„Mordfall Jessica“ – Versionsunterschied

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== Rolle der Behörden ==
== Rolle der Behörden ==
[[Datei:Pincerno - Jessica 7.JPG|miniatur|Schule ''Oppelner Straße'']]
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Ab März 2005 gerieten mehrere Hamburger Behörden in die Kritik. Die Vorwürfe richteten sich in erster Linie gegen die von [[Alexandra Dinges-Dierig]] geleitete [[Behörde für Schule und Berufsbildung|Behörde für Bildung und Sport]], die als Fachbehörde für Schulangelegenheiten zuständig war, sowie gegen das organisatorisch zum [[Bezirk Wandsbek|Bezirksamt Wandsbek]] gehörende Jugendamt. Ihnen wurde vorgeworfen, die Vernachlässigung der siebenjährigen Jessica nicht früher erkannt zu haben. Es war zwar ein [[Bußgeldverfahren]] gegen die Eltern eingeleitet worden, weil sie ihre Tochter nicht zur Schule angemeldet hatten, aber nachdem das Kind zur [[Einschulung]] nicht erschienen war, waren weitere Maßnahmen unterblieben. Der Senat räumte Fehler der Behörde ein.<ref>Artikel [https://www.spiegel.de/panorama/0,1518,345379,00.html ''Senat räumt Behördenfehler ein'']. In: Spiegel Online vom 8. März 2005.</ref>
Ab März 2005 gerieten Schulbehörde und Jugendämter in die Kritik, weil ihnen die Vernachlässigung der siebenjährigen Jessica schon früher hätte auffallen müssen. Es war zwar ein [[Bußgeldverfahren]] gegen die Eltern eingeleitet worden, weil sie ihre Tochter nicht zur Schule angemeldet hatten, aber nachdem das Kind zur [[Einschulung]] nicht erschienen war, waren weitere Maßnahmen unterblieben. Der Senat räumte Fehler der Behörde ein.<ref>Artikel [https://www.spiegel.de/panorama/0,1518,345379,00.html ''Senat räumt Behördenfehler ein'']. In: Spiegel Online vom 8. März 2005.</ref>


Jessica war am 1. August 2004 [[schulpflicht]]ig geworden. Der Schulleiter der Schule ''Oppelner Straße'' hatte Jessicas Eltern im Dezember 2003 angeschrieben und sie aufgefordert, Jessica anzumelden. Die Eltern reagierten nicht, auch nicht auf einen zweiten und dritten Brief im März 2004. Daraufhin meldete der Schulleiter das Fernbleiben des Kindes im April 2004 der Regionalen Beratungs- und Unterstützungsstelle der Hamburger Schulbehörde (Rebus). Die Rebus bemühte sich vergeblich, Jessicas Eltern zu erreichen. Dazu wurde sie dreimal an der Wohnung der Familie vorstellig, ohne dass die Eltern öffneten. Die drei im Briefkasten der Familie hinterlegten Briefe beantworteten die Eltern nicht. Nachbarn konnten auf Nachfrage des Rebus-Mitarbeiters keine Auskunft über Jessica geben, weil sie sie nicht kannten. Die Schulbehörde verhängte schließlich ein Bußgeld in Höhe von 60 Euro wegen einer Schulpflichtverletzung. Die Eltern reagierten auch auf die Bußgeldforderung und zwei folgende Mahnungen nicht; danach stellte die Rebus alle weiteren Bemühungen bezüglich des Kindes ein. Zu einer [[Zwangsvollstreckung]] der Bußgeldforderung kam es ebenfalls nicht. Die Rebus informierte auch das zuständige Jugendamt nicht, da sie davon ausging, dass die Familie fortgezogen war.<ref name="Welt02032005"/><ref name="Spiegel07032005"/>
Jessica war am 1. August 2004 [[schulpflicht]]ig geworden. Der Schulleiter der Schule ''Oppelner Straße'' hatte Jessicas Eltern im Dezember 2003 angeschrieben und sie aufgefordert, Jessica anzumelden. Die Eltern reagierten nicht, auch nicht auf einen zweiten und dritten Brief im März 2004. Daraufhin meldete der Schulleiter das Fernbleiben des Kindes im April 2004 der Regionalen Beratungs- und Unterstützungsstelle der Hamburger Schulbehörde (Rebus). Die Rebus bemühte sich vergeblich, Jessicas Eltern zu erreichen. Dazu wurde sie dreimal an der Wohnung der Familie vorstellig, ohne dass die Eltern öffneten. Die drei im Briefkasten der Familie hinterlegten Briefe beantworteten die Eltern nicht. Nachbarn konnten auf Nachfrage des Rebus-Mitarbeiters keine Auskunft über Jessica geben, weil sie sie nicht kannten. Die Schulbehörde verhängte schließlich ein Bußgeld in Höhe von 60 Euro wegen einer Schulpflichtverletzung. Die Eltern reagierten auch auf die Bußgeldforderung und zwei folgende Mahnungen nicht; danach stellte die Rebus alle weiteren Bemühungen ein. Zu einer dritten Mahnung – nach der eine [[Zwangsvollstreckung]] möglich gewesen wäre, ggf. mit [[Amtshilfe]] durch die Polizei – kam es nicht mehr. Die Rebus informierte auch das zuständige Jugendamt nicht, da sie davon ausging, dass die Familie fortgezogen war.<ref name="Welt02032005"/><ref name="Spiegel07032005"/>

