Lewis-Blutgruppensystem

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Das Lewis-Blutgruppensystem (ISBT 007, kurz: LE oder Lewis-System)[1][2][3] ist ein Blutgruppensystem, welches Ähnlichkeit zum AB0-System aufweist. Die Antigene kommen außer auf der Oberfläche der roten Blutkörperchen auch in Körperflüssigkeiten wie Speichel und Plasma vor. Die Hauptantigene sind Lea und Leb. In der Transfusionsmedizin sind schwere hämolytische Reaktionen äußerst selten.

Eigenschaften[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Schematische Darstellung der Epitope der Hauptantigene des Lewis-Blutgruppensystems (links: Lea, Leb) und – zum Vergleich – des ABO-Blutgruppensystems (rechts: H, A, B) sowie ihre Entstehung ausgehend von den Präkursoren. FUT = Fucosyltransferase, GTA = N-Acetyl-Galacosyltransferase A, GTB = Galactosyltransferase B, LE = Lewis-Gen, SE = Sekretor-Gen; H = H-Gen; ABO = ABO-Gen). Modifiziert nach Westhoff[4] und Cooling.[5]

Dem Lewis-System liegen zwei Gene aus dem Chromosom 19 zu Grunde: FUT3 („Lewis-Gen“) und FUT2 („Sekretor-Gen“). Beide Gene werden im glandulären Epithel exprimiert. FUT2 weist ein dominantes Allel auf, welches für ein funktionelles Enzym kodiert (Se) und ein rezessives Allel, welches kein funktionelles Enzym kodiert (se). Analog dazu hat FUT3 ein funktionelles, dominantes Allel (Le) und ein nicht-funktionales rezessives (le). Die hiervon kodierten Enzyme modifizieren Typ-1-Oligosaccharid-Ketten, wobei Lewis-Antigene entstehen. Diese Oligosaccharide sind ähnlich zu den Typ-2-Ketten des AB0-Systems; sie unterscheiden sich in der Strukturformel nur an einer Stelle. Die Verbindung zwischen der Lewis-Blutgruppe und der Sekretion von AB0-Antigenen war möglicherweise das erste Beispiel für multiple Effekte eines einzelnen menschlichen Gens.[6] Die Fucosyltransferase 2, welche für die Umwandlung des Lea-Antigens in das Leb-Antigen sorgt, ist gleichzeitig für die Präsenz von A-, B- und H-Antigenen des AB0-Systems in Körperflüssigkeiten verantwortlich.

Innerhalb des Lewis-Systems unterscheidet man zwei Haupttypen von Antigenen, das Lea und das Leb. Diese besitzen die sogenannten Lewis-Glykane als Epitop. Die drei häufigsten Phänotypen sind demnach Le(a+b-), Le(a-b+) und Le(a-b-).[7] Das Lea-Antigen entsteht hierbei durch die Addition eines Fucosylrests an bereits vorhandene Oligosaccharide durch die Fucosyltransferase 3. Individuen mit Le-Allel, welche homozygot für das nicht-funktionale se-Allel sind, exprimieren das Lea-Antigen in den Körperflüssigkeiten und auf den Erythrozyten. Ein Individuum mit sowohl dem Le- als auch dem Se-Allel hingegen besitzt in den exokrinen Zellen zusätzlich die Fucosyltransferase 2, welche in einer anderen Position Fucosylreste an die vorhandenen Oligosaccharide anbringt, wobei das Leb-Antigen entsteht. Bei den meisten solcher Individuen ist es schwer, das Lea-Antigen nachzuweisen, weil die Fucosyltransferase 2 effizienter wirkt als die Fucosyltransferase 3. Lewis-negative Individuen sind homozygot für das rezessive le-Allel und können sowohl Sekretoren sein als auch Nicht-Sekretoren. Obwohl die Lewis-Antigene auf roten Blutkörperchen zu finden sind (auch im Endothel, den Nieren sowie im Verdauungstrakt und Urogenitaltrakt) werden sie nicht von diesen produziert, sondern sind Bestandteil exokriner epithelischer Sekretion. Sie werden von den roten Blutkörperchen lediglich bevorzugt adsorbiert.[8][9][10][11]

