Ne bis in idem

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Der Grundsatz ne bis in idem (lateinisch für nicht zweimal in derselben [Sache]), eigentlich bis de eadem re ne sit actio (‚zweimal sei in derselben Sache keine Gerichtsverhandlung‘) soll auf den athenischen Redner Demosthenes (* 384 v. Chr.; † 322 v. Chr.) zurückgehen. Er wurde aber wohl erst später formuliert. Ne bis in idem beschreibt einen Teilaspekt der materiellen Rechtskraft: Ein mit Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbares Urteil klärt einen bestimmten Sachverhalt im Umfang des Tenors abschließend. Der Sachverhalt darf dann grundsätzlich nicht mehr zum Gegenstand einer neuen richterlichen Entscheidung gegen den Betroffenen gemacht werden. Mit dieser Bedeutung als Wiederholungsverbot gilt er in allen Rechtsbereichen.[1] Viele Staaten haben unter Vorrangstellung der materiellen Gerechtigkeit gegenüber der formellen unter bestimmten Voraussetzungen – z. B. bei nachträglichem Geständnis des Täters – Einschränkungen dieses Grundsatzes vorgenommen. In Indien und Mexiko ist der Grundsatz bislang uneingeschränkt gültig, da er verfassungsrechtlich abgesichert ist.

Für den Bereich des Strafrechtes ist ne bis in idem als Verbot der Doppelbestrafung ein fundamentaler Grundsatz eines jeden fairen Strafprozesses. Er findet sich in unterschiedlichen Gestaltungen in allen modernen (Straf-)Rechtsordnungen wieder.

Das Verbot der Doppelbestrafung stellt für den Einzelnen ein subjektiv-öffentliches Recht dar. Die Terminologie ist nicht immer einheitlich, überwiegend wird vom ne bis in idem als Grundrecht oder jedenfalls grundrechtsgleichem Recht gesprochen. Wegen der Bedeutung für das rechtsstaatliche Strafverfahren ist auch der Begriff des Justiz- oder Prozessgrundrechts gebräuchlich.

Regelungen in Deutschland

Obwohl der Grundsatz des ne bis in idem in Deutschland auch außerhalb des Strafrechts seine Bedeutung hat, wird der Begriff überwiegend im strafrechtlichen Kontext verwendet. Er hat hier durch die Regelung in Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz Verfassungsrang.

Für den Bereich des Strafrechtes gilt demnach, dass eine angeklagte prozessuale Tat durch ein rechtskräftiges Urteil grundsätzlich endgültig rechtlich bewertet ist. Der Tatvorwurf (d. h. der der Anklage zugrundeliegende Sachverhalt) ist damit für weitere Prozesse nicht mehr verwertbar – es liegt insofern ein Strafklageverbrauch vor. So kann ein Täter, der rechtskräftig wegen eines Totschlags verurteilt wurde, nicht nach Abschluss des Verfahrens noch einmal wegen Mordes an derselben Person verurteilt werden, wenn die Mordmerkmale später erst festgestellt werden. Der Grundsatz gilt allerdings immer nur in Bezug auf eine konkrete Tat. Er bedeutet nicht, dass beispielsweise ein Bankräuber nicht verurteilt werden kann, wenn er dieselbe Bank später ein weiteres Mal überfällt oder dass ein wegen einer Tat unschuldig Verurteilter einen "Freischuss" bekommt, die Tat dann nachträglich zu begehen. Dies wäre dann eine andere Tat – nicht die, für die er verurteilt wurde.

Der Grundsatz ne bis in idem reicht aber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über ein bloßes Verbot der Doppelbestrafung hinaus. Er verbietet grundsätzlich auch eine erneute Strafverfolgung. Denn der Betroffene soll durch ihn auch vor den existentiellen Unsicherheiten eines zweiten Strafverfahrens in derselben Sache geschützt werden.

Ausnahmen vom Grundsatz ne bis in idem sind nur in äußerst eng begrenzten Fällen möglich, nämlich wenn ein Verfahren wiederaufgenommen wird. Dafür sieht die Strafprozessordnung Deutschlands (StPO) – erst recht zum Nachteil des Angeklagten (nur hier kommt ein Verstoß gegen den ne-bis-in-idem-Grundsatz in Betracht) – sehr enge Voraussetzungen vor. Das Nichtvorliegen eines Strafklageverbrauchs im Sinne von Art. 103 Abs. 3 GG (ne bis in idem) ist wesentliche Verfahrensvoraussetzung.

Zu unterscheiden ist zwischen:

  • unbeschränktem Strafklageverbrauch zum Beispiel durch
    • Sachurteil über dieselbe prozessuale Tat,
    • Prozessurteil über dieselbe prozessuale Tat (§ 260 Abs. 3 StPO), falls darin von einem unbehebbaren Verfahrenshindernis ausgegangen wird,

und

  • beschränktem Strafklageverbrauch zum Beispiel bei

Nicht zu einem Strafklageverbrauch führen in der Regel ausländische Urteile, es sei denn, es bestehen internationale Abkommen der beteiligten Länder hierüber. Hier ist insbesondere das Schengener Abkommen zu nennen, in dem sich die meisten europäischen Länder zu einer Zusammenarbeit im Bereich des Strafrechts verpflichtet haben.

Regelungen im europäischen Strafrecht

Innerhalb des europäischen Strafrechts ist der Grundsatz des ne bis in idem in verschiedenen zwischenstaatlichen Übereinkommen normiert. Die wichtigste Regelung findet sich mittlerweile in Artikel 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ).