Rückblickend wiesen mehrere Beobachter auf die strukturellen Schwierigkeiten der Hamburger Sozialbehörden hin: Während das Sozialnetz der Hansestadt in den 1980er und 1990er deutschlandweit als gut entwickelt und sehr liberal galt, setzte Ende der 1990er Jahre ein Umschwung in der Politik der [[Senat Runde|rot-grünen Regierung]] ein. Anlass waren gestiegene Kosten durch zahlreiche, im Lauf der Jahre geschaffene Ansprüche der Bürger. Ambulante Hilfen wie etwa Familienbesuche wurden dabei zugunsten der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) zurückgefahren, die den Schwerpunkt auf flächendeckende, niederschwellige Angebote legt. Auch der Kontroll- und Sanktionsdiskurs verschärfte sich in Hamburg um diesen Zeitpunkt herum, nachdem im sogenannten [[Dabelstein-Mord]] ein Mann von zwei bereits vorher auffällig gewordenen Jugendlichen erschlagen worden war. Sie waren statt in U-Haft in einer offenen Einrichtung untergebracht. Die Folgeregierung unter [[Ole von Beust]] ([[Christlich Demokratische Union Deutschlands|CDU]]) und [[Ronald Schill]] ([[Partei Rechtsstaatlicher Offensive|PRO]]) setzte diesen eingeschlagenen Kurs fort. Zwar standen vor allem jugendliche Straftäter im Mittelpunkt der Sozial- und Sicherheitspolitik. Dennoch zeichnete sich auch im Bereich der Familienbetreuung eine weitere Verschiebung von ambulanten und einzelfallbezogenen Einrichtungen hin zu stationären, flächendeckenden, aber auch repressiveren Institutionen ab. Dazu gehörte beispielsweise die Wiedereinführung geschlossener Heime sowie die informationelle Verschaltung und koordinierte Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Polizei. Als problematisch stellte sich im Rückblick heraus, dass es zwar möglich wurde, Kinder ihren Eltern zu entziehen und sie in geschlossene Einrichtungen zu überstellen, der Fokus aber vornehmlich auf Jugendkriminalität lag und Verwahrlosung von Kleinkindern als Thema weitgehend unbeachtet blieb. Gleichzeitig waren vor allem die repressiven Maßnahmen sehr kostenintensiv, was zu Lasten der präventiven Bereiche in der Jugendarbeit – darunter auch Hausbesuche – ging.<ref name="lutz2010-112-119">Tilman Lutz: ''Soziale Arbeit im Kontrolldiskurs. Jugendhilfe und ihre Akteure in postwohlfahrtstaatlichen Gesellschaften.'' VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010. ISBN 978-3-531-17137-1, S. 112–119.</ref>


== Ermittlungen und Anklage ==
== Ermittlungen und Anklage ==
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Der Verteidiger der Mutter gab an, das Urteil werde ihr nicht gerecht.<ref name="Bz26112005">Artikel [http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2005/1126/seite3/0004/index.html ''Eine Tat wie diese macht ratlos'']. In: Berliner Zeitung vom 26. November 2005.</ref> Er legte daraufhin [[Revision (Recht)|Revision]] beim [[Bundesgerichtshof]] ein, der die Revision jedoch am 10. Oktober 2006 verwarf, weil die „Nachprüfung weder einen Verfahrensfehler noch einen Urteilsfehler“ zum Nachteil der Angeklagten ergeben habe.<ref>Pressemitteilung des BGH [http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=pm&Datum=2006&Seite=1&nr=37669&pos=39&anz=179 139/2006] vom 17. Oktober 2006.</ref> Damit war auch das Urteil gegen die Mutter rechtskräftig geworden.<ref name="Focus17102006"/>
Der Verteidiger der Mutter gab an, das Urteil werde ihr nicht gerecht.<ref name="Bz26112005">Artikel [http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2005/1126/seite3/0004/index.html ''Eine Tat wie diese macht ratlos'']. In: Berliner Zeitung vom 26. November 2005.</ref> Er legte daraufhin [[Revision (Recht)|Revision]] beim [[Bundesgerichtshof]] ein, der die Revision jedoch am 10. Oktober 2006 verwarf, weil die „Nachprüfung weder einen Verfahrensfehler noch einen Urteilsfehler“ zum Nachteil der Angeklagten ergeben habe.<ref>Pressemitteilung des BGH [http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=pm&Datum=2006&Seite=1&nr=37669&pos=39&anz=179 139/2006] vom 17. Oktober 2006.</ref> Damit war auch das Urteil gegen die Mutter rechtskräftig geworden.<ref name="Focus17102006"/>


== Nachwirkung und gesellschaftliche Debatte ==
== Aufarbeitung in Parlament und Verwaltung ==
Der Fall Jessica löste in der deutschen Gesellschaft eine intensive und emotional geführte Debatte über den Umgang mit potentiell von Verwahrlosung gefährdeten Kindern und die Rolle der Jungendämter aus. Dabei spielte insbesondere die Frage eine Rolle, ob die Rechte von Eltern zugunsten von mehr staatlicher Aufsicht beschnitten werden sollte und welche Stellung dem Staat insgesamt bei der Erziehung von Kindern zukommt.
Die [[Hamburgische Bürgerschaft]] reagierte im April 2005 mit der Einsetzung des Sonderausschusses „Vernachlässigte Kinder“, der von Mai 2005 bis Januar 2006 tagte. Mitarbeiter des Kinder- und Jugendnotdienstes berichteten dem Ausschuss, dass 2004 der Behörde 364 Fälle von Vernachlässigung gemeldet worden seien, während es 2003 noch 251 Fälle gewesen seien. Auch die Zahl der gemeldeten Kindesmisshandlungen sei in diesem Zeitraum von 287 auf 301 Fälle gestiegen.<ref name="Faz24082005"/> Es berieten Behördenvertreter, Sozialarbeiter, Ärzte, Hebammen, Gerichtsmediziner, Polizisten und Familienrechtler. Es wurde offenbar, dass der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) der sieben Hamburger Bezirke überlastet sei und dass selbst Problemfälle auf Wartelisten stünden.<ref>Sabine Henning: [http://www.sabinehenning.de/PDFs/Publikum-Forum_02.pdf ''Die Fratze hinter der Fassade'']. In: Publik-Forum vom Februar 2006.</ref> Der Sonderausschuss forderte eine bessere Zusammenarbeit und Vernetzung der Ämter und Behörden, insbesondere der Jugendämter, des ASD, der Schule, der freien Träger der Jugendhilfe und der Polizei. Darüber hinaus empfahl er eine bessere Prävention und Früherkennung, insbesondere durch eine verbindlich vorgeschriebene Teilnahme an den [[Kindervorsorgeuntersuchung]]en, den so genannten U-Untersuchungen.<ref>Bürgerschaftsdrucksache 18/3592 ''Bericht des Sonderausschusses „Vernachlässigte Kinder“'' vom 26. Januar 2006, S. 5-8.</ref>

