Gemeinsam Leben Lernen

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Gemeinsam Leben Lernen
Rechtsform Eingetragener Verein
Gründung 1980
Sitz München
Zweck Gemeinsames Leben von Menschen mit und ohne Behinderungen.
Aktionsraum Deutschland
Vorsitz Konstanze Riedmüller
Geschäftsführung Thomas Plischke
Website gll-muenchen.de

Der Verein Gemeinsam Leben Lernen (GLL) e. V. ist ein im Jahr 1980[1] gegründeter gemeinnütziger[2] Verein mit Sitz in München. Der Verein betreibt mehrere integrative Wohngemeinschaften in München und Umgebung und unterstützt die gleichberechtigte Teilnahme von Menschen mit und ohne Behinderung am Leben in der Gesellschaft.

Die erste Wohngemeinschaft des Vereins in München-Neuhausen, in die im September 1989 neun Personen einzogen, war bundesweit das erste Projekt, in welchem Menschen mit geistiger Behinderung und Studierende sich zusammengefunden hatten, um gemeinsam in einer Wohngemeinschaft zu wohnen.[3]

Grundziele[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Verein setzt sich im Rahmen des Evangelisch-Lutherischen Dekanatsbezirks München für ein Menschenleben in Vielfalt und in Verschiedenheit ein. Er ist hierbei an der biblischen Aussage des Menschen als Ebenbild Gottes orientiert, als christliches Fundament der Arbeit des Vereins. Inklusion wird dabei gemeinsam gelebt und das Zusammenleben als ein gemeinsamer Lernprozess aufgefasst.[4]

Die vom Verein umgesetzte gemeinsame Wohnform ermöglicht die Integration von Menschen mit Behinderung auf partnerschaftlicher Basis und „auf Augenhöhe“.[5]

Tätigkeiten und Angebote[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wohngemeinschaften[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Am Beispiel der WG in Neuhausen liegt dem Modell folgendes Konzept zugrunde: In einer Wohngemeinschaft wohnen fünf Menschen mit Behinderung und vier Studenten, und die Wohngemeinschaft wird von einer externen sozialpädagogischen Fachkraft sowie durch einen Teilnehmer eines Freiwilligendienstes (Freiwilliges Soziales Jahr, Bundesfreiwilligendienst) unterstützt.[6][7] Dieses Konzept würde man heute unter den Begriff „Hilfe-Mix“ fassen.[8] Seit einigen Jahren ist ein Reinigungsdienst angeheuert, der die Gemeinschaftsräume putzt.[6] Die vier nichtbehinderten Mitbewohner wohnen mietfrei, bringen sich in die WG ein und leisten an einem Wochentag ab nachmittags bis zum nächsten Morgen Dienst, sowie ein Wochenende im Monat einschließlich Freitagnachmittag; tagsüber sind behinderte Bewohner in Werkstätten tätig oder besuchen eine Tagesförderstätte.[6] Viel Kommunikation, Hilfe bei alltäglichen Handlungen sowie gemeinsame Aktivitäten und Urlaube gehören zum WG-Leben dazu.

Die Wohngemeinschaft finanziert sich unter anderem aus der Eingliederungshilfe. Hierzu wurde mit dem Bezirk Oberbayern als Träger der Eingliederungshilfe eine Leistungsvereinbarung für integrative ambulant betreute Wohngemeinschaften getroffen.[5]

Nach der Eröffnung der ersten Wohngemeinschaft des Vereins in München-Neuhausen im September 1989 in einer Villa, die ein kinderloses Ehepaar der Stadt vermacht hatte,[6] wurden in den Jahren 1996, 2005, 2006, 2010, 2014 und 2015 weitere WGs eröffnet.[8] Der Verein führt zwei Wohngemeinschaften des Typs 24/7: eine in Riem, eine am Domagkpark. Er führt sechs weitere Wohngemeinschaften: im Bezirk Am Hart, in Gräfelfing, in Gröbenzell, in Großhadern, in Neuhausen und in Perlach. Außerdem führt er zwei individuelle Wohnungen am Domagkpark und in Gräfelfing (Stand: 2020).[9] Die WG in der Villa in Neuhausen besteht weiterhin.

