Fraktionsdisziplin

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Als Fraktionsdisziplin (in Österreich Klubdisziplin) wird das Ausmaß bezeichnet, in dem die Mitglieder einer parlamentarischen Fraktion ein einheitliches Abstimmungsverhalten zeigen. Als negativ konnotiertes Synonym wird häufig auch der Begriff Fraktionszwang (Klubzwang) verwendet. Es betont den Druck, dem einzelne Abgeordnete von Seiten der Fraktionsführung und anderen Fraktionsmitgliedern ausgesetzt sind, eigene Positionen zugunsten der Fraktionssicht zurückzustellen. Aus Parteiensicht wird hingegen oft der Begriff Fraktionssolidarität benutzt, der das gemeinsame Interesse der Fraktionsmitglieder an einem geschlossenen Auftreten gegenüber den anderen Parteien unterstreicht.

Ein förmlicher Fraktionszwang ist in Deutschland, Österreich, der Schweiz und vielen anderen Ländern verfassungswidrig[1], da er gegen das Prinzip des freien Mandats verstößt. Trotzdem wird bei einem Großteil der Abstimmungen im Parlament den Abgeordneten von der Fraktionsführung ihr Abstimmungsverhalten vorgeschrieben. In einer Parteiendemokratie existiert immer ein informeller Fraktionszwang, da eine Partei indirekte Sanktionen androhen oder ausüben kann, etwa indem sie die Wiederwahl eines „Abweichlers“ nicht unterstützt.[2]

Gründe

Es wird heute überwiegend davon ausgegangen, dass eine gewisse Fraktionsdisziplin für ein parlamentarisches Regierungssystem nötig ist, um die erforderliche Stabilität und Zuverlässigkeit bei der Beschlussfassung zu gewährleisten. Als Gründe für die Fraktionsdisziplin werden genannt:

  • Jede Partei muss sich, um ihre Interessen durchsetzen zu können, auf ihre Abgeordneten verlassen, und umgekehrt sind die Abgeordneten der Partei im Wahlkampf meist auf die Unterstützung der Partei angewiesen. Außerdem erwartet der Wähler für seine Wahlentscheidung meist ein klares Profil der Partei, das nur durch ein im Wesentlichen einheitliches Abstimmungsverhalten erreicht werden kann.
  • Wenn Abgeordnete sich nicht an das Programm ihrer Partei (oder bei Koalitionsregierungen nicht an das Koalitionsprogramm) halten, so werden diese Entscheidungspakete wieder aufgeschnürt. Dies wird als problematisch gesehen, weil beim Mehrheits-Prinzip durch die Bündelung der einzelnen Punkte in einem Programm eine unterschiedlich starke Betroffenheit der Wähler von den Einzelentscheidungen besser berücksichtigt werden kann.
  • Kein Abgeordneter kann in allen Fachthemen ausreichende Sachkenntnis haben und muss sich daher an den Meinungen Anderer orientieren. So kann ein Fraktionsmitglied in Teilbereichen die Fraktionsmeinung maßgeblich prägen, während es sich in anderen Teilbereichen darauf verlassen kann, dass die Entscheidungen der Fraktion von darauf spezialisierten Experten anhand von fundierten Argumenten gefällt werden.
  • Ohne Fraktionsdisziplin wäre die Arbeitsfähigkeit der Regierung stark eingeschränkt, da von Abweichlern aus der eigenen Fraktion und von der Opposition (deren Abgeordnete der Meinung sind, die Regierung müsse abgelöst werden) die Gesetzgebung blockiert werden würde.
  • Es kann durchaus eine Gewissensentscheidung sein, Gesetzen zuzustimmen, die nicht der eigenen Überzeugung entsprechen, da Alternativen (Regierungswechsel) oder die Unterstützung durch die Fraktion bei einem anderen Thema schwerer wiegen. Innerparteiliche Diskussionen, die durch viele von der Fraktionsmehrheit im Parlament abweichend Stimmende an die Öffentlichkeit gelangen, können dazu führen, dass die Partei als uneinig und zerstritten wahrgenommen wird. Ein solches Image sehen manche als Grund schlechterer Wahlergebnisse.

Unterschiede in verschiedenen Parlamenten

Je nach politischem System und politischer Kultur kann die Fraktionsdisziplin in verschiedenen Staaten unterschiedlich stark ausgeprägt sein. So ist etwa in Staaten mit einem Verhältniswahlrecht die Rolle der Parteien für den Wahlkampf deutlich wichtiger als in Staaten mit Mehrheitswahlrecht. Über die Aufstellung von Wahllisten haben die Parteien hier einen größeren Einfluss auf die Kandidaturen und damit ein wirksames Sanktionsinstrument. Zugleich werden Kandidaten von Wählern häufig vor allem als Mitglieder ihrer Partei wahrgenommen; es wird also erwartet, dass sie nach der Wahl deren Programm umsetzen.

