Oberstes Gericht der DDR

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 28. Januar 2016 um 09:20 Uhr durch Senechthon (Diskussion | Beiträge) (Auszeichnungsfehler korrigiert | Helfer gesucht). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Der erste Sitz des Obersten Gerichts war ein Gebäude unmittelbar am Grenzübergang Sandkrugbrücke in Berlin-Mitte.
Zweiter Sitz des Obersten Gerichts im Justizgebäude in der Littenstraße, Berlin-Mitte.

Oberstes Gericht (OG) war der Name des höchsten Rechtsprechungsorgans der DDR. Es wurde durch Gesetz vom 8. Dezember 1949 organisatorisch getrennt vom Generalstaatsanwalt der DDR errichtet und mit Inkrafttreten des Einigungsvertrages aufgelöst.

Bis zum Beginn der 1970er-Jahre befand sich das Oberste Gericht im repräsentativen Gebäudeteil der vormaligen Militärärztlichen Akademie an der Invalidenstraße mit der postalischen Anschrift „Scharnhorststraße 6“ in Berlin-Mitte. Danach bezog es in der Littenstraße Räumlichkeiten im dortigen Justizgebäude. In dem Gebäude befanden sich außerdem das Stadtgericht Berlin, die drei Stadtbezirksgerichte Mitte, Prenzlauer Berg und – bis zu dessen Auszug – Friedrichshain, das Staatliche Notariat sowie der Generalstaatsanwalt von (Groß-) Berlin, die Staatsanwälte der Stadtbezirke Mitte, Prenzlauer Berg und – bis zu dessen Auszug – Friedrichshain, des Militärgerichts und der Militäroberstaatsanwalt.[1]

Zuständigkeiten

DDR-Buch anlässlich des 20-jährigen Bestehens des Obersten Gerichts, 1970.

Zu den Aufgabenbereichen des