Zwar werden derartige Ansätze inzwischen meistens inklusives Wohnen genannt, aber der Verein bleibt ausdrücklich bei der ursprünglichen Bezeichnung „integrative Wohngemeinschaft“.[8] Angesichts der starken Nachfrage nach dieser Wohnform sprach GLL-Geschäftsführer Rudi Sack 2019 von „Wartelisten, die wir in 100 Jahren nicht bewältigen können.“[10]

Fast alle Wohngemeinschaften des Vereins sind barrierefrei gestaltet und dadurch auch für Rollstuhlfahrer zugänglich.[8]

Es gab auch Vorbehalte gegenüber der neuen Wohnform. Beispielsweise bezweifelte das Sozialamt, dass die nicht behinderten Studenten nachts aufstehen, um ihren Mitbewohnern bei Bedarf zu helfen, und generell ihren Aufgaben auf die richtige Weise nachkommen, weil dem Träger im Vergleich zu herkömmlichen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen ein dienstrechtliches Durchgriffsrecht auf die Mitbewohner fehle. Der GLL-Geschäftsführer berichtet demgegenüber, dass sich das Misstrauen inzwischen in Vertrauen gewandelt habe und dass sich Probleme erfahrungsgemäß im Dialog lösen ließen.[10][11]

Haus- und Hofgemeinschaft[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Jahr 2021 startete der Verein die Haus- und Hofgemeinschaft München Ludwigsfeld. In einem Mehrfamilienhaus wohnen insgesamt knapp 20 Menschen, davon sechs mit Behinderung, in elf Wohnungen; hinzu kommen ein Gemeinschaftsbereich und ein Gästewohnung. Die Bewohner leben dort als Singles, Paare oder Familien; auch hier sind Bewohner ohne Behinderung in die Assistenz ihrer Mitbewohner mit Behinderung eingebunden und erhalten im Gegenzug eine Mietminderung; hinzu kommt Unterstützung durch eine sozialpädagogische Fachkraft und eine Person im Freiwilligendienst (FSJ / BFD).[12][13][14][15] Die Haus- und Hofgemeinschaft entstand als Pilotprojekt im Rahmen des Modells „Ambulantisierung und Wohnraum“ des Bezirks Oberbayern in Anlehnung an Wohnungsbau-Genossenschaften und Mehrgenerationen-Projekte.[16] Auf dem Gelände befinden sich außerdem weitere, an Familien vermietete Gebäude sowie eine Pferdekoppel mit Reittherapie, eine Inobhutnahmestelle und ein Wohnheim für Kinder und Jugendliche.[17]

Ambulanter Dienst[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der ambulante Dienst des Vereins Gemeinsam Leben Lernen bietet einen Schulbegleiterdienst an. Zum Angebot zählen außerdem offene Behindertenarbeit und Beratung, Einzelne Teilhabeleistungen, Pflegeleistungen und Projektarbeit.[9] Unter anderem werden andere Organisationen dabei unterstützt, ähnliche oder abgewandelte Modelle umzusetzen.[8]

Grenzen des Modells[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Aus der Erfahrung heraus geht der Verein „mit schlechtem Gewissen“ inzwischen davon aus, dass die Wohnform einer integrativen WG an ihre Grenzen stößt, wenn Menschen eine geistige Behinderung in Kombination mit erheblich herausforderndem Verhalten oder einer zusätzlichen psychischen Erkrankung aufweisen, denn Mitarbeiter haben keine Möglichkeit, sich nach „Beendigung der Dienstzeit“ abzugrenzen, weil sie dort wohnen.[8]

Um den familiären Charakter des Vereins beizubehalten und eine zu große Institutionalisierung zu vermeiden, begrüßt es der Verein, wenn andere Organisationen das Modell zwar aufgreifen, es aber in eigener Verantwortung umsetzen.[8][18]

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Verein entstand laut eigenen Angaben zunächst als ein Zusammenschluss von Eltern junger Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung, die gemeinsam an Freizeitaktivitäten der Offenen Behindertenarbeit (OBA) der Evangelischen Jugend München teilgenommen hatten.[1] Ursprünglich war der Verein als Förderverein zur Unterstützung der Freizeitangebote im Rahmen der Offenen Behindertenarbeit konzipiert.[19]