Ebenso findet sich der Grundsatz in Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK und in Art. 50 der Europäischen Grundrechtecharta, die in den Vertrag für eine Europäische Verfassung übernommen wurde (dort Art. II-110 EV). Die Ratifizierung des Vertrages ist aber nach dem Scheitern der Volksabstimmungen in den Niederlanden und in Frankreich zunächst gestoppt worden. Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 gilt die Grundrechtecharta gemäß Art. 6 Abs. 1 Vertrag über die Europäische Union uneingeschränkt. Darüber hinaus ist der ne-bis-in-idem-Grundsatz in ständiger Rechtsprechung des EuGH auch als allgemeiner ungeschriebener Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts anerkannt.

Regelungen im US-Strafrecht

Im US-Strafrecht kann niemand, der von einer Jury von zwölf Geschworenen freigesprochen worden ist, für ein und dieselbe Straftat in derselben Gerichtsbarkeit erneut angeklagt werden. Die Staatsanwaltschaft hat bei einem Freispruch keine Revisionsmöglichkeiten, selbst wenn der Freigesprochene die Tat danach offen zugibt. Allerdings darf unabhängig von einem Prozess auf Bundesstaats-, d. h. Einzelstaatsebene (state) auch die Bundesregierung (federal government) Anklage erheben.

Regelungen im britischen Strafrecht

Die vorstehende Regelung (rule against double jeopardy/„Gesetz gegen doppelte Gefährdung“) galt allgemein im anglo-amerikanischen Strafrecht. Das angelsächsische Strafrecht hatte jahrhundertelang die Rechtskraft eines ergangenen Urteils über die materielle Gerechtigkeit gestellt und gemeint, dass selbst bei erwiesener Täterschaft durch Sachbeweis oder sogar Geständnis kein neues Verfahren durchgeführt werden dürfe. Eine zweite Strafanklage war daher unzulässig gewesen, wenn sie Delikte zur Aburteilung bringen wollte, die mit den bereits zuvor verhandelten Straftaten in allen rechtlichen und tatsächlichen Elementen identisch oder deren Unrechtselemente darin zumindest mit enthalten gewesen waren, denn dann hätten diese Delikte bereits zuvor mit abgeurteilt werden können (per verdict of guilty of a lesser offence). Das hatte dann dazu geführt, dass in einem spektakulären Prozess mangels Beweises fälschlich freigesprochene Täter ihre Geschichte für viel Geld an große Zeitungen verkauft hatten, ohne ein erneutes Strafverfahren befürchten zu müssen: Reich und berühmt durch Fehlurteil, das ging im Laufe der Zeit gegen das gewandelte allgemeine Rechtsgefühl. Es wurde mit der Zeit insbesondere im Fall Brian Donald Hume als so empörend empfunden, dass eine u. a. der deutschen Regelung des § 362 StPO entsprechende Neuregelung 1996 auch in Großbritannien eingeführt worden ist, mit der sukzessiv eine Durchbrechung der Rechtskraft zuungunsten des fälschlicherweise Freigesprochenen vorgenommen wurde. Zunächst wurden Rechtsmittelrechte der Staatsanwaltschaft eingeführt. 1996 und 2003 wurde die Möglichkeit der Wiederaufnahme zuungunsten eines rechtskräftig Freigesprochenen eingeführt, wenn der (Teil-)Freispruch auf gravierenden Verfahrensmanipulationen beruht ("tainted acquittal exception") oder die Tat nachträglich durch neue "zwingende" Belastungsbeweise nachweisbar geworden war ("new and compelling evidence exception"). Durch den "Criminal Justice Act 2003" für England und Wales (und nur in einem geringeren Umfang auch für Schottland und Nordirland) ist nunmehr bei nachträglichem Geständnis ebenfalls eine Wiederaufnahme in malam partem möglich. Dahinter steht der Gedanke: Wenn ein Täter von sich aus gesteht, dann reiße er selbst den Vorhang, der die Tat verschleierte, weg und brauche nicht den Schutz des Doppelverfolgungsverbotes in derselben Sache. Jetzt ist es nicht mehr möglich, Justiz und Opfer durch ein nachträgliches Geständnis zu verhöhnen und damit auch noch Geld zu verdienen. So kam es 2006 im Fall R. v. Dunlop das erste Mal im Anschluss an ein glaubhaftes Geständnis zur Korrektur eines rechtskräftig ergangenen Freispruchs.

Hat ein rechtskräftig Verurteilter eine Strafe verbüßt, darf ihm ebenfalls nicht wieder der Prozess für ein und dieselbe Straftat gemacht werden.

Literatur

  • Martin Böse: Der Grundsatz »ne bis in idem« in der Europäischen Union (Art. 54 SDÜ). In: Goltdammer’s Archiv für Strafrecht (GA). Band 150, 2. Teilband, 2003, ISSN 0017-1956, S. 744–763.
  • Ortlieb Fliedner: Die verfassungsrechtlichen Grenzen mehrfacher staatlicher Bestrafungen aufgrund desselben Verhaltens – Ein Beitrag zur Auslegung des Art. 103 Abs. 3 GG. In: AöR. Band 99, 1974, ISSN 0003-8911, S. 242 ff.
  • Max Kaser, Karl Hackl: Das römische Zivilprozessrecht. 2. Auflage. C.H. Beck, München 1996, ISBN 3-406-40490-1.
  • Roland M. Kniebühler: Transnationales 'ne bis in idem'. Duncker & Humblot, Berlin 2005, ISBN 978-3-428-11900-4.
  • Tilman Reichling: Europäische Dimensionen des ‚ne bis in idem‘-Grundsatzes – Auslegungsprobleme des Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens. In: Studentische Zeitschrift für Rechtswissenschaft (StudZR). 2006, S. 447–469.

Film

Der Grundsatz ne bis in idem spielt in folgenden Filmen bzw. TV-Serien eine wesentliche Rolle:

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Vgl. zum deutschen Zivilverfahrensrecht z. B. BGHZ 93, 287