Erasistratos

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Erasistratos (altgriechisch Ἐρασίστρατος Erasístratos; * um 305 v. Chr. in Iulis, heute die Altstadt von Ioulis, auf Keos; † um 250 v. Chr.) war ein griechischer Arzt und Naturforscher, Anatom, Chirurg und Physiologe. Erasistratos von Keos gilt mit Herophilos von Chalkedon und Eudemos von Alexandria als Hauptvertreter der alexandrinischen Schule und zusammen mit Herophilos und Galenos als wichtigster beschreibender Anatom der Antike.

Seine genauen Lebensdaten sind nicht bekannt. Erasistratos wurde in Iulis auf der Ägäis-Insel Keos (heute Kea) als Sohn des Kleombrotos, dem Leibarzt des Diadochenfürsten Seleukos I., und der Kretoxene geboren. Neben seinem Vater und seinem Onkel Medios war auch sein Bruder Kleophantos Arzt. Er studierte Medizin in Athen, wo Metrodoros, ein Schwiegersohn des Aristoteles, sein Lehrer gewesen sein soll. Um 280 v. Chr. ging er nach Kos, der Geburtsinsel des Hippokrates, und setzte seine anatomischen und chirurgischen Studien bei Praxagoras fort. Der Arzt Chrysippos von Knidos (um 300 v. Chr.), ein Führer der knidischen Richtung mit Verwerfung von Aderlass und übertriebenen Abführkuren,[1] soll ebenfalls Lehrer von Erasistratos gewesen sein. Erasistrotas ließ sich wohl erst in höherem Lebensalter in Alexandria nieder, wo damals unter den frühen Ptolemäern (Ptolemaios I. und Ptolemaios II.)[2] eine sehr wissenschaftsfreundliche Stimmung herrschte, nieder. Dort konnte er umfangreiche Sektionen am Menschen durchführen. Daneben sezierte er auch Tiere. Ob er tatsächlich, wie ihm später vorgeworfen wurde, zum Tode verurteilte Verbrecher lebend seziert hat (Vivisektion), ist umstritten.

Erasistratos untersuchte vor allem Nerven- und Kreislaufsystem. Zu seinen Erkenntnissen gehört, wie schon von Herophilos erkannt, die Unterscheidung sensibler und motorischer Nerven, und entgegen der vorherrschenden Meinung hielt er diese nicht für hohl, sondern für spiritus animalis enthaltende und mit dem Gehirn als Sitz der Empfindungen verbundene Leitungsbahnen.[3] Er lieferte auch recht genaue Schilderungen der Anatomie des Gehirns mit Unterscheidung von Groß- und Kleinhirn und Beschreibungen der Hirnwindungen (Gyri) und erkannte, dass alle Nerven letztlich vom Gehirn ausgehen. Auch verfasste er eine gründliche Schilderung des paarigen Sehnerven.[4] Seine zutreffenden neurophysiologischen Beobachtungen, beispielsweise die Rolle des Kleinhirns für die Bewegungskoordination, lassen vermuten, dass er zumindest an Tieren tatsächlich Vivisektionen durchgeführt hat. Des Weiteren unterschied er den kleinen (Lungen-) vom großen (Körper-)Kreislauf und beschrieb die Herzklappen, die Luftröhre und die Bauchspeicheldrüse.

Von den Aufzeichnungen des in seinen theoretischen Vorstellungen von den Lehren der Atomisten beeinflussten[5] Erasistratos sind durch die Zitierungen von Galen, Oreibasios und anderen Autoren nur Fragmente[6] erhalten, die Originale gingen wohl beim ersten (48 v. Chr.) oder zweiten (391) Brand der Bibliothek von Alexandria unwiederbringlich verloren.