In reinen Mehrheitswahlsystemen, wie sie etwa in Großbritannien und den USA üblich sind, steht dagegen die individuelle Persönlichkeit der Wahlkreiskandidaten stärker im Mittelpunkt von Wahlkämpfen; prominente einzelne Politiker sind daher weniger auf die Unterstützung ihrer Partei angewiesen und haben häufiger ein Interesse daran, sich in ihren Heimatwahlkreisen gegebenenfalls auch gegen die Parteilinie zu profilieren. Um dennoch eine einheitliche Abstimmungsweise der Fraktionen zu gewährleisten, spielt in Großbritannien die Figur des Whip eine wichtige Rolle, der im Sinne der Parteilinie Druck auf einzelne Parlamentarier ausübt. Partei- und Fraktionsausschlüsse infolge abweichenden Abstimmungsverhaltens sind hier – etwa im Vergleich zu Deutschland – verhältnismäßig einfach durchzusetzen. In präsidentiellen Systemen wie den USA, wo auch die Wahlkampffinanzierung häufig von den Abgeordneten selbst und nicht von den Parteien bestritten wird, ist der Einfluss der Whips geringer und auch die Fraktionsdisziplin ist insgesamt niedriger. Der daraus folgende Verlust an politischer Stabilität des Parlaments wird im politischen System der USA durch die verhältnismäßig starke Exekutive wieder ausgeglichen.

Deutschland

In der Bundesrepublik Deutschland sind die Bundestagsabgeordneten laut Art. 38 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. In der Realität wird aber auch der Deutsche Bundestag durch Parteien und Fraktionen dominiert. Eine Bundestagsfraktion hat durchaus Möglichkeiten (soziale Kontrolle, Verhinderung der Wiederwahl eines Abgeordneten, Hinweis auf mögliche Folgen für andere Themen, Außendarstellung der Partei), Abgeordnete zu einem fraktionskonformen Abstimmungsverhalten zu bewegen.[3]

Die Fraktion stimmt meist vorher (intern) über eine Entscheidung ab; an das Ergebnis dieser Abstimmung halten sich fast immer alle Mitglieder der Fraktion. Die Fraktionsdisziplin ist in keinem Gesetz und keiner Geschäftsordnung verankert; sie wird jedoch, gerade bei Koalitionsregierungen, regelmäßig in den Koalitionsverträgen deutscher Parteien festgeschrieben.[4][5] Die Sicherstellung der einheitlichen Abstimmungsweise zählt zu den Aufgaben des parlamentarischen Geschäftsführers der Fraktionen. Lässt sich die Fraktionsdisziplin in der Regierungskoalition nicht einfach durchsetzen, kann der Bundeskanzler eine Gesetzesabstimmung mit einer Vertrauensfrage verknüpfen, um so den Druck auf die Abgeordneten zu erhöhen.

Ein Abgeordneter hat jederzeit das Recht, seine Fraktion zu verlassen. Umgekehrt können Abgeordnete bei „fraktionsschädigendem Verhalten“ auch aus ihrer Fraktion ausgeschlossen werden; diese Entscheidung unterliegt allerdings strengeren Bedingungen und ist gerichtlich anfechtbar. Ein ausgetretener oder ausgeschlossener Abgeordneter behält sein Mandat und bleibt als fraktionsloser Abgeordneter im Parlament. Er verliert damit aber bestimmte Rechte, die nur Mitgliedern einer Fraktion zustehen.

Insbesondere bei sogenannten „Gewissensentscheidungen“ (wie zum Beispiel bezüglich Schwangerschaftsabbruch, der Verlängerung der Verjährungsfrist von NS-Verbrechen oder bei der Debatte über die Legalisierung der Präimplantationsdiagnostik) gibt die Fraktionsführung in der Regel die Abstimmungen frei.

Europäisches Parlament

Im Europäischen Parlament, dessen Fraktionen sich aus europaweiten Parteienzusammenschlüssen zusammensetzen, war die Fraktionsdisziplin zunächst sehr schwach ausgeprägt. Obwohl die Sitzordnung sich seit Gründung des Parlaments an den Fraktionen, nicht an der nationalen Herkunft der Abgeordneten orientierte, erfolgten Abstimmungen häufig auch entlang nationaler Grenzen. Dies lag zum einen an den programmatischen Unterschieden der verschiedenen nationalen Mitgliedsparteien der Fraktionen, zum anderen aber auch an den geringen Mitspracherechten, die das Parlament insgesamt in der Europapolitik besaß: Einzelne Parlamentarier konnten deshalb häufiger von der Fraktionslinie abweichen, da das Ergebnis der Abstimmung letztlich ohnehin nur begrenzte Bedeutung hatte.