Etwa 1983 kam die Idee einer inklusiven Wohngemeinschaft von der Gruppe junger Menschen, die in der OBA der Evangelischen Jugend gemeinsam ehrenamtlich tätig waren und am Beginn ihres Studiums standen.[20] Ihr Leitbild für die neue Wohnform war das Konzept einer Studenten-WG.[8]

Vernetzung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der GLL ist Mitglied in der LAG Bayern Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen e.V.[21]

Inzwischen gibt es mehrere Träger integrativer bzw. inklusiver Wohngemeinschaften für Menschen mit und ohne Behinderungen. Nach Schätzungen von Experten bestehen in der Bundesrepublik derzeit etwa 50 inklusive Wohngemeinschaften.[22] Der GLL ist eines der Gründungsmitglieder des bundesweiten Vereins Wohn:Sinn – Bündnis für inklusives Wohnen.[23]

Medienecho[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Über den Verein wurde mehrfach in Printmedien[3][24] und Fernsehen bzw. Videomedien berichtet.[25][26][27][28][29] Vertreter des Vereins werden als Experten auch überregional zum Thema integrative bzw. inklusive Wohnformen zu Rate gezogen.[10][22]

Auszeichnungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Folgende Auszeichnungen wurden in direktem oder indirektem Zusammenhang mit dem GLL vergeben:

  • 2012: Inklusionspreis des Bezirks Oberbayern für das inklusive Wohnprojekt im Domagkpark.[30]
  • 2019: Die Vorsitzende Konstanze Riedmüller erhielt die Bayerische Verfassungsmedaille in Silber für ihr „herausragendes Engagement für Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Behinderung“.[31] Die Juristin war 14 Jahre lang im Vorstand des Münchner Eltern- und Trägervereins „Helfende Hände“, ist seit 2005 im Vorstand des Landesverbandes für körper- und mehrfachbehinderte Menschen und seit 2012 dessen Vorsitzende.[32] Sie war mehrere Jahre stellvertretende Vorsitzende des GLL und ist seit 2018 dessen erste Vorsitzende.[33][34]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Rudi Sack: Leben unter einem Dach: Menschen mit und ohne Behinderung wohnen zusammen. In: Inklusion – Wohnen – Sozialraum. Grundlagen des Index für Inklusion zum Wohnen in der Gemeinde, Lebenshilfe-Verlag, Marburg 2016, S. 323–332.[8] (2. Auflage 2017, ISBN 978-3-88617-220-7.)