Eine Schule der Erasistrateer, die Positionen der Herophileer bekämpften,[7] bestand in Rom bis in das 2. Jahrhundert nach Christus.[8]

Erasistratos erkennt den Grund von Antiochus’ Leiden. Gemälde von Jacques-Louis David 1774

Eine durch Appian und Plutarch überlieferte Legende erzählt, dass Antiochos I., der Sohn des syrischen Königs Seleukos I. Nikator, schwer erkrankt war und sein Vater, weil alle anderen Ärzte keinen Rat wussten, Erasistratos herbeiholen ließ. Als dieser Antiochus untersuchte, betrat die junge Gattin des Königs, Stratonike I., das Gemach und Erasistratos erkannte (nachdem er auch alle anderen Hofdamen nacheinander hatte vorbeigehen lassen), aus dem beschleunigten Puls seines Patienten, dass kein körperliches Leiden, sondern die Liebe zur unerreichbaren Stiefmutter der Krankheit zugrunde lag, und er brachte damit den König Seleukos dazu, Stratonike dem Prinzen Antiochus zu Frau zu geben.[9] Wenngleich Erasistratos damals nicht der seleukidische Leibarzt gewesen sein kann (Antiochos heiratete Stratonike 293 v. Chr.), so verdeutlicht dies doch seinen Stellenwert in der antiken Medizingeschichte.

Die Entstehung und Verbreitung der Geschichte könnte auf die mittlere oder späte Phase des Seleukidenreiches zurückgehen, als die Herrscherdynastie von zahlreichen jahrzehntelangen Familienkonflikten geprägt war und der Dynastiegründer Seleukos I. umso mehr als leuchtendes Vorbild an Eintracht und Verantwortungsbewusstsein erscheinen konnte.[10] Eine Variante dieser Anekdote wird auch in den Vier Abhandlungen des Niẓāmī ʿArūḍī (um 1100/1160) erzählt, worin Avicenna (980–1037), der Verfasser des Kanon der Medizin, als Arzt auftritt.[11]

Einzelnachweise

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  1. Paul Diepgen, Heinz Goerke: Aschoff/Diepgen/Goerke: Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin. 7., neubearbeitete Auflage. Springer, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960, S. 8.
  2. Jutta Kollesch, Diethard Nickel: Antike Heilkunst. Ausgewählte Texte aus dem medizinischen Schrifttum der Griechen und Römer. Philipp Reclam jun., Leipzig 1979 (= Reclams Universal-Bibliothek. Band 771); 6. Auflage ebenda 1989, ISBN 3-379-00411-1, S. 21, 28 und 174, Anm. 12.
  3. Urs Boschung: Sensibilität. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin / New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1321.
  4. Carl Hans Sasse: Geschichte der Augenheilkunde in kurzer Zusammenfassung mit mehreren Abbildung und einer Geschichtstabelle (= Bücherei des Augenarztes. Heft 18). Ferdinand Enke, Stuttgart 1947, S. 56.
  5. Jutta Kollesch, Diethard Nickel: Antike Heilkunst. Ausgewählte Texte aus dem medizinischen Schrifttum der Griechen und Römer. 1989, S. 174 f., Anm. 14.
  6. Ivan Garofalo (Hrsg.): Erasistrato, I frammenti. Pisa 1988.
  7. Paul Diepgen, Heinz Goerke: Aschoff/Diepgen/Goerke: Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin. 7., neubearbeitete Auflage. Springer, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960, S. 9.
  8. Karl-Heinz Leven: Erasistratos. In: Wolfgang U. Eckart und Christoph Gradmann (Hgg.): Ärztelexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert. 1. Aufl., C. H. Beck, München 1995, 2. Aufl. Springer Heidelberg, Berlin et al. 2001, 3. Aufl. Springer Heidelberg, Berlin et al. 2006, S. 108+109, Print und Online-Version (ISBN 978-3-540-29584-6 bzw. ISBN 978-3-540-29585-3).
  9. Appian, Syriake 59–61; Plutarch, Demetrius 38
  10. Thomas Fischer: Nochmals zum liebeskranken Königssohn. Ein Aspekt hellenistischer Politik und Wirkungsgeschichte. In: Gerhard Binder, Bernd Effe (Hrsg.): Liebe und Leidenschaft. Historische Aspekte von Erotik und Sexualität (= Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium. Band 12). Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier 1993, ISBN 3-88476-034-3, S. 123–144.
  11. Gotthard Strohmaier: Avicenna. Beck, München 1999, ISBN 3-406-41946-1, S. 122 f.