Architektonische Perspektive

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Architektonische Perspektive (Francesco di Giorgio Martini zugeschrieben)
Architektonische Perspektive
Francesco di Giorgio Martini zugeschrieben, um 1490
Tempera auf Pappelholz
131 × 233 cm
Gemäldegalerie, Berlin
Vorlage:Infobox Gemälde/Wartung/Museum

Die so genannte Architektonische Perspektive (auch: Architektonische Vedute) ist ein Gemälde mit der Ansicht eines Platzes, das wahrscheinlich um 1490 in Mittelitalien entstanden ist und vermutlich Teil einer Raum- oder Möbeldekoration war. Der Maler ist unbekannt; von der kunstwissenschaftlichen Forschung wird das Bild überwiegend Francesco di Giorgio Martini zugeschrieben. Das in Tempera auf Pappelholz[1] ausgeführte Tafelbild ist streng zentralperspektivisch aufgebaut. Es ist Teil der Dauerausstellung der Gemäldegalerie Berlin (Inventarnummer 1615).[2] Zwei Gemälde mit ähnlichen Platzansichten befinden sich in der Galleria Nazionale delle Marche in Urbino[3] und im Walters Art Museum in Baltimore;[4] ein weiteres aus dem Besitz des Berliner Kunstgewerbemuseums ist seit Ende des II. Weltkriegs verloren.[5]

Beschreibung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bildbeschreibung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Bild zeigt den Blick durch eine die gesamte Bildbreite einnehmende Portikus über einen weiten, bis zum Meeresufer reichenden Platz, der an den übrigen Seiten von Gebäuden gesäumt ist. Die Seitenwände der Portikus bestehen aus von kannelierten Pfeilern begrenzten Rundbögen, die gemeinsam mit den gleichfalls kannelierten jeweils zu zweit neben- und hintereinander stehenden vier Säulen die Decke der Portikus tragen. Pfeiler und Säulen besitzen ungewöhnliche geometrisch reliefierte Kapitelle, auch ist die Kannelierung nach ein Drittel der Höhe versetzt. Die drei gleich breiten Joche der Portikus korrespondieren mit der Gliederung der als Holzvertäfelung gemalten unteren Bildrahmung. Der Boden der Loggia ist mit an Marmorinkrustationen erinnernden geometrischen Mustern aus drei mal vier Quadraten mit einem diagonal schwarz und porphyrrot abwechselnden Rautenmuster verziert. Die Unterseite der Portikusdecke zeigt eine Kassettierung mit hängenden roten und schwarzen Pyramiden. Der Platz ist menschenleer; auf der linken Bildseite sind die übermalten Reste einiger Personen zu erkennen, deren Größenmaßstab nicht recht zur sie umgebenden Architektur passt.[6]

Ansicht der rechten Seite des Gemäldes

Der erste Palast auf der linken Bildseite ähnelt in seiner Fassadengestaltung dem Florentiner Palazzo Rucellai. An ihn schließen zwei weitere Wohngebäude an; darüber ist ein Stück einer Basilika zu erkennen. Am Ufer links befindet sich ein Gebäude, das an die Engelsburg in Rom erinnert. Auf der rechten Seite des Platzes sind vier Wohngebäude dargestellt. Das Erdgeschoss des ersten Palastes ist als Portikus mit Arkaden zum Platz hin geöffnet; rechts schließt sich eine hohe gezinnte Gartenmauer an, die von Bäumen überragt wird. Das zweite Gebäude auf der rechten Platzseite besitzt einen Zinnenkranz. Am Ufer links erhebt sich ein dreigeschossiger Palazzo mit einem heute nicht mehr identifizierbaren Wappen. Auf dem Meer sind sechs Schiffe, zum Teil mit gesetzten Segeln, erkennbar.

Bildaufbau[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Gemälde ist zentralperspektivisch aufgebaut; der Blick durch den Portikus und die Pflasterung unterstützen die sogartige Wirkung der Komposition. Der Fluchtpunkt befindet sich auf der Horizontlinie in der Mitte des Bildes, leicht rechts von einem der hinteren Schiffe. Bei den Bildern in Baltimore und Urbino liegt der Fluchtpunkt in der zentralen Öffnung des Triumphbogens bzw. in der Tür des Zentralbaus im Zentrum des Platzes.[7]

Material und Technik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Bildträger besteht aus verleimten Pappelholzbrettern. Der Künstler hat, wie Streiflichtaufnahmen zeigen, mit Hilfe von Lineal und Zirkel Konstruktionslinien in die Grundierung geritzt. Danach wurde die Temperafarbe aufgebracht;[6] zum Schluss wurde das Bild wie üblich gefirnisst.