Die Politik versuchte zunächst durch zügig eingeleitete Maßnahmen zu reagieren: Die [[Hamburgische Bürgerschaft]] setzte im April 2005 den Sonderausschuss „Vernachlässigte Kinder“ ein, der von Mai 2005 bis Januar 2006 tagte. Der [[Erster Bürgermeister (Hamburg)|Erste Bürgermeister]] [[Ole von Beust]] machte die politische Aufklärung um den Fall Jessica zur „Chefsache“ und verlangte eine minutiöse Aufklärung bis ins Detail darüber, an welchem Punkt Fehler enststanden seien, um sie künftig zu verhindern.<ref>Artikel [http://www.stern.de/panorama/jessicas-hungertod-wie-verstorbene-aus-kzs-537274.html ''Wie Verstorbene aus KZs'']. In: Stern vom 3. März 2005.</ref> Bereits im Mai 2005 führte Hamburg den so genannten „Schulzwang“ ein, der Behörden berechtigt, mit einem richterlichen [[Durchsuchungsbeschluss]] in Wohnungen einzudringen, um nach schulpflichtigen Kindern zu suchen und die Schulpflichtigen notfalls durch die Polizei vorführen zu lassen. Am 27. September 2005 gab der Senat sein Programm „Hamburg schützt seine Kinder“ bekannt. Es sah unter anderem ein Zentralregister aller schulpflichtigen Kinder und den Einsatz der Staatsanwaltschaft zur Klärung der Lebensumstände von Kindern vor. Die Zahl der Stellen beim Allgemeinen Sozialen Dienst wurde von 241 auf 273 angehoben. Die Mittel für Familienhilfe und -förderung wurden von 563 Millionen im Jahr 2001 auf 648 Millionen 2006 erhöht und die Fachkräfte der Sozialbehörde wurden zu „Kinderschutzfachkräften“ fortgebildet.<ref>Artikel [http://www.welt.de/welt_print/article924010/Senat_Nach_Jessicas_Tod_hat_sich_viel_bewegt.html ''Senat: „Nach Jessicas Tod hat sich viel bewegt“'']. In: Welt Online vom 6. Juni 2007.</ref> Zudem wurden unter anderem Vorsorgeuntersuchungen für Kindergartenkinder sowie eine Kinderschutzhotline eingeführt und das ambulante Familienhebammenprogramm ausgeweitet. Maßnahmen zur Hilfe bei der Erziehung (HzE-Maßnahmen) wurden insgesamt hinter die sogenannte Sozialraumorientierte Angebotsentwicklung (SAE) zurückgestellt und erhielten trotz einer Budgeterhöhung im Verhältnis weniger Mittel. Der Senat begründe diese Prioritätssetzung damit, das HzE-Maßnahmen insgesamt zu teuer und hochschwellig seien, wohingegen sich mit der SAE eine breitere Schicht potentiell gefährdeter Familien erreichen lasse.<ref name="lutz2010-127-129">Tilman Lutz: ''Soziale Arbeit im Kontrolldiskurs. Jugendhilfe und ihre Akteure in postwohlfahrtstaatlichen Gesellschaften.'' VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010. ISBN 978-3-531-17137-1, S. 127–129.</ref>