Dies änderte sich zum einen durch die Entstehung der Europaparteien seit den 1970er Jahren, zum anderen durch die gestiegenen Mitspracherechte seit Einführung des Mitentscheidungsverfahrens im Vertrag von Maastricht 1992. Insbesondere seit den 1990er Jahren setzte eine zunehmende „Professionalisierung“ des Parlaments ein, die sich auch durch eine höhere Fraktionsdisziplin ausdrückte. So stimmten die Abgeordneten der größeren Fraktionen in der Legislaturperiode 2004–2009 in rund 90 % aller Entscheidungen im Sinne ihrer Fraktion.[6] Die europaskeptischen Fraktionen (UEN und Ind/Dem) hatten hingegen deutlich niedrigere Kohäsionsraten (76 % bzw. 47 %). Da es im Europäischen Parlament jedoch nach wie vor keine Aufteilung in Regierungs- und Oppositionsfraktionen gibt, sind die Mehrheiten hier weiterhin flexibler und der Fraktionszwang geringer als in den meisten nationalen Parlamenten. Hinzu kommt, dass die Europaparteien keinen Einfluss auf die Kandidatenlisten bei der Europawahl haben. Diese werden jeweils von den einzelnen nationalen Parteien ausgearbeitet, sodass die Abgeordneten von diesen im Zweifel stärker unter Druck gesetzt werden können als von der europaweiten Dachpartei.

Geschichte

Schon die ersten politischen Klubs (Fraktionen) in der Assemblée nationale der Französischen Revolution 1791 sowie in Deutschland in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 bemühten sich durch ein geschlossenes Abstimmungsverhalten den Einfluss ihrer Mitglieder auf das Parlament zu verstärken. Allerdings waren diese Klubs zunächst nur sehr instabile Verbindungen, die meist keine organisierte Mitgliedschaft und internen Abstimmungsmechanismen besaßen. Die interne Kohärenz der Abstimmungen war daher deutlich niedriger.

Mit der Entstehung der modernen Parteien gewann die Fraktionsdisziplin als Bestandteil politischer Willensbildung an Bedeutung. Insbesondere marxistisch orientierte Parteien vertraten häufig das Konzept eines imperativen Mandats, durch das die einzelnen Abgeordneten an den Willen der Partei und damit wiederum an den Wählerwillen gebunden sein sollten. In Deutschland wurde die Fraktionsdisziplin während des Bismarck-Reiches besonders von der SPD durchgesetzt, die dadurch ihren Einfluss als wichtigste Oppositionspartei des Reichstags sicherstellte. Allerdings führte diese konsequente Haltung schließlich auch zur Spaltung der Partei infolge der Uneinigkeiten über die Burgfriedenspolitik während des Ersten Weltkriegs. Nachdem eine Gruppe von 18 Abgeordneten unter Führung des Partei- und Fraktionsvorsitzenden Hugo Haase gegen die von der Mehrheit der Fraktion geforderten Kriegskredite gestimmt hatte, wurden diese 1916 aus der Fraktion ausgeschlossen und gründeten 1917 die USPD.

In der Weimarer Republik schließlich zeichnete sich vor allem die KPD durch einen strengen Fraktionszwang aus, indem sie ihre Mitglieder Blankovorlagen für einen Verzicht auf ihr Mandat unterzeichnen ließ, von denen sie bei Verstoß gegen die Parteilinie Gebrauch machen konnte. Diese Praxis wurde jedoch für verfassungswidrig erklärt.

Siehe auch

Literatur

Weblinks

Fußnoten

  1. Otto Model, Carl Creifelds, Gerhard Zierl: Staatsbürger-Taschenbuch. Alles Wissenswerte über Europa, Staat, Verwaltung, Recht und Wirtschaft mit zahlreichen Schaubildern. 30. Auflage. Beck, München 2000, ISBN 3-406-46485-8, S. 137.
  2. Manfred G. Schmidt: Das politische System Deutschlands. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2008, ISBN 978-3-89331-741-7, S. 140.
  3. Möglichkeiten nannte z.B. Volker Kauder (CDU) im August 2015: FAZ.net 10. August 2015: Kauders missratene Kampfansage
  4. Koalitionsvertrag CDU-CSU-SPD vom 16. Dezember 2013 (PDF-Datei; 1.649 kB), Seite 128
  5. Koalitionsvertrag SPD-Grüne vom 16. Oktober 2002 (PDF-Datei; 731 kB), Seite 88
  6. VoteWatch.eu: Kohäsionsraten der Fraktionen im Europäischen Parlament 2004–09 (englisch).