Zustand[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Farbschicht ist schadhaft und rissig. Unten rechts und oben links befinden sich außerdem tiefe Risse im Holz. Wegen seines problematischen Zustands konnte das Gemälde 2012 nicht für die Ausstellung La città ideale. L’utopia del Rinascimento a Urbino tra Piero della Francesca e Raffaello in Urbino ausgeliehen werden.[8]

Autorschaft[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Welcher Künstler das Gemälde schuf, ist unklar. Die in der kunstwissenschaftlichen Forschung überwiegend diskutierte Zuschreibung an Francesco di Giorgio Martini beruht auf der Beschreibung eines Hafens an einem großen Platz in einem seiner Architekturtraktate.[9][10] Als gesichert gilt, dass es ein Maler war, der sowohl die Architekturmalerei wie auch die Zentralperspektive beherrschte – Ende des 15. Jahrhunderts verbreitete Kenntnisse. Wegen der Ähnlichkeit zur Stadtansicht in Urbino wurden auch andere Künstler am Hof von Federico da Montefeltro wie etwa Piero della Francesca oder Luciano Laurana in die Überlegungen einbezogen.[11] In der Gemäldegalerie wird das Bild dem sienesischen Künstler Francesco di Giorgio Martini zugeschrieben.

Stadtbilder aus Baltimore und Urbino[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Città ideale – Galleria Nazionale delle Marche, Urbino (um 1480) 67,7 × 239,4 cm
The Ideal City – Walters Art Museum, Baltimore (um 1480) 80,3 × 220 cm

Es existieren aus dieser Zeit mehrere Bilder, die Parallelen zum Berliner Bild aufweisen.[12] Zwei, in diesem Zusammenhang immer wieder genannte Tafeln befinden sich in Baltimore (Walters Art Museum)[4] und Urbino (Galleria Nazionale delle Marche).[3] Sie wurden ebenfalls Künstlern des Hofes in Urbino zugeschrieben; unterscheiden sich aber deutlich sowohl vom Berliner Bild als auch untereinander. Der Kunsthistoriker Richard Krautheimer verband die Tafeln aus Baltimore und Urbino in einem frühen Aufsatz (1948) mit Bühnenbildern (scena tragica und scena comica);[13] diese Überlegung wurde von Krautheimer selbst später verworfen.[14] Für eine Verbindung der drei architektonischen Veduten – beispielsweise eine gemeinsame Beauftragung oder einen gemeinsamen Anbringungsort – gibt es keine Belege.

Die drei Gemälde sind nicht die einzigen Bilder aus dieser Zeit mit einer zentralperspektivischen Darstellung eines Stadtprospekts. Es gibt intarsierte und bemalte Cassoni (Brauttruhen) mit ähnlichen Motiven.[15][16] Eine früher im Berliner Kunstgewerbemuseum aufbewahrte Cassone-Tafel mit der Piazza Ognissanti in Florenz ist seit 1945 verloren.[5]

Anonymous, Piazza Ognissani in Florenz, 15. Jahrhundert, bis 1945 Kunstgewerbemuseum, Berlin, verschollen

Provenienz[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Bild stammt angeblich aus einer Villa bei Florenz; Nachweise hierfür existieren nicht. 1896 wurde es durch den Kaiser Friedrich-Museums-Verein in Florenz erworben und befindet sich seitdem als Dauerleihgabe in der Gemäldegalerie.[11]

Ursprüngliche Funktion[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Funktion des Gemäldes ist unbekannt. Möglicherweise war es als so genannte Spalliera Teil eines Möbels – vielleicht eines sofaartigen Tagbettes (ital. lettuccio) – oder einer Wandverkleidung.[2][6]