Genotypen und Phänotypen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Übersicht über Geno- und Phänotypen[12][13]
Lewis-Genotyp
(FUT3)
Sekretor-Genotyp
(FUT2)
RBC-Phänotyp Sezernierte Antigene Häufigkeit
Europäer[Anm 1]
LeLe, Lele SeSe, Sese Le(a-b+) Leb >> Lea 72 %
LeLe, Lele SewSew, Sewse Le(a+b+) Lea, Leb selten
LeLe, Lele sese Le(a+b-) Lea 22 %
lele SeSe, Sese, sese Le(a-b-) 6 %
  1. Hingegen tritt in vielen Populationen Australasiens sowie einiger asiatischer Länder als Resultat einer schwachen Se-Enzymaktivitiät der Phänotyp Le(a+b+) mit einer Häufigkeit von 10 bis 40 % auf; im Gegenzug ist der Phänotyp Le(a-b+) deutlich seltener. Ursache ist eine Mutation im Se-Allel des FUT2-Gens (Sew).

Die drei oben genannten Lewis-Phänotypen repräsentieren das Vorhandensein oder Fehlen von Lewis- und Sekretor-Enzymen. Le(a+b-) Individuen haben mindestens ein funktionales Lewis-Gen (Le), sind aber homozygot für nicht-funktionale Sekretor-Allele (sese). Somit entsteht in diesen Individuen Lea-Antigen, aber es fehlen Leb und die A-, B- und H-Antigene der Typ-1-Ketten.

Le(a-b+) Individuen haben sowohl Le- als auch Se-Allele, sodass Lea und Leb als auch A-, B- und H-Antigene der Typ-1-Ketten entstehen. Die meisten Typ-1-Ketten Vorläufer werden dabei zu Leb umgewandelt, was zum Anschein führt, diese Individuen seien Lea-negativ.

Der Le(a+b+) Phänotyp wird in Säuglingen vorübergehend beobachtet, weil die Sekretor-Aktivität erst mit steigendem Alter einsetzt. Er tritt außerdem bei Japanern mit 16 % Häufigkeit auf, da sie ein schwächeres Sekretor-Gen (Se(w)) besitzen.

Wenn ein funktionales Lewis Gen fehlt (lele) werden weder Lea noch Leb gebildet, der Phänotyp ist Le(a-b-). Dieser Phänotyp tritt vor allem bei Individuen afrikanischer Abstammung auf.[14]

Oligosaccharid-Vorläufer im Lewis-System[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Es gibt zwei Oligosaccharid-Vorläufer, Typ 1 und Typ 2. Typ 1 wird in Sekreten und im Serum gefunden. Typ 2 hingegen kommt ausschließlich auf der Oberfläche von roten Blutkörperchen vor, wo Typ 1 nicht vorhanden ist. Beide werden als i-Antigene bezeichnet; verzweigte Typ-1- und Typ-2-Oligosaccharide als I-Antigene. In Neugeborenen herrschen i-Antigene vor. Verzweigung in den Oligosacchariden nimmt mit dem Alter zu, sodass Erwachsene fast ausschließlich I-Antigene aufweisen.[7]

Lewis-Antikörper[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Lewis-Antikörper kommen natürlich vor und sind fast immer vom IgM-Typ. Sie werden aber fast ausschließlich in Le(a-b-) Individuen beobachtet. Es können sowohl anti-Lea, anti-Leb als auch anti-Lea+ vorliegen.[14]

Transfusions-Praxis[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Interpretation einer Antikörper-Reihe zur Bestimmung von Antikörpern in Patienten gegen die meisten relevanten Blutgruppensysteme

Lewis-Antikörper sind fast immer klinisch insignifikant, weil die transfundierten roten Blutkörperchen ihre Lewis-Antigene schnell abgeben und den Lewis-Phänotyp des Empfängers annehmen. Etwaige Lewis-Antikörper im Empfänger adsorbieren die freie Lewis-Antigene im Serum.[7][14] In den meisten Fällen ist daher eine Transfusion Antigen-negativer Blutkomponenten nicht indiziert. Allgemein sind Lewis-Antikörper bei Raumtemperatur reaktiv und nur gelegentlich bei Körpertemperatur und AHG-Phase (Antihumanes Globulin). Wie unten weiter ausgeführt sind Lewis-Antikörper nicht die Ursache für pränatale und neonatale hämolytische Anämie.