Damit wurden zwar früher erfolgte Einschnitte und Sparbeschlüsse im Sozialbereich zurückgenommen oder zumindest teilweise revidiert; gleichzeitig wurden aber auch Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten des Staates gegenüber Familien ausgeweitet. Beobachter sahen in den Beschlüssen daher auch eine Fortsetzung der Kriminalititätspolitik der [[Senat von Beust I|Regierung Beust-Schill]], nur dass sich diese nun eher gegen Misshandlung durch Eltern statt gegen jugendliche Straftäter wendete, auch wenn letzteres Thema weiterhin eine wichtige Rolle spielte. Die Reaktion der Politik und die Forderungen aus der Gesellschaft, die Kontrolle durch die Behörden zu verschärfen wurden als „Jessica-Effekt“ bezeichnet. Viele Sozialarbeiter kritisierten die neuen Maßnahmen: Sie seien reine Symbolpolitik, zumal die zuständige Sozialsenatorin [[Birgit Schnieber-Jastram]] suggeriere, dass sich Fälle wie der von Jessica damit verhindern ließen. Dies sei aber durch keine noch so restriktive Kontrolle möglich. Gleichzeitig klagten Teile der Sozialbehörden über Überlastung durch die neu geschaffenen Kontrollpflichten. Eine Mitarbeiterin des Allgemeinen Sozialen Diensts (ASD) kündigte ihre Stelle nach eigener Aussage, weil sie aufgrund des gestiegenen Arbeitspensums ihre Verantwortung gegenüber den betreuten Personen nicht mehr wahrnehmen könne.<ref name="lutz2010-126">Tilman Lutz: ''Soziale Arbeit im Kontrolldiskurs. Jugendhilfe und ihre Akteure in postwohlfahrtstaatlichen Gesellschaften.'' VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010. ISBN 978-3-531-17137-1, S. 126.</ref> Damit verschärfte sich eine Situation, der der Senat eigentlich entgegenwirken wollte, da während seiner Arbeit deutlich wurde, dass der ASD zum Todeszeitpunkt von Jessica überlastet war.<ref>Artikel [http://www.sabinehenning.de/PDFs/Publikum-Forum_02.pdf ''Die Fratze hinter der Fassade'']. In: Publik-Forum vom Februar 2006.</ref>
Der [[Erster Bürgermeister (Hamburg)|Erste Bürgermeister]] [[Ole von Beust]] machte die politische Aufklärung um den Fall Jessica zur „Chefsache“ und verlangte eine minutiöse Aufklärung bis ins Detail darüber, an welchem Punkt Fehler enststanden seien, um sie künftig zu verhindern.<ref>Artikel [http://www.stern.de/panorama/jessicas-hungertod-wie-verstorbene-aus-kzs-537274.html ''Wie Verstorbene aus KZs'']. In: Stern vom 3. März 2005.</ref> Bereits im Mai 2005 führte Hamburg den so genannten „Schulzwang“ ein, der Behörden berechtigt, mit einem richterlichen [[Durchsuchungsbeschluss]] in Wohnungen einzudringen, um nach schulpflichtigen Kindern zu suchen und die Schulpflichtigen notfalls durch die Polizei vorführen zu lassen. Am 27. September 2005 gab der Senat sein Programm „Hamburg schützt seine Kinder“ bekannt. Das Programm sah eine stärkere Kontrolle vor: Ein zentrales Schülerregister, das alle schulpflichtigen Kinder erfasst und keines mehr – aufgrund von Umzügen – durch das Raster fallen lässt. Die Jugendämter können sich nunmehr an die Staatsanwaltschaft wenden, um das Lebensumfeld eines Kindes abklären zu lassen. Die Zahl der Stellen beim Allgemeinen Sozialen Dienst wurde von 241 auf 273 angehoben. 14 Eltern-Kind-Zentren sind als Anlaufstellen für Eltern in schwierigen Lebenslagen eröffnet worden. Die Mittel für Familienhilfe und -förderung wurden erhöht: von 563 Millionen im Jahr 2001 auf 648 Millionen 2006. Die Fachkräfte der Sozialbehörde sind zu „Kinderschutzfachkräften“ fortgebildet worden.<ref>Insa Gall: [http://www.welt.de/welt_print/article924010/Senat_Nach_Jessicas_Tod_hat_sich_viel_bewegt.html ''Senat: „Nach Jessicas Tod hat sich viel bewegt“'']. In: Welt Online vom 6. Juni 2007.</ref> Ärztliche Untersuchungen in den [[Kindertagesstätte]]n und eine Kinderschutzhotline wurden eingeführt. Die Angebote früher Hilfen wurden ebenfalls aufgestockt: Hatte es 2001 nur ein Familienhebammen-Projekt gegeben, so waren es 2008 bereits 16 Projekte.<ref>Artikel [http://www.abendblatt.de/hamburg/article161228/Der-Fall-Jessica-und-was-danach-geschah.html ''Der Fall Jessica und was danach geschah'']. In: Hamburger Abendblatt vom 12. März 2009.</ref> Die Hamburger Polizei führte das „Hamburger Modell“ ein, demzufolge Beziehungsgewalt künftig ausschließlich von 50 Sachbearbeitern der Kriminalpolizei bearbeitet und hierbei Fälle von Kindesvernachlässigung früher erkannt werden sollen.<ref>Artikel ''[http://www.igak.org/aktuell/index.php?/archives/27-Hamburger-Modell-gegen-Vernachlaessigung-von-Kindern.html „Hamburger Modell“ gegen Vernachlässigung von Kindern]''. In: Institut für Gewaltprävention und angewandte Kriminologie vom 28. Februar 2006.</ref> <br />
Der Senat berichtete am 5. Juni 2007 über die bis dahin umgesetzten Maßnahmen. Insbesondere umfassten diese Maßnahmen vorschulische Vorstellungspflichten, die Einführung des „Hamburger Modells“, die Optimierung der Organisation, Struktur und Personalausstattung der Jugendämter, die Verbesserung der Zusammenarbeit anderer Behörden mit den Jugendämtern und Hilfen für Familien und deren Kinder durch spezielle Stadtteilprojekte.<ref>Bürgerschaftsdrucksache 18/6369 ''Mitteilung des Senates an die Bürgerschaft – „Hamburg schützt seine Kinder: Umsetzung der Maßnahmen“'' vom 5. Juni 2006, S. 2-15.</ref> <br />
Da die Quote bei den freiwilligen Kindervorsorgeuntersuchungen U6 und U7 bei nur etwa 90 bis 95 Prozent liegt, begann Hamburg im Oktober 2010 einen zweijährigen Modellversuch, um die restlichen fünf bis zehn Prozent der Eltern zu erreichen. Demzufolge werden sie schriftlich aufgefordert, ihre ein- bis zweijährigen Kinder von einem beliebigen Kinderarzt untersuchen zu lassen. Bleibt die Rückmeldung des Kinderarztes an die Behörden aus, wird das bezirkliche Gesundheitsamt informiert, das die Eltern zu einem persönlichen Gespräch vorlädt. Weitere Sanktionen sind im Rahmen des Modellversuchs bis 2012 zunächst nicht vorgesehen.<ref>Andreas Dey: ''[http://www.abendblatt.de/hamburg/kommunales/article1662411/Behoerde-kontrolliert-ob-Eltern-mit-ihren-Kindern-zum-Arzt-gehen.html Behörde kontrolliert, ob Eltern mit ihren Kindern zum Arzt gehen]''. In: Hamburger Abendblatt vom 14. Oktober 2010.</ref><br />
Das mit 112,1 Millionen Euro<ref>Bürgerschaftsdrucksache 19/7712 ''Mitteilung des Senates an die Bürgerschaft'' betreffend den Stand der Umsetzung und den Haushaltsplan 2009/2010 vom 2. November 2010, S. 11.</ref> veranschlagte Großprojekt zur Einführung des neuen Systems „JUS-IT“, die die Jugendämter und die Sozialämter miteinander vernetzen wird, soll ab Dezember 2011 unter anderem dafür sorgen, Fällen von Kindesverwahrlosungen künftig rechtzeitig entgegenzuwirken.<ref>Jens Meyer-Wellmann: [http://www.welt.de/print/die_welt/hamburg/article12236381/Experte-Neue-Behoerdensoftware-koennte-dreimal-teurer-werden-als-veranschlagt.html ''Experte: Neue Behördensoftware könnte dreimal teurer werden als veranschlagt'']. In: Welt Online vom 19. Januar 2011.</ref> Es sind drei Einführungsstufen vorgesehen, die letzte soll Ende 2013 in Kraft treten und die vorherigen drei Systeme komplett ablösen.<ref>Bürgerschaftsdrucksache 19/8053 ''Bericht des Haushaltsausschusses über die Drucksache 19/7712'' vom 1. Dezember 2010, S. 26.</ref>


== Literatur ==
Auch außerhalb der staatlichen Institutionen begannen Aktivitäten: Die evangelische Kirche richtete im Januar 2006 das Kinderhilfsprojekt „Arche“ in Jenfeld ein, das Kinder aus dem Stadtteil mit kostenlosem Mittagessen und Hausaufgabenhilfen unterstützt und mit diversen Freizeitaktivitäten betreut.<ref>Artikel [http://www.friedenskirche-jenfeld.de/arche-jenfeld.html ''5 Jahre ARCHE - ein besonderer Geburtstag''] der Friedenskirche Jenfeld, abgerufen am 9. Oktober 2011.</ref>
* Tilman Lutz: ''Soziale Arbeit im Kontrolldiskurs. Jugendhilfe und ihre Akteure in postwohlfahrtstaatlichen Gesellschaften.'' VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010. ISBN 978-3-531-17137-1, {{doi|10.1007/978-3-531-92181-5}}.
* Jörg M. Fegert, Ute Ziegenhain, Heiner Fangerau: ''Problematische Kinderschutzverläufe: Mediale Skandalisierung, fachliche Fehleranalyse und Strategien zur Verbesserung des Kinderschutzes.'' Juventa, Weinheim und München 2010. ISNB 3779922614.


== Weblinks ==
== Weblinks ==

Version vom 20. November 2011, 00:46 Uhr

Das Wohnhaus der Familie

Als Mordfall Jessica[1] wurde im März 2005 der Tod des siebenjährigen Hamburger Mädchens Jessica bundesweit bekannt.[2] Das Mädchen war in der elterlichen Wohnung wegen Unterernährung entkräftet an eigenem Erbrochenem erstickt. Die Eltern hatten es jahrelang vernachlässigt und in einem Zimmer eingesperrt. Nach dreimonatiger Gerichtsverhandlung wurden sie im November 2005 zu lebenslanger Freiheitsstrafe wegen Mordes durch Unterlassen verurteilt.

Mehrere Hamburger Behörden gerieten in die Kritik, weil sie die Vernachlässigung des Mädchens nicht erkannt hatten. Die öffentliche Verwaltung reagierte mit der Einführung neuer und dem Ausbau bestehender Kontrollmechanismen, einer Aufstockung des Personals und einer Erhöhung der finanziellen Mittel.