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b Wo wir herkommen. Gemeinsam Leben Lernen e. V., 2020, abgerufen am 17. November 2020.
  2. Kontakt. Gemeinsam Leben Lernen e. V., 2020, abgerufen am 17. November 2020.
  3. a b Berthold Neff: In der Bundesrepublik bisher einmaliges Projekt: Mit Behinderten zusammenleben. In: Süddeutsche Zeitung. September 1989, abgerufen am 17. November 2020.
  4. Was wir wollen. Gemeinsam Leben Lernen e. V., 2020, abgerufen am 17. November 2020.
  5. a b KonzeptionIntegrative Wohngemeinschaft. Gemeinsam Leben Lernen e. V., 31. Oktober 2019, abgerufen am 19. November 2020.
  6. a b c d Annette Wild: Keiner geht hier so raus, wie er reingegangen ist. In: BISS. Mai 2014, abgerufen am 17. November 2020. S. 6–13.
  7. FSJ/BFD. Gemeinsam Leben Lernen e. V., 2020, abgerufen am 17. November 2020.
  8. a b c d e f g h i Rudi Sack: Leben unter einem Dach: Menschen mit und ohne Behinderung wohnen zusammen. In: Inklusion – Wohnen – Sozialraum. Grundlagen des Index für Inklusion zum Wohnen in der Gemeinde, Lebenshilfe-Verlag, Marburg 2016, S. 323–332.
  9. a b Organigramm. Gemeinsam Leben Lernen e. V., 2020, abgerufen am 17. November 2020.
  10. a b c Dieter Sell: Inklusive Wohngemeinschaften. „Spezialisten fürs Alltägliche“. In: Frankfurter Rundschau (fr.de). 4. November 2019, abgerufen am 17. November 2020.
  11. Heimatrauschen – Beitrag im BR-Magazin zu 30 Jahre WG Neuhausen (2019).Online, ab Minute 3:27.
  12. Menschen mit und ohne Behinderung leben zusammen: Alle unter einem Dach. In: Orientierung 02/2021. S. 13–14 (beb-orientierung.de [PDF; abgerufen am 18. März 2023]).
  13. Leitung der Haus-und Hofgemeinschaft München Ludwigsfeld. In: gll-muenchen.de. 2020, abgerufen am 18. März 2023.
  14. Haus- und Hofgemeinschaft. In: gll-muenchen.de. Abgerufen am 14. April 2024.
  15. Die Haus- und Hofgemeinschaft. In: Flyer, bezirk-oberbayern.de. Bezirk Oberbayern, Dezember 2023, abgerufen am 14. April 2024.
  16. Haus- und Hofgemeinschaft. In: bezirk-oberbayern.de. Bezirk Oberbayern, abgerufen am 14. April 2024.
  17. Lena Stephan: Zwischen Rückzug, Remmidemmi und Reiterhof. In: wohnsinn.org. Abgerufen am 14. April 2024.
  18. Integration als Lebenstraum. Interview mit Rudi Sack über die Geschichte der integrativen Wohngemeinschaften (ab 0:07:30) auf YouTube, abgerufen am 18. November 2020.
  19. Konzeption Integrative Wohngemeinschaft. In: stammtisch-wohnen.de. Gemeinsam Leben Lernen e. V., 10. Juli 2014, abgerufen am 17. November 2020.
  20. Integration als Lebenstraum. Interview mit Rudi Sack über die Geschichte der integrativen Wohngemeinschaften auf YouTube, abgerufen am 17. November 2020..
  21. Regionale Vereine LAG Bayern Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen e. V. In: inklusionleben.com. Abgerufen am 17. November 2020.
  22. a b Dieter Sell: Zusammenleben: Inklusive Wohngemeinschaften haben „Wartelisten, die wir in 100 Jahren nicht bewältigen können“. In: sonntagsblatt.de. 19. November 2019, abgerufen am 17. November 2020.
  23. Wohn:Sinn – Bündnis für inklusives Wohnen e. V. In: wohnsinn.org. 2020, abgerufen am 17. November 2020.
  24. Pullach: „Wie in einer Studenten-WG“. In: sueddeutsche.de. Abgerufen am 17. November 2020.
  25. Hanna Klein, Zusammenleben mit Menschen mit Behinderung: „Die sind nur ein bisschen verrückter“: WG zeigt, wie Inklusion funktionieren kann, Focus (Video).
  26. Fernsehbeitrag 2008 des Bayerischen Rundfunks im Rahmen der Reihe " Vita über die integrative Wohngemeinschaft in München-Am Hart auf YouTube, abgerufen am 17. November 2020.
  27. Bericht von SAT 1 BAYERN über die integrative Wohngemeinschaft in München-Neuhausen auf YouTube, 2014, abgerufen am 17. November 2020..
  28. Fernsehbeitrag über die integrative Wohngemeinschaft Gräfelfing in Menschen – das Magazin, ZDF 13. Januar 2017 auf YouTube, abgerufen am 17. November 2020..
  29. WG: Zimmer umsonst, aber für Arbeit – ARD Alpha / BR. Reportage auf YouTube, abgerufen am 17. November 2020..
  30. Wohnen. Gemeinsam Leben Lernen e. V., 2020, abgerufen am 16. November 2020.
  31. Rudi Sack: Hohe Auszeichnung für GLL-Vorsitzende. Gemeinsam Leben Lernen e. V., 20. Februar 2019, abgerufen am 17. November 2020.
  32. Verfassungsmedaille für Konstanze Riedmüller. In: sueddeutsche.de. 22. Februar 2019, abgerufen am 17. November 2020.
  33. Rudi Sack: Neuer Vorstand gewählt. Gemeinsam Leben Lernen e. V., 25. Juni 2015, abgerufen am 17. November 2020.
  34. Vorstand. Gemeinsam Leben Lernen e. V., 2020, abgerufen am 17. November 2020.