Advanced Trauma Life Support

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 2. Oktober 2016 um 03:44 Uhr durch Michileo (Diskussion | Beiträge) (WLH+; ATLs als Pluralform für ATL in der Pflege.). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Advanced Trauma Life Support (ATLS) ist ein Ausbildungskonzept, das standardisierte diagnostische und therapeutische Handlungsabläufe in der frühen innerklinischen Erstversorgung von schwerverletzten (polytraumatisierten) Patienten im Schockraum definiert. Es wurde in den 1970er Jahren vom American College of Surgeons (ACS) entwickelt und wird heute in einer Vielzahl von Ländern ausgebildet und angewendet. Advanced Trauma Life Support/ATLS sind geschützte Begriffe.

Entwicklung

Den Anstoß zur Entwicklung des ATLS-Konzeptes gab ein Unfall des US-amerikanischen Unfallchirurgen James Styner, der 1976 mit seiner Familie in einem Privatflugzeug verunglückte. Die notfallmedizinische Erstversorgung war so mangelhaft, dass Styner gravierende Mängel in der ärztlichen Ausbildung zur Versorgung Schwerverletzter konstatierte.[1] Auf seine Initiative gründeten sich verschiedene regionale Arbeitsgruppen, die Konzepte zur Erstversorgung von Verletzten aufstellten. Ende der 1970er Jahre wurde ATLS vom American College of Surgeons auf Grundlage dieser Arbeiten entwickelt. Man bediente sich dabei der didaktischen Konzepte, die die American Heart Association kurz vorher mit dem Advanced Cardiac Life Support eingeführt hatte. ATLS ist seitdem in den Vereinigten Staaten zum Standard bei der Versorgung von Trauma-Patienten geworden. Es wird inzwischen in über 50 Ländern ausgebildet, in Großbritannien, Schweiz, Niederlande und weiteren Ländern ist es Pflichtbestandteil der ärztlichen Ausbildung.[2] Von ATLS wurden inzwischen verschiedene Konzepte zur präklinischen Traumaversorgung durch den Rettungsdienst abgeleitet (International Trauma Life Support, Pre Hospital Trauma Life Support).

Konzept

Die Grundidee des ATLS ist, die bedrohlichsten Verletzungen und Störungen der Vitalfunktionen des Patienten schnell zu erfassen und zu behandeln („treat first what kills first“).

Im Falle eines Herz-Kreislauf-Stillstandes wird sofort mit einer Reanimation nach den ERC Richtlinien begonnen.[3]

In allen anderen Fällen beginnt ein diagnostischer und therapeutischer Block („primary survey“), welcher hilft nach Priorität geordnet potentiell tödliche Folgen des Polytraumas zu erkennen und zu therapieren. Im Anschluss an diese Erstversorgung werden in einer zweiten, ausführlicheren Phase („secondary survey“) alle relevanten Verletzungen und Erkrankungen diagnostiziert, wobei auch bildgebende Verfahren (Röntgen, CT) zum Einsatz kommen.[2][4]

Primary Survey: „ABCDE-Regel“

Im Primary Survey werden die wichtigsten Folgen eines Polytraumas der Priorität nach geordnet diagnostiziert und behandelt. Solange die Anzahl der behandelnden Personen stark limitiert ist (z.B. Rettungsdienst an der Unfallstelle) ist eine strikte Einhaltung der Reihenfolge notwendig (Es ergibt zum Beispiel keinen Sinn, die Belüftung der Lungen zu verbessern, solange der Patient keinen sicheren Atemweg hat).

Steht genügend Personal zur Verfügung (z.B. Schockraum) kann von der Reihenfolge abgewichen werden solange der Punkt der höchsten Priorität ungehindert behandelt wird (z.B. Chirurg kümmert sich um eine starke Blutung während parallel der Anästhesist den Atemweg sichert).

A - Airway (Atemweg)

→ Kopf überstrecken
Guedel-Tubus, Wendl-Tubus
Endotracheale Intubation
→ Anlage einer Cervicalstütze

B - Breathing (Belüftung)

→ Atemunterstützende Lagerung
→ Sauerstoffgabe
→ Intubation, kontrollierte Beatmung
Monaldi-Drainage

C - Circulation (Kreislauf)

→ großlumiger peripherer Venenkatheter
→ Volumengabe
Druckverband, Abbinden
Beckenzwinge, Becken extern komprimieren
Notfalllaparotomie

D - Disability (neurologisches Defizit)

  • Pupillenreaktion?
  • Bewusstseinslage (Glasgow Coma Scale)?
  • Hinweise auf Intoxikation?
  • Hinweise auf Stoffwechselentgleisungen?

E - Exposure (Exposition, Umfeld)

  • Vollständige Entkleidung, Ganzkörperuntersuchung
  • Kurzanamnese

→ Wärmeerhalt
→ Wundversorgung
→ Frakturen schienen

Secondary Survey

Nach Abschluss der wichtigsten Diagnostik sowie der Stabilisierung aller Vitalparameter folgt eine genauere Befunderhebung, welche jegliche Verletzungen aufdecken soll. Sie besteht aus Körperlicher Untersuchung, Radiologischer Untersuchung, sowie (Fremd-)Anamnese.