Familie und Wohnsituation

Lage in Hamburg

Jessicas Eltern waren die zur Tatzeit 35-jährige Marlies S.[3] und der zur Tatzeit 49-jährige Burkhard M. Die Familie wohnte im Hamburger Stadtteil Jenfeld in einer 71 Quadratmeter großen Zweieinhalbzimmer-Mietwohnung eines achtgeschossigen Mehrfamilienhauses.[4]

Ihren eigenen Vater hatte Marlies S. nie kennengelernt und ihre Mutter war häufig betrunken gewesen. Seit ihrem neunten Lebensjahr wurde Marlies S. etwa zwei bis drei Jahre lang vom Lebensgefährten ihrer Mutter sexuell belästigt, ohne dass die Mutter eingriff. Ab ihrem 13. Lebensjahr wohnte sie vier Jahre bei einer Tante. Nach der Schule begann sie eine Ausbildung zur Friseurin, die sie wegen einer Allergie jedoch nicht abschloss. Später zog sie in eine Jugendwohnung und bekam im Jahr 1991 mit 21 Jahren ihren ersten Sohn. Wenige Monate später heiratete sie. Acht Monate nach der Geburt des Sohnes übergaben ihn Marlies S. und ihr Ehemann dauerhaft der Tante, als er entgegen der normalen Entwicklung weder sitzen noch krabbeln konnte.[5] Die Tante benachrichtigte das zuständige Jugendamt und Marlies S. gab das Kind zur Adoption frei. 1992 wurde ihr zweiter Sohn geboren, 1994 eine Tochter. Das Ehepaar ließ sich 1996 scheiden. Das zuständige Jugendamt legte dem Familiengericht dar, dass Marlies S. mit der Erziehung der beiden Kinder überfordert war. Der Vater erhielt das Sorgerecht für die beiden gemeinsamen Kinder. 1996 war Marlies S. als Näherin in Hamburg beschäftigt, nach unentschuldigtem Fernbleiben wurde ihr nach drei Monaten gekündigt. Im gleichen Jahr lernte sie Burkhard M. kennen. Dieser hatte, bevor er nach Hamburg kam, in Berlin gewohnt und dort als Maler und Lackierer gearbeitet.[6] Im August 1997 wurde die gemeinsame Tochter Jessica geboren, die nicht gewollt war.[7]

Lebensbedingungen und Tod

Jessica verließ weder die Wohnung noch bekam sie Besuch, Nachbarn wussten nichts von ihrer Existenz. Die Wohnung der Familie war verwahrlost.[3] Jessica durfte ihr Zimmer auch für Toilettengänge nicht verlassen, Spielzeuge gab es nicht.[6] Die Eltern hatten die Fenster des Zimmers zugeschraubt und die Scheiben mit lichtundurchlässiger Folie beklebt.[4] Auch hatten sie das Licht abgeschaltet und den Thermostat der Heizung auf niedriger Stufe verriegelt.[8] Die Zimmerdecke war mit Schimmel überzogen; von Jessicas Matratze waren nur die Sprungfedern übrig.[9] Jessica bekam selten zu essen und zu wenig zu trinken.[10]

In der Nacht vom 28. Februar auf den 1. März 2005 erstickte sie infolge Entkräftung an ihrem Erbrochenen.[3] Kurz vor 7 Uhr morgens rief Marlies S. einen Notarzt.[5] Als dieser Jessica untersuchte, hatte die Leichenstarre schon eingesetzt. Das Mädchen hatte bei einer Körpergröße von knapp 1,10 Meter mit nur 9,6 Kilogramm das Gewicht einer Ein- bis Zweijährigen. Der Vater behauptete, Jessica habe an einer Stoffwechselkrankheit gelitten, zum Arzt seien sie in der letzten Zeit aber nicht gegangen.[7] Tatsächlich hatte sie aber keine solche Vorerkrankung.[3]

Burkhard M. hatte in Jessicas Zimmer durch Manipulation am Lichtschalter eine so genannte Stromfalle gelegt. Er hatte die Schutzverkleidung des Lichtschalters abmontiert und einen unisolierten Kupferdraht am Schalter befestigt, der unter 230 Volt Spannung stand. Außerdem hatte Burkhard M. unterhalb des Lichtschalters den isolierenden Teppich und das Linoleum entfernt, damit der darunter liegende Boden elektrischen Strom besser leiten konnte. Nach Angaben des Vaters hätte Jessica die Schutzverkleidung des Lichtschalters selbst abgerissen. Einem Gutachten und den Ermittlungen der Kriminalpolizei zufolge war der Kupferdraht jedoch erst nachträglich durch Burkhard M. angebracht worden.[11] Das Kind kam mit dem Draht aber nicht in Berührung.

Jessica wurde am 11. März 2005 auf einem Friedhof im Stadtteil Rahlstedt beigesetzt.[6]

Rolle der Behörden

Schule Oppelner Straße

Ab März 2005 gerieten Schulbehörde und Jugendämter in die Kritik, weil ihnen die Vernachlässigung der siebenjährigen Jessica schon früher hätte auffallen müssen. Es war zwar ein Bußgeldverfahren gegen die Eltern eingeleitet worden, weil sie ihre Tochter nicht zur Schule angemeldet hatten, aber nachdem das Kind zur Einschulung nicht erschienen war, waren weitere Maßnahmen unterblieben. Der Senat räumte Fehler der Behörde ein.[12]

Jessica war am 1. August 2004 schulpflichtig geworden. Der Schulleiter der Schule Oppelner Straße hatte Jessicas Eltern im Dezember 2003 angeschrieben und sie aufgefordert, Jessica anzumelden. Die Eltern reagierten nicht, auch nicht auf einen zweiten und dritten Brief im März 2004. Daraufhin meldete der Schulleiter das Fernbleiben des Kindes im April 2004 der Regionalen Beratungs- und Unterstützungsstelle der Hamburger Schulbehörde (Rebus). Die Rebus bemühte sich vergeblich, Jessicas Eltern zu erreichen. Dazu wurde sie dreimal an der Wohnung der Familie vorstellig, ohne dass die Eltern öffneten. Die drei im Briefkasten der Familie hinterlegten Briefe beantworteten die Eltern nicht. Nachbarn konnten auf Nachfrage des Rebus-Mitarbeiters keine Auskunft über Jessica geben, weil sie sie nicht kannten. Die Schulbehörde verhängte schließlich ein Bußgeld in Höhe von 60 Euro wegen einer Schulpflichtverletzung. Die Eltern reagierten auch auf die Bußgeldforderung und zwei folgende Mahnungen nicht; danach stellte die Rebus alle weiteren Bemühungen ein. Zu einer dritten Mahnung – nach der eine Zwangsvollstreckung möglich gewesen wäre, ggf. mit Amtshilfe durch die Polizei – kam es nicht mehr. Die Rebus informierte auch das zuständige Jugendamt nicht, da sie davon ausging, dass die Familie fortgezogen war.[3][5]

