Mütter des Grundgesetzes


Als Mütter des Grundgesetzes werden die vier weiblichen Mitglieder des Parlamentarischen Rates bezeichnet, die 1948/49 an der Ausarbeitung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beteiligt waren: Elisabeth Selbert, Friederike Nadig, Helene Weber und Helene Wessel. Sie setzten sich insbesondere für die Verankerung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern im Grundgesetz ein.
Mit der Verabschiedung des Grundgesetzes im Mai 1949 trat ein für die Frauen in Deutschland besonders bedeutsamer Verfassungsartikel in Kraft: Artikel 3 Absatz 2, der die Gleichberechtigung von Frauen und Männern festlegte. Die Formulierung war das Ergebnis intensiver politischer Auseinandersetzungen und wurde maßgeblich durch das Engagement dieser vier Frauen ermöglicht.
Unter den 65 Mitgliedern des Parlamentarischen Rates, der ab September 1948 das Grundgesetz erarbeitete, waren sie die einzigen weiblichen Mitglieder.
Historischer Hintergrund
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die rechtliche Gleichstellung von Männern und Frauen im Grundgesetz knüpft an frühere Verfassungsentwicklungen an. Bereits die Weimarer Reichsverfassung von 1919 enthielt in Artikel 109 die Formulierung, dass Männer und Frauen „grundsätzlich“ dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten hätten. Artikel 119 stellte zudem klar, dass die Ehe auf der Gleichberechtigung der Geschlechter beruhen solle. Beide Regelungen blieben jedoch eher programmatischer Natur und begründeten kein einklagbares individuelles Grundrecht.[1]
Die Entstehung des Grundgesetzes erfolgte im Auftrag der westlichen Alliierten, die nach dem Zweiten Weltkrieg eine demokratische Neuordnung Westdeutschlands forderten. Ein erstes Vorbereitungstreffen zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung fand vom 10. bis 25. August 1948 auf Herrenchiemsee statt, ohne Beteiligung von Frauen. Ein Entwurf des Verfassungskonvents vom 23. August 1948, enthielt inhaltlich keine Bezüge zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Lediglich ein Vorschlag zum allgemeinen Gleichheitssatz war darin zu finden.[2]
Die Forderung nach Gleichberechtigung im Grundgesetz stand im Zusammenhang mit einem breiten gesellschaftlichen und politischen Diskurs über die Rolle der Frau in der Nachkriegsgesellschaft und den entstehenden deutschen Verfassungen. Neue Forschungen (2024) belegen, dass die Formulierung von (Art. 3 Abs. 2) im direkten Zusammenhang mit dem Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD) in der sowjetischen Besatzungszone stehen. Der DFD hatte im Verfassungsentwurf der SED für die spätere DDR einen Artikel eingebracht, in dem es hieß: „Mann und Frau sind gleichberechtigt. Alle Gesetze und Bestimmungen, die der Gleichberechtigung der Frau entgegenstehen, sind aufgehoben.“
Durch die enge Vernetzung führender Frauen in der Nachkriegspolitik, war Herta Gotthelf, Frauensekretärin im SPD-Parteivorstand, mit der Formulierung vertraut. Sie unterhielt enge Kontakte, unter anderem zur Vorsitzenden der DFD-Verfassungskommission, Käthe Kern, mit der sie bereits seit den 1920er-Jahren in der SPD-Frauenpolitik zusammenarbeitete. Auf Initiative Gotthelfs wurde der Gleichberechtigungssatz in den Verfassungsentwurf der SPD aufgenommen. Elisabeth Selbert übernahm diese nahezu wortgleich: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ und brachte sie erfolgreich in den Parlamentarischen Rat ein.[3]
Etablierung der Gleichberechtigung im Grundgesetz
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Parlamentarische Rat wurde am 1. September 1948 in Bonn einberufen, um die konkrete Ausgestaltung des Grundgesetzes für die westlichen Besatzungszonen Deutschlands zu erarbeiten. Im Parlamentarischen Rat, dem verfassungsgebenden Gremium mit insgesamt 70 Mitgliedern (65 aus den westlichen Besatzungszonen, 5 aus Berlin), waren nur vier Frauen vertreten. Diese waren: Elisabeth Selbert (SPD), Frieda Nadig (SPD), Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrumspartei), die sich auf unterschiedliche Art für die verfassungsrechtliche Verankerung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern einsetzten.[4]
Parlamentarischer Rat
