimelech nach Beer“ (Vers 21), um sich dort niederzulassen.

Nachdem Abimelech drei Jahre lang über Israel geherrscht hatte, „sandte Gott einen bösen Geist zwischen Abimelech und die Bürger von Sichem, sodass die Bürger von Sichem von Abimelech abfielen. Das Verbrechen an den siebzig Söhnen Jerubbaals [d. h. seinen siebzig Brüdern] sollte sich rächen; über ihren Bruder Abimelech, der sie umgebracht hatte, sollte die Strafe für das Blutvergießen kommen und ebenso über die Bürger von Sichem, die ihm tatkräftig bei der Ermordung seiner Brüder geholfen hatten“ (Vers 23f.): Es kommt zu einem Aufstand gegen Abimelech. Als Strafaktion zerstört er Sichem, die Stadt, die ihn zum König gemacht hatte; tausend Menschen seien dabei umgekommen (Vers 49).

In der nördlich von Sichem gelegenen Stadt Tebez, die er anschließend zu erobern versucht, kommt Abimelech um: Eine Frau wirft ihm von einer Burg aus einen Mühlstein auf den Kopf. „Da rief er seinen Waffenträger und sagte zu ihm: Schnell, zieh dein Schwert und töte mich! Man soll nicht von mir sagen: Eine Frau hat ihn umgebracht. Der junge Mann durchbohrte ihn und er starb“ (Vers 54). So scheiterte das Gewaltkönigtum Abimelechs an seiner eigenen Gewalt.

Deutung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In der kunstvoll gestalteten Fabel lassen sich zwei in der altorientalischen Königsideologie häufige Motive erkennen:

  • Der König ist Frucht- und Lebensbaum für sein Volk.
  • Der König schützt sein Volk und bietet ihm Schatten.

Die Pointe ist nun, dass keiner der drei Fruchtbäume die Königswürde übernehmen will, sondern ausgerechnet der Dornstrauch die Wahl annimmt und sich dabei als „Beschützer“ und „Schattenspender“ ausgibt.

Die klassische Deutung ist dementsprechend eine Kritik an der monarchischen Herrschaft: Das Königtum verspreche, was es nicht halten kann.

Wie stark die Kritik am Königswesen ist, ist allerdings umstritten. Viele Exegeten sehen in der Fabel eine sehr scharfe oder prinzipielle Ablehnung des Königtums, Martin Buber ging sogar so weit, sie als „stärkste antimonarchische Dichtung der Weltliteratur“[1] zu bezeichnen. Andere Deutungen gehen nicht so weit und meinen, die Fabel warne lediglich davor, für die Königswürde Ungeeignete mit dem Amt zu betrauen.

Ursprung und Entstehungsgeschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Da die Jotamfabel formgeschichtlich nur beschränkt in den dargestellten Textzusammenhang passt, gehen die meisten Exegeten von einem ursprünglich selbstständig überlieferten Stück aus, das erst später in den (ohnehin literarisch holzschnittartigen) Zusammenhang von Richter 9 eingeflochten wurde. Nach Rüdiger Bartelmus geht ihre Entstehung auf gebildete aristokratische Kreise aus der Zeit des Königs Jehu (ca. 841 – ca. 814 v. Chr.) zurück, die dem Königtum aufgrund ihrer negativen Erfahrungen, wie Unterdrückung und Ausbeutung, ablehnend gegenüberstanden.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Reinhard Müller: Königtum und Gottesherrschaft. Untersuchungen zur alttestamentlichen Monarchiekritik. Mohr Siebeck, 2004.
  • Hanna Liss: Die Fabel des Yotam in Ri 9,8-15: Versuch einer strukturellen Deutung, in: Biblische Notizen 89, 1997, 12–18.
  • Martin Mulzer: Jotam. In: Michaela Bauks, Klaus Koenen, Stefan Alkier (Hrsg.): Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex), Stuttgart 2006 ff.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Martin Buber: Königtum Gottes 1932, Seite 29; Heidelberg ³1956, Seite 24.