Rückblickend wiesen mehrere Beobachter auf die strukturellen Schwierigkeiten der Hamburger Sozialbehörden hin: Während das Sozialnetz der Hansestadt in den 1980er und 1990er deutschlandweit als gut entwickelt und sehr liberal galt, setzte Ende der 1990er Jahre ein Umschwung in der Politik der rot-grünen Regierung ein. Anlass waren gestiegene Kosten durch zahlreiche, im Lauf der Jahre geschaffene Ansprüche der Bürger. Ambulante Hilfen wie etwa Familienbesuche wurden dabei zugunsten der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) zurückgefahren, die den Schwerpunkt auf flächendeckende, niederschwellige Angebote legt. Auch der Kontroll- und Sanktionsdiskurs verschärfte sich in Hamburg um diesen Zeitpunkt herum, nachdem im sogenannten Dabelstein-Mord ein Mann von zwei bereits vorher auffällig gewordenen Jugendlichen erschlagen worden war. Sie waren statt in U-Haft in einer offenen Einrichtung untergebracht. Die Folgeregierung unter Ole von Beust (CDU) und Ronald Schill (PRO) setzte diesen eingeschlagenen Kurs fort. Zwar standen vor allem jugendliche Straftäter im Mittelpunkt der Sozial- und Sicherheitspolitik. Dennoch zeichnete sich auch im Bereich der Familienbetreuung eine weitere Verschiebung von ambulanten und einzelfallbezogenen Einrichtungen hin zu stationären, flächendeckenden, aber auch repressiveren Institutionen ab. Dazu gehörte beispielsweise die Wiedereinführung geschlossener Heime sowie die informationelle Verschaltung und koordinierte Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Polizei. Als problematisch stellte sich im Rückblick heraus, dass es zwar möglich wurde, Kinder ihren Eltern zu entziehen und sie in geschlossene Einrichtungen zu überstellen, der Fokus aber vornehmlich auf Jugendkriminalität lag und Verwahrlosung von Kleinkindern als Thema weitgehend unbeachtet blieb. Gleichzeitig waren vor allem die repressiven Maßnahmen sehr kostenintensiv, was zu Lasten der präventiven Bereiche in der Jugendarbeit – darunter auch Hausbesuche – ging.[13]

Ermittlungen und Anklage

Jessicas Eltern wurden noch am 1. März 2005 festgenommen, am nächsten Tag ordnete ein Haftrichter Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr an.[3] Der Gerichtsmediziner Michael Tsokos, der die Leiche der Siebenjährigen obduzierte, meinte, dass das Mädchen nur noch vor sich hingedämmert haben könne, ohne richtig wach gewesen zu sein.[14]

In den kriminalpolizeilichen Vernehmungen sagten der Vater und die Mutter aus. Marlies S. schilderte hierbei ihre eigene Jugend, in der Gewalt, Verwahrlosung, Missbrauch und Alkohol eine wesentliche Rolle gespielt hätten.[6] Ansonsten hätten sie Jessica immer gepflegt und gefüttert. Burkhard M. gab an, dass er sich seit Dezember 2004 nicht weiter um Jessica gekümmert habe, sie habe ihn abgelehnt. Ende 2004 oder Anfang 2005 habe er seine Tochter letztmalig lebend gesehen. Sie habe auf ihrem Bett im Kinderzimmer gelegen.[15] Der Verteidiger der angeklagten Mutter gab vor Prozessbeginn an, Marlies S. habe viel Schuld auf sich geladen. Allerdings hätten auch die Behörden versagt.

Die Staatsanwaltschaft erhob am 28. Juni 2005 Anklage gegen die Eltern. Sie lautete auf Misshandlung einer Schutzbefohlenen und Mord durch Unterlassung, wobei Grausamkeit als besonderes Mordmerkmal genannt wurde.[16] In der Anklageschrift wurde den Eltern vorgeworfen, Jessica gröblichst vernachlässigt zu haben, so dass sie sich weder körperlich noch geistig auch nur ansatzweise altersgerecht hätte entwickeln können.[11] Marlies S. und Burkhard M. hätten im gegenseitigen Einvernehmen beschlossen, Jessica sterben zu lassen, und somit einen „grausamen Mord zur Verdeckung einer Straftat“ begangen. Die Eltern hätten während des Ermittlungsverfahrens keine Einsicht gezeigt.[17]

Gerichtsverfahren

Landgericht Hamburg im Strafjustizgebäude

Der Prozess gegen die Eltern vor dem Schwurgericht des Landgerichts Hamburg begann am 24. August 2005, verhandelt wurde im Strafjustizgebäude.[6]

Einlassungen der beiden Angeklagten

Am zweiten Verhandlungstag, dem 30. August 2005, äußerte sich Jessicas Mutter. Sie gab zu, ihre Tochter vernachlässigt zu haben. Seit Ende 2000 habe sie mit Jessica nicht mehr draußen gespielt. Trotz massiver Probleme ihres Kindes habe sie weder einen Arzt noch eine Erziehungsberatungsstelle aufgesucht; sie habe es nicht geschafft. Seit 2001 habe sie Jessica immer wieder in ihrem Zimmer eingesperrt, etwa wenn sie einkaufen oder zum Imbiss gegangen sei. Das Mädchen habe nicht allein essen können und immer gefüttert werden müssen. Etwa ab Mitte Februar 2005 habe Jessica nicht mehr richtig gegessen und das Trinken völlig verweigert. Sie habe Jessica nicht in der Schule angemeldet, weil es mit ihrer Sprache immer schlimmer geworden sei.[18] Nachdem Burkhard M. 2003 an einer Leberzirrhose erkrankt sei, sei Jessicas Beziehung zu ihrem Vater in eine Krise geraten. Danach habe Jessica ihr Aussehen und ihr Verhalten geändert. Sie habe sich völlig zurückgezogen und habe wieder in die Hosen gemacht. Richtig trocken sei sie ohnehin nie gewesen.