Lewis-Antigene und -Antikörper bei Neugeborenen und Schwangeren[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Lewis-Antigene können in den ersten zwei Lebensjahren nicht sicher bestimmt werden. Bei Schwangeren sind die Lewis-Antikörper insignifikant, weil solche vom IgM-Typ die Plazenta nicht durchdringen können und auch die Lewis-Antigene während Schwangerschaften nur schwach exprimiert werden (Schwangere erscheinen meist als phänotypisch Le(a-b-), ebenso Neugeborene).[7][14] Man geht davon aus, dass dieser Umstand mit erhöhtem Plasma-Volumen und erhöhtem Lipoprotein-Anteil zusammenhängt.[10]

Assoziierte Krankheiten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Leb- und H-Antigene sind Rezeptoren für Bakterien der Art Helicobacter pylori, welches Gastritis auslösen können und mit Magengeschwüren, Gastrischem Adenokarzinom, Schleimhaut-assoziiertem Lymphom, sowie der idiopathischen thrombozytopenischen Purpura im Zusammenhang stehen.[14][15][16] Auch für das Norwalk-Virus, einem verbreiteten Auslöser akuter Gastroenteritis, sind sie Rezeptoren. Der Le(a-b-)-Phänotyp wiederum wird mit einer erhöhten Anfälligkeit für Candida- und uropathogenischen Escherichia coli-Infektionen assoziiert.[17][18][19] Bei Patienten mit pankreatischem Adenokarzinom, welche kein funktionales Lewis-Enzym besitzen (Le(a-b-)-Genotyp, 7–10 % der Bevölkerung) sind die Mengen des CA 19-9 typischerweise nicht feststellbar oder unter der Konzentration von 1,0 U/mL.[20]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. K. Kleesiek, C. Götting, J. Diekmann, J. Dreier, M. Schmidt: Lewis-(Le-)Blutgruppensystem. In: Lexikon der Medizinischen Laboratoriumsdiagnostik. Springer Berlin Heidelberg, Berlin, Heidelberg 2019, S. 1461–1462, doi:10.1007/978-3-662-48986-4_1866.
  2. Das Lewis (Le)-System. In: Transfusionsmedizin. Abgerufen am 7. November 2023 (deutsch).
  3. Lewis-Blutgruppensystem. In: Pschyrembel Online. Abgerufen am 7. November 2023 (deutsch).
  4. C. M. Westhoff, M. E. Reid: ABO and Related Antigens and Antibodies. In: Blood Banking and Transfusion Medicine (Hrsg.: C. D. Hillyer, L. E. Silberstein, P. M. Ness, K. C. Anderson, J. D. Roback), Elsevier Health Sciences, 2006. S. 69 ff.
  5. L. Cooling: Carbohydrate blood groups. In: Rossi's Principles of Transfusion Medicine (Hrsg.: T. L. Simon, E. A. Gehrie, J. McCullough, J. D. Roback, E. L. Snyder. John Wiley & Sons, 2022. S. 81 ff.
  6. GRUBB R: Correlation between Lewis blood group and secretor character in man. In: Nature. 162. Jahrgang, Nr. 4128, 1948, S. 933, doi:10.1038/162933a0, PMID 18104581, bibcode:1948Natur.162..933G.
  7. a b c d Mais DD. ASCP Quick Compendium of Clinical Pathology, 2nd Ed. Bethesda: ASCP Press, 2008.
  8. S. Marionneau, A. Cailleau-Thomas, J. Rocher, B. Le Moullac-Vaidye, N. Ruvoën, M. Clément, J. Le Pendu: ABH and Lewis histo-blood group antigens, a model for the meaning of oligosaccharide diversity in the face of a changing world. In: Biochimie. 83. Jahrgang, Nr. 7, 2001, S. 565–73, doi:10.1016/s0300-9084(01)01321-9, PMID 11522384.