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Richard Krautheimer: The tragic and comic scene of the Renaissance  : the Baltimore and Urbino Panels. In: Gazette des beaux-arts. 6. Pér., Nr. 33, 1948, S. 327–346.
  • Richard Krautheimer: Scena tragica und Scena comica in der Renaissance. Die Tafeln in Baltimore und Urbino, in: Richard Krautheimer (Hrsg.): Ausgewählte Aufsätze zur europäischen Kunstgeschichte, Köln 1988, S. 334–353, ISBN 3-7701-2194-5.
  • Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz (Hrsg.): Gemäldegalerie Berlin. Gesamtverzeichnis, Berlin 1996, ISBN 978-3-87584-984-4.
  • Hubert Damisch: Der Ursprung der Perspektive, Zürich 2010, ISBN 978-3-03734-087-5.
  • Alessandro Marchi (Hrsg.): La città ideale : l’utopia del Rinascimento a Urbino tra Piero della Francesca e Raffaello. Ausstellungskatalog Urbino, Galleria Nazionale delle Marche, 6 aprile–8 luglio 2012, Mailand 2012, ISBN 978-88-370-8993-1.
  • Johannes Grave: Architekturen des Sehens. Bauten in Bildern des Quattrocento, München 2015, ISBN 978-3-7705-5800-1.
  • Claus Pelling: Die Città ideale der Berliner Gemäldegalerie. Ein Gemälde von Paolo Uccello?, Rahden 2020, ISBN 978-3-86757-087-9.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Commons: Architektonische Perspektive (Gemäldegalerie) – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Zu den Gemälden in Berlin, Urbino und Baltimore:

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Catalogo. In: Marchi (Hrsg.): La città ideale : l’utopia del Rinascimento a Urbino tra Piero della Francesca e Raffaello. Ausstellungskatalog, Urbino, Galleria Nazionale delle Marche, 6 aprile–8 luglio 2012. 2012, S. 124.
  2. a b Hannelore Nützmann: Architektonische Perspektive. In: SMB Digital. Archiviert vom Original am 24. Juni 2020;.
  3. a b Città Ideale. In: gallerianazionalemarche.it. Abgerufen am 23. Juni 2020 (italienisch).
  4. a b The Ideal City. In: art.thewalters.org. Abgerufen am 23. Juni 2020 (englisch).
  5. a b Prospekt eines fiktiven, an die Piazza Ognissanti in Florenz erinnernden Platzes mit dem Palazzo Lenzi, Spalliera-Tafel, 36 × 147 cm, früher Berlin, Kunstgewerbemuseum Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Inv. Nr. 1885,884; Heinz Lehmann: Une vue de Place Ognissanti à Florence. In: Gazette des Beaux-Arts. Band 6, Nr. 1, 1936, S. 244–247 (bnf.fr [abgerufen am 25. Juli 2022]).
  6. a b c Christine Seidel: Inszenierung in der Gemäldegalerie: Neue Wege zwischen alten Italienern. In: blog.smb.museum. 28. April 2016, abgerufen am 2. Juli 2020.
  7. Véronique Mérieux: Le panneau dit de Berlin (1477)Appareillage pour l’imaginaire. In: Italies. Littérature – Civilisation – Société. Nr. 17/18, 1. Oktober 2014, ISSN 1275-7519, S. 411–428, doi:10.4000/italies.4835 (openedition.org [abgerufen am 24. Juni 2020]).
  8. La Città Ideale – The Ideal City. In: vallenuova.it. Abgerufen am 2. Juli 2020 (englisch).
  9. Francesco di Giorgio Martini: Trattato di architettura civile e militare. Cesare Saluzzo, 1841, abgerufen am 7. Juli 2020 (italienisch).
  10. Francesco di Giorgio Martini: Trattati di architettura ingegneria e arte militare. Hrsg.: Corrado Maltese. Band 2. Mailand 1967.
  11. a b Architektonische Vedute. In: kaiser-friedrich-museumsverein.de. Abgerufen am 23. Juni 2020.
  12. Luca Onniboni: The “Ideal City” in three Renaissance paintings. In: archiobjects.org. Abgerufen am 23. Juni 2020 (englisch).
  13. Richard Krautheimer: The tragic and comic scene of the Renaissance  : the Baltimore and Urbino Panels. In: Gazette des beaux-arts. 6. Pér., Nr. 33, 1948, S. 327–346.
  14. Richard Krautheimer: "Scena tragica und Scena comica in der Renaissance. Die Tafeln in Baltimore und Urbino". In: Richard Krautheimer (Hrsg.): Krautheimer, Richard: "Scena tragica und Scena comica in der Renaissance. Die Tafeln in Baltimore und Urbino – Ausgewählte Aufsätze zur europäischen Kunstgeschichte. Köln 1988, S. 334–353.
  15. Maria Angela Tolazzi: L’Arte Svelata. Band 3, 2015, S. 217 (italienisch).
  16. Cassone con prospettiva di citta' ideale. Abgerufen am 9. Juli 2020 (italienisch).