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Herrenchiemseer Entwurf, der dem Parlamentarischen Rat als Grundlage diente, übernahm in Fragen der Geschlechtergleichheit weitgehend die Formulierungen der Weimarer Verfassung.[1]
Zentrale Rolle der Elisabeth Selbert
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Elisabeth Selberts Wirken war entscheidend für die Verankerung der Gleichberechtigung von Frauen. Selbert war überzeugt, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter über bloße staatsbürgerliche Fragen hinausgehen müsse. Aus ihren Erfahrungen als Anwältin im Familien-, Ehe- und Arbeitsrecht wusste sie um die Benachteiligung von Frauen im Privatrecht. Sie schlug daher die klare und bis heute gültige Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ vor. Damit sollte der Gesetzgeber verpflichtet werden, die rechtliche Gleichstellung umfassend umzusetzen.[1]
Das Anliegen, die Gleichberechtigung der Frauen zu erwirken, galt für sie als eine Selbstverständlichkeit: „Obwohl mein ureigenstes Gebiet auf dem Kapitel der Rechtspflege lag und ich da schon sehr genaue Vorstellungen hatte, wie ich versuchen wollte, meine Gedanken durchzubringen, wurde ich aber dann plötzlich abgelenkt, als ich merkte, daß die Gleichberechtigung der Frauen keineswegs für alle Abgeordneten eine Selbstverständlichkeit war. Ich hatte es nach zwei Weltkriegen, also nach den Erfahrungen, die wir Frauen in diesen Jahrzehnten gemacht haben, für selbstverständlich gehalten, daß die Gleichberechtigung ohne Kampf über die politische Bühne gehen würde. Ein Irrtum, wie sich herausstellen sollte.“[5]
Kontroversen und Öffentlicher Druck
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Selberts Vorschlag stieß zunächst auf erheblichen Widerstand. Selbst die übrigen weiblichen Mitglieder des Parlamentarischen Rates äußerten Vorbehalte, da sie befürchteten, die Einführung eines uneingeschränkten Gleichberechtigungsgrundsatzes könne zu einem rechtlichen Vakuum führen, insbesondere im Familienrecht. Um diese Bedenken abzufedern, entwarf Selbert gemeinsam mit Wiltraut Rupp-von Brünneck, der späteren Richterin am Bundesverfassungsgericht, die Übergangsbestimmung des Artikels 117 Absatz 1 Grundgesetz. Diese legte fest, dass dem Gleichberechtigungsgrundsatz widersprechendes Recht noch bis zum 31. März 1953 in Kraft bleiben durfte, um eine schrittweise Anpassung zu ermöglichen.
Nachdem ihre Anträge im Parlamentarischen Rat wiederholt abgelehnt worden waren, wandte sich Selbert an die Öffentlichkeit. Sie rief Frauenverbände, Gewerkschaften und Bürgerinnen auf, für die Aufnahme des Gleichberechtigungsgrundsatzes zu protestieren. Die Auswirkungen der Aktion waren groß, es trafen zahlreiche Eingaben und Petitionen beim Parlamentarischen Rat ein, die als „Waschkörbe voller Briefe“ sprichwörtlich wurden. Dieser Druck führte schließlich zum Umdenken.[1]
Annahme im Parlamentarischen Rat
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Am 18. Januar 1949 wurde die Formulierung in zweiter Lesung einstimmig angenommen. Mit der Verabschiedung des Grundgesetzes am 8. Mai 1949 und seinem Inkrafttreten am 24. Mai 1949 erhielt die Gleichberechtigung von Männern und Frauen den Rang eines einklagbaren Grundrechts.
Die verfassungsrechtliche Innovation war jedoch nicht unumstritten. In den Folgejahren diskutierte die Rechtswissenschaft intensiv, ob Artikel 3 Absatz 2 überhaupt über Artikel 3 Absatz 1 hinausgehenden Gehalt habe. Teilweise wurde die Norm als bloßer Programmsatz oder als „leere Formel“ kritisiert. Auch das Bundesverfassungsgericht setzte sich früh mit dieser Frage auseinander, etwa im Urteil vom 18. Dezember 1953 (BVerfGE 3, 239). Eine entscheidende Weiterentwicklung erfuhr Artikel 3 Absatz 2 im Jahr 1994. Damals wurde ein zweiter Satz eingefügt: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Damit erhielt die Vorschrift eine aktive staatliche Förderpflicht, die über die bloße formale Gleichstellung hinausgeht und strukturelle Benachteiligungen abbauen soll.[1]
Übersicht
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Elisabeth Selbert und Friederike „Frieda“ Nadig (beide SPD) setzten gegen anfangs heftigen Widerstand, auch aus eigenen Reihen, die Aufnahme des Artikel 3 Abs. 2 „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ in das bundesdeutsche Grundgesetz durch.
Helene Weber (CDU), die älteste der vier Frauen, hatte bereits an der Weimarer Verfassung mitgewirkt und war im Parlamentarischen Rat als Schriftführerin Mitglied des Präsidiums. Sie war von 1919 bis 1933 fast ununterbrochen und nach der Zeit des Nationalsozialismus wieder ab 1946 Parlamentsabgeordnete und reorganisierte nach 1945 die katholische Frauenbewegung.
Helene Wessel war seit 1946 stellvertretende Vorsitzende der Zentrumspartei. Durch ihre Wahl zur Vorsitzenden im Jahr 1949 wurde sie die erste Frau an der Spitze einer Partei in Deutschland sowie die erste weibliche Fraktionsvorsitzende. Bei der Schlussabstimmung vom 8. Mai 1949 lehnte sie das Grundgesetz wegen einer unzureichenden Berücksichtigung christlicher Wertvorstellungen und des Fehlens sozialstaatlicher Grundrechte ab.
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Carmen Sitter: Die Rolle der vier Frauen im Parlamentarischen Rat: Die vergessenen Mütter des Grundgesetzes. Lit, Münster 1995, ISBN 3-825-82545-0.
- Cathleen Kiefert: „Ohne Frauen ist kein Staat zu machen.“ – Die Geschichte der Frauen und Frauenbewegung in Deutschland nach 1945. In: Die Frauenorganisationen in den deutschen Parteien. Politik ist eine viel zu ernste Sache, als dass man sie allein den Männern überlassen könnte. Nomos, Baden-Baden, 2011, ISBN 978-3-8329-5909-8. S. 39–44
- Frauke Geyken: Helene Weber (1881, Elberfeld-1962, Bonn) : konservative Politikerin und eine der Mütter des Grundgesetzes. In: Damenwahl!: 100 Jahre Frauenwahlrecht. Societäts-Verlag, 2018, ISBN 978-3-95542-306-3. S. 176–177
- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Referat Öffentlichkeitsarbeit: Mütter des Grundgesetzes. 1. Auflage, 2024 Online einsehbar als PDF
- Miriam Gebhardt: Die kurze Stunde der Frauen. Zwischen Aufbruch und Ernüchterung in der Nachkriegszeit. Verlag Herder, 2024, ISBN 978-3-451-39938-1.
- Carmen Leicht-Scholten: Das Recht auf Gleichberechtigung im Grundgesetz. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von 1949 bis heute. Campus Forschung, 2024, ISBN 978-3-59336-475-9.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Der Parlamentarische Rat: Die Mütter des Grundgesetzes, historische Aufnahmen von Erna Wagner-Hehmke, Stiftung Haus der Geschichte
- Gerda Kuhn: Die Mütter des Grundgesetzes - Männer und Frauen sind gleichberechtigt. In: Podcast Radiowissen. Bayern 2, 2022
- Ein Glücksfall für die Demokratie – Die vier Mütter des Grundgesetzes Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, 2009 (PDF; 388 kB)
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ a b c d e Ulrike Schultz: Ein Quasi-Stürmlein und Waschkörbe voller Eingaben: Die Geschichte von Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz. In: Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie NRW (Hrsg.): Frauen und Recht. Reader für die Aktionswochen der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten 2003. 2003, S. 54–60.
- ↑ Marion Eckertz-Höfer: Vom Umgang der Rechtspflege mit dem Grundgesetz. Gleichberechtigung der Frauen? In: Martin Pfeiffer (Hrsg.): Auftrag Grundgesetz. Wirklichkeit und Perspektiven. 1989, ISBN 978-3-7918-2387-4, S. 97–125.
- ↑ Bundeszentrale für politische Bildung: (Die) Mütter der Gleichberechtigung in der DDR. In: bpb.de. 7. März 2024, abgerufen am 7. August 2025.
- ↑ Cathleen Kiefert: „Ohne Frauen ist kein Staat zu machen.“ – Die Geschichte der Frauen und Frauenbewegung in Deutschland nach 1945. In: Die Frauenorganisationen in den deutschen Parteien. Politik ist eine viel zu ernste Sache, als dass man sie allein den Männern überlassen könnte. Nomos, 2011, ISBN 978-3-8329-5909-8, S. 39–44.
- ↑ Cathleen Kiefert: „Ohne Frauen ist kein Staat zu machen.“ – Die Geschichte der Frauen und Frauenbewegung in Deutschland nach 1945. In: Die Frauenorganisationen in den deutschen Parteien. Politik ist eine viel zu ernste Sache, als dass man sie allein den Männern überlassen könnte. 2011, ISBN 978-3-8329-5909-8, S. 41.