Der Vater des Kindes äußerte sich vor Gericht nicht zu den Vorwürfen.[15]

Gutachten

Der Psychiater Norbert Leygraf führte in seinem Gutachten über den Vater aus, dieser habe wohl „weder im Tatzeitraum noch in seiner Lebensgeschichte je unter einer schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankung gelitten“, er sei aber gefühlsarm, wozu auch der jahrelange Alkoholmissbrauch beigetragen habe.[19]

Der Psychiater Hans-Ludwig Kröber hatte die Mutter untersucht. Er habe bei der Angeklagten „keine seelische Abartigkeit“ feststellen können, sie sei voll schuldfähig. Sie habe sich trotz ihrer „miserablen Kindheit“ stabilisiert. Entscheidend für die Tat seien Streitereien der Eltern gewesen. Aufgrund der Gleichgültigkeit des angeklagten Vaters habe es die angeklagte Mutter letztlich nicht mehr eingesehen, allein für die Versorgung ihrer Tochter zuständig zu sein. Jessicas Vernachlässigung habe sie „als Verteidigungsmaßnahme verstanden“.[20]

Plädoyers, Urteil und Revision

Die Staatsanwaltschaft forderte am 11. November 2005 eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes für beide Elternteile. Sie hätten ihre Tochter vorsätzlich misshandelt und getötet. Die Verteidiger der angeklagten Eltern plädierten am 16. November 2005 für eine Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge und Misshandlung Schutzbefohlener und Freiheitsstrafen von höchstens 15 Jahren.

Am 25. November 2005 verurteilte das Landgericht Hamburg die beiden Angeklagten wegen Mordes zu lebenslangen Freiheitsstrafen, wobei das Gericht auf Grausamkeit als Tatbestandsmerkmal erkannte. Es stellte fest, dass Jessicas Entwicklung zunächst normal verlief; sie habe normal zu essen bekommen, habe laufen und einige Wörter sprechen können. Der Bruch innerhalb der Familie sei wahrscheinlich geschehen, als die Eltern mit der drei Jahre alten Jessica in den für sie neuen Stadtteil Jenfeld umgezogen seien und dadurch ein halbwegs intaktes soziales Umfeld verloren hätten. Ab diesem Zeitpunkt habe ein schleichender Prozess begonnen, in dessen Lauf Jessicas Leben zum Martyrium geworden sei. Der Vorsitzende Richter konstatierte, dass die Katze etwas zu fressen bekam, Jessica hingegen „musste hungern; die Katze durfte sich in der Wohnung frei bewegen, Jessica war in einem modrigen Zimmer eingesperrt“. Es sei neben den körperlichen Leiden für Jessica eine seelische Qual gewesen, in der Wichtigkeit hinter einem Haustier zu stehen, was sie in vollem Bewusstsein mitbekommen habe. Nach Überzeugung des Gerichts seien sich beide Elternteile darüber im Klaren gewesen, falsch zu handeln, indem sie Jessica Nahrung und Zuwendung verweigerten. Beide hätten genau gewusst, dass Jessica sterben würde, wenn sie nichts änderten, und hätten dies billigend in Kauf genommen. Durch den Hunger hätten sie Jessica „grausam zu Tode gebracht“.[2]

Jessicas Mutter habe als Resultat ihrer eigenen Kindheit Kinder als Feinde wahrgenommen, die abgewehrt werden müssten, um eigene Freiräume zu schaffen. Der verurteilte Vater sei ein „gefühlsmäßig verarmter und fatalistischer Mann“, der sich nicht darauf berufen könne, nicht gewusst zu haben, was sich in der Familie abspielte. Er habe gewusst, wie es seiner Tochter tatsächlich ging, habe dies aber „hinter der Fassade eines intakten Familienlebens“ verschleiert.

Der Vater habe die Stromfalle in Jessicas Zimmer angebracht. Die Eltern hätten damit gemeinschaftlich den Tod ihrer Tochter herbeiführen wollen. Beide hätten gehofft, dass Jessica den Draht anfassen und an einem Stromschlag sterben würde. Nach Überzeugung des Gerichts handelten die Eltern „aus gefühlloser, mitleidloser und böswilliger Gesinnung“. Sie hätten ihr „eigenes Leben in Kneipen, bei Bekannten oder beim Dartspielen leben“ wollen.[21]

Der Verteidiger der Mutter gab an, das Urteil werde ihr nicht gerecht.[9] Er legte daraufhin Revision beim Bundesgerichtshof ein, der die Revision jedoch am 10. Oktober 2006 verwarf, weil die „Nachprüfung weder einen Verfahrensfehler noch einen Urteilsfehler“ zum Nachteil der Angeklagten ergeben habe.[22] Damit war auch das Urteil gegen die Mutter rechtskräftig geworden.[10]

Nachwirkung und gesellschaftliche Debatte

Der Fall Jessica löste in der deutschen Gesellschaft eine intensive und emotional geführte Debatte über den Umgang mit potentiell von Verwahrlosung gefährdeten Kindern und die Rolle der Jungendämter aus. Dabei spielte insbesondere die Frage eine Rolle, ob die Rechte von Eltern zugunsten von mehr staatlicher Aufsicht beschnitten werden sollte und welche Stellung dem Staat insgesamt bei der Erziehung von Kindern zukommt.

Die Politik versuchte zunächst durch zügig eingeleitete Maßnahmen zu reagieren: Die Hamburgische Bürgerschaft setzte im April 2005 den Sonderausschuss „Vernachlässigte Kinder“ ein, der von Mai 2005 bis Januar 2006 tagte. Der Erste Bürgermeister Ole von Beust machte die politische Aufklärung um den Fall Jessica zur „Chefsache“ und verlangte eine minutiöse Aufklärung bis ins Detail darüber, an welchem Punkt Fehler enststanden seien, um sie künftig zu verhindern.[23] Bereits im Mai 2005 führte Hamburg den so genannten „Schulzwang“ ein, der Behörden berechtigt, mit einem richterlichen Durchsuchungsbeschluss in Wohnungen einzudringen, um nach schulpflichtigen Kindern zu suchen und die Schulpflichtigen notfalls durch die Polizei vorführen zu lassen. Am 27. September 2005 gab der Senat sein Programm „Hamburg schützt seine Kinder“ bekannt. Es sah unter anderem ein Zentralregister aller schulpflichtigen Kinder und den Einsatz der Staatsanwaltschaft zur Klärung der Lebensumstände von Kindern vor. Die Zahl der Stellen beim Allgemeinen Sozialen Dienst wurde von 241 auf 273 angehoben. Die Mittel für Familienhilfe und -förderung wurden von 563 Millionen im Jahr 2001 auf 648 Millionen 2006 erhöht und die Fachkräfte der Sozialbehörde wurden zu „Kinderschutzfachkräften“ fortgebildet.[24] Zudem wurden unter anderem Vorsorgeuntersuchungen für Kindergartenkinder sowie eine Kinderschutzhotline eingeführt und das ambulante Familienhebammenprogramm ausgeweitet. Maßnahmen zur Hilfe bei der Erziehung (HzE-Maßnahmen) wurden insgesamt hinter die sogenannte Sozialraumorientierte Angebotsentwicklung (SAE) zurückgestellt und erhielten trotz einer Budgeterhöhung im Verhältnis weniger Mittel. Der Senat begründe diese Prioritätssetzung damit, das HzE-Maßnahmen insgesamt zu teuer und hochschwellig seien, wohingegen sich mit der SAE eine breitere Schicht potentiell gefährdeter Familien erreichen lasse.[25]