  9. J. Holgersson, M. E. Breimer, B. E. Samuelsson: Basic biochemistry of cell surface carbohydrates and aspects of the tissue distribution of histo-blood group ABH and related glycosphingolipids. In: APMIS. 27. Jahrgang, 1992, S. 18–27, PMID 1520526.
  10. a b Issitt PD, Anstee DJ. Applied Blood Group Serology. 4th Ed. Durham, NC: Montgomery Scientific Publications, 1998.
  11. [edited by] Denise M. Harmening: Modern blood banking and transfusion practices. 5th Auflage. F.A. Davis, Philadelphia 2005, ISBN 978-0-8036-1248-8.
  12. M. E. Reid, C. Lomas-Francis, M. L. Olsson: The Blood Group Antigen FactsBook. Elsevier (Academic Press), 3rd Ed., 2012, S. 350.
  13. A.P. Dinh, E.J. Yoon: Blood Group Systems and Pretransfusion Testing. In: N. Rifai: Tietz Textbook of Laboratory Medicine - E-Book. 7th Ed., Elsevier, 2022. S. 1253.e3.
  14. a b c d e Roback JD et al. AABB Technical Manual, 16th Ed. Bethesda: AABB Press, 2008.
  15. T. Boren, P. Falk, K. A. Roth, G. Larson, S. Normark: Attachment of Helicobacter pylori to human gastric epithelium mediated by blood group antigens. In: Science. 262. Jahrgang, Nr. 5141, 1993, S. 1892–5, doi:10.1126/science.8018146, PMID 8018146, bibcode:1993Sci...262.1892B.
  16. M. Franchini, D. Veneri: Helicobacter pylori infection and immune thrombocytopenic purpura: An update. In: Helicobacter. 9. Jahrgang, Nr. 4, 2004, S. 342–6, doi:10.1111/j.1083-4389.2004.00238.x, PMID 15270749.
  17. A. M. Hutson, R. L. Atmar, D. M. Marcus, M. K. Estes: Norwalk virus-like particle hemagglutination by binding to h histo-blood group antigens. In: Journal of Virology. 77. Jahrgang, Nr. 1, 2003, S. 405–15, doi:10.1128/jvi.77.1.405-415.2003, PMID 12477845, PMC 140602 (freier Volltext).
  18. E. Hilton, V. Chandrasekaran, P. Rindos, H. D. Isenberg: Association of recurrent candidal vaginitis with inheritance of Lewis blood group antigens. In: The Journal of Infectious Diseases. 172. Jahrgang, Nr. 6, 1995, S. 1616–9, doi:10.1093/infdis/172.6.1616, PMID 7594730.
  19. A. Stapleton, E. Nudelman, H. Clausen, S. Hakomori, W. E. Stamm: Binding of uropathogenic Escherichia coli R45 to glycolipids extracted from vaginal epithelial cells is dependent on histo-blood group secretor status. In: The Journal of Clinical Investigation. 90. Jahrgang, Nr. 3, 1992, S. 965–72, doi:10.1172/JCI115973, PMID 1522244, PMC 329952 (freier Volltext).
  20. M. Ducreux, A. Sa. Cuhna, C. Caramella, A. Hollebecque, P. Burtin, D. Goéré, T. Seufferlein, K. Haustermans, J.L. Van Laethem, T. Conroy, D. Arnold: Cancer of the pancreas: ESMO Clinical Practice Guidelines for diagnosis, treatment and follow-up. In: Annals of Oncology. 26. Jahrgang, September 2015, S. v56–v68, doi:10.1093/annonc/mdv295, PMID 26314780.