Ausbildung

Die Ausbildung von ATLS findet in einem zweitägigen Kurs statt; in Deutschland ist die deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie zur Durchführung zertifiziert. Dazu findet eine theoretische Vorbereitung anhand eines Kurshandbuches statt, der Kurs selbst beinhaltete neben theoretischen Einheiten vor allem praktische Übungen. Nach einer schriftlichen und mündlichen Prüfung wird das Zertifikat ATLS-Provider, das fünf Jahre gültig ist, vergeben.[2][4]

Bewertungen

Nutzen, strukturelle Qualität und die Übernahme des ATLS-Konzeptes nach Europa werden kontrovers diskutiert. Da die Notwendigkeit einer Prioritätenorientierten, standardisierten Behandlung allgemein akzeptiert wird, sehen Befürworter des Konzeptes im ATLS ein geeignetes Mittel, Patienten effektiv zu behandeln. Durch die einfache und klare Struktur sei es international problemlos einsetzbar und verbessere die Versorgung schwer traumatisierter Patienten.[4][5] Kritiker halten dem entgegen, dass ein Nutzen für den Patienten und eine Verbesserung der Prognose bisher jedoch nicht nachgewiesen werden konnte.[6]

Schwächen werden auch bei der Methodik des Konzeptes gesehen. So beinhalte ATLS gemäß den Kriterien des deutschen Instruments zur methodischen Leitlinien-Bewertung (DELBI)[7] Mängel in verschiedenen Bereichen: Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit (Chirurgie, Anästhesie, Radiologie u. a.), wie im Schockraum üblich, ist im chirurgisch ausgerichteten ATLS nicht vorgesehen; als ATLS-Lizenznehmer dürfen nur nationale unfallchirurgische Fachgesellschaften auftreten. Die Aktualisierung der Kursinhalte verlaufe zudem schleppend, eine Adaption an regionale Gegebenheiten werde vom ACS nicht gestattet. Das ATLS-Handbuch sei weiterhin nicht im freien Handel erhältlich, der Inhalt somit nicht offen zugänglich. Kritik wird auch an den kommerziellen Aspekten geübt, da das ACS jährlich große Summen an Lizenzgebühren einnimmt, so dass eine redaktionelle Unabhängigkeit nicht gegeben sei.[2]

Weiter werden verschiedene fachliche Aspekte des Konzeptes kritisiert, die nicht dem aktuellen Wissensstand entsprechen und als veraltet zu betrachten sind, etwa ein ungenügendes Atemwegsmanagement, die Beurteilung der Kreislaufsituation anhand obsoleter Parameter (vgl. Schock-Index) sowie ein unkritisches Einsetzen von Immobilisierungstechniken, aus dem verschiedenen Nebenwirkungen resultieren können.[2][8]

Die Übernahme des amerikanischen ATLS wird in Europa unterschiedlich bewertet. Während es in verschiedenen Ländern Bestandteil der ärztlichen Aus- und Weiterbildung ist, stehen andere dem Konzept eher ablehnend gegenüber. Nachdem Forderungen britischer Ärzte nach lokalen Adaptionen vom ACLS nicht nachgekommen worden war, wurde im Vereinigten Königreich die Entwicklung eines eigenen Konzeptes diskutiert.[9][10] Aufgrund der diskutierten Schwächen von ATLS hat auf Initiative des European Resuscitation Council die Europäische Trauma-Arbeitsgruppe, die sich aus Vertretern verschiedener Fachgesellschaften zusammensetzt, ein europäisches interdisziplinäres Alternativkonzept, den europäischen Traumakurs (European Trauma Course) entwickelt.[11][12]

Einzelnachweise

  1. J. K. Styner: The birth of Advanced Trauma Life Support (ATLS). In: Surgeon. 4(3), Jun 2006, S. 163–165. PMID 16764202
  2. a b c d e K. C. Thies, P. Nagele: Advanced Trauma Life Support - Ein Versorgungsstandard für Deutschland? In: Anaesthesist. 56(11), Nov 2007, S. 1147–1154. Review. PMID 17882389
  3. Holger Harbs: Vorgehen am Patienten: Das ABCDE-Schema. Universitätsklinikum Kiel, abgerufen am 14. April 2014.
  4. a b c M. Helm, M. Kulla, L. Lampl: Advanced Trauma Life Support - Ein Ausbildungskonzept auch für Europa. In: Anaesthesist. 56(11), Nov 2007, S. 1142–1146. Review. PMID 17726585
  5. B. Bouillon, K. G. Kanz, C. K. Lackner u. a.: Die Bedeutung des ATLS im Schockraum. In: Unfallchirurg. 107, 2004, S. 844–850. PMID 15452655
  6. H. Shakiba, S. Dinesh, M. K. Anne: Advanced trauma life support training for hospital staff. In: Cochrane Database Syst Rev. (3), 2004, S. CD004173. PMID 15266521
  7. vgl. Deutsche Instrument zur methodischen Leitlinien-Bewertung (www.delbi.de)
  8. Thies, Karl-Christian: Advanced Trauma Life Support: Mit Blaulicht in die Sackgasse? In: Dtsch Arztebl. 101(26), 2004, S. A-1874 / B-1564 / C-1500.
  9. M. Davis: Should there be a UK based advanced trauma course? In: Emerg Med J. 22, 2005, S. 5–6.
  10. D. McKeown: Should the UK develop and run its own advanced trauma course? In: Emerg Med J. 22, 2005, S. 6–7.
  11. J. Nolan: Training in trauma care moves on - the European Trauma Course. In: Resuscitation. 74(1), Jul 2007, S. 11–12. PMID 17466433
  12. K. Thies, C. Gwinnutt, P. Driscoll, A. Carneiro, E. Gomes, R. Araújo, M. R. Cassar, M. Davis: The European Trauma Course - from concept to course. In: Resuscitation. 74(1), Jul 2007, S. 135–141. PMID 17467871

Weblinks