Damit wurden zwar früher erfolgte Einschnitte und Sparbeschlüsse im Sozialbereich zurückgenommen oder zumindest teilweise revidiert; gleichzeitig wurden aber auch Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten des Staates gegenüber Familien ausgeweitet. Beobachter sahen in den Beschlüssen daher auch eine Fortsetzung der Kriminalititätspolitik der Regierung Beust-Schill, nur dass sich diese nun eher gegen Misshandlung durch Eltern statt gegen jugendliche Straftäter wendete, auch wenn letzteres Thema weiterhin eine wichtige Rolle spielte. Die Reaktion der Politik und die Forderungen aus der Gesellschaft, die Kontrolle durch die Behörden zu verschärfen wurden als „Jessica-Effekt“ bezeichnet. Viele Sozialarbeiter kritisierten die neuen Maßnahmen: Sie seien reine Symbolpolitik, zumal die zuständige Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram suggeriere, dass sich Fälle wie der von Jessica damit verhindern ließen. Dies sei aber durch keine noch so restriktive Kontrolle möglich. Gleichzeitig klagten Teile der Sozialbehörden über Überlastung durch die neu geschaffenen Kontrollpflichten. Eine Mitarbeiterin des Allgemeinen Sozialen Diensts (ASD) kündigte ihre Stelle nach eigener Aussage, weil sie aufgrund des gestiegenen Arbeitspensums ihre Verantwortung gegenüber den betreuten Personen nicht mehr wahrnehmen könne.[26] Damit verschärfte sich eine Situation, der der Senat eigentlich entgegenwirken wollte, da während seiner Arbeit deutlich wurde, dass der ASD zum Todeszeitpunkt von Jessica überlastet war.[27]

Literatur

  • Tilman Lutz: Soziale Arbeit im Kontrolldiskurs. Jugendhilfe und ihre Akteure in postwohlfahrtstaatlichen Gesellschaften. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010. ISBN 978-3-531-17137-1, doi:10.1007/978-3-531-92181-5.
  • Jörg M. Fegert, Ute Ziegenhain, Heiner Fangerau: Problematische Kinderschutzverläufe: Mediale Skandalisierung, fachliche Fehleranalyse und Strategien zur Verbesserung des Kinderschutzes. Juventa, Weinheim und München 2010. ISNB 3779922614.

Einzelnachweise

  1. Artikel Mordfall Jessica – Mutter voller Selbstmitleid. In: Focus Online vom 30. August 2005
  2. a b Artikel Katze wurde gefüttert, Jessica nicht. In: Focus Online vom 25. November 2005.
  3. a b c d e f Insa Gall und André Zand-Vakili: Mädchen verhungert in Jenfeld. In: Welt Online vom 2. März 2005.
  4. a b Roman Heflik: Das Mädchen, das nie existierte. In: Spiegel Online vom 2. März 2005.
  5. a b c Gunther Latsch, Udo Ludwig, Cordula Meyer: Jahrelanges Martyrium. In: Der Spiegel vom 7. März 2005.
  6. a b c d e Artikel Eltern der verhungerten Jessica vor Gericht. In: FAZ.net vom 24. August 2005.
  7. a b Hubert Gude, C. Köber, Birte Siedenburg: Verhungert im Verlies. In: Focus Online vom 7. März 2005.
  8. Ralf Wiegand: Jessica und die Skala der Vernachlässigung. In: Süddeutsche.de vom 24. August 2005.
  9. a b Frank Nordhausen: Eine Tat wie diese macht ratlos. In: Berliner Zeitung vom 26. November 2005. Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag. Der Name „Bz26112005“ wurde mehrere Male mit einem unterschiedlichen Inhalt definiert.
  10. a b Artikel Lebenslange Haft für Eltern bestätigt. In: Focus Online vom 17. Oktober 2006.
  11. a b Bettina Mittelacher: Sollte kleine Jessica in Stromfalle sterben?. In: Hamburger Abendblatt vom 22. August 2005.
  12. Artikel Senat räumt Behördenfehler ein. In: Spiegel Online vom 8. März 2005.
  13. Tilman Lutz: Soziale Arbeit im Kontrolldiskurs. Jugendhilfe und ihre Akteure in postwohlfahrtstaatlichen Gesellschaften. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010. ISBN 978-3-531-17137-1, S. 112–119.
  14. Artikel Wie Verstorbene aus KZs. In: Stern vom 3. März 2005.
  15. a b Artikel Mutter bekennt sich mitschuldig. In: Stern vom 30. August 2005
  16. Elke Spanner: Das unsichtbare Mädchen. In: taz vom 24. August 2005.
  17. Artikel Prozeß gegen Eltern von Jessica beginnt am 24. August. In: Welt Online vom 29. Juli 2005.
  18. Elke Spanner: Falsch gemacht? Alles. In: taz vom 31. August 2005.
  19. Artikel Dem Vater war alles „scheißegal“. In: Stern vom 26. September 2005.
  20. Christiane Langrock-Kögel: Spuren eines unsichtbaren Lebens. In: Süddeutsche.de vom 8. November 2005.
  21. Friederike Freiburg: Die Katze bekam zu fressen, Jessica musste hungern. In: Spiegel Online vom 25. November 2005.
  22. Pressemitteilung des BGH 139/2006 vom 17. Oktober 2006.
  23. Artikel Wie Verstorbene aus KZs. In: Stern vom 3. März 2005.
  24. Artikel Senat: „Nach Jessicas Tod hat sich viel bewegt“. In: Welt Online vom 6. Juni 2007.
  25. Tilman Lutz: Soziale Arbeit im Kontrolldiskurs. Jugendhilfe und ihre Akteure in postwohlfahrtstaatlichen Gesellschaften. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010. ISBN 978-3-531-17137-1, S. 127–129.
  26. Tilman Lutz: Soziale Arbeit im Kontrolldiskurs. Jugendhilfe und ihre Akteure in postwohlfahrtstaatlichen Gesellschaften. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010. ISBN 978-3-531-17137-1, S. 126.
  27. Artikel Die Fratze hinter der Fassade. In: Publik-Forum vom Februar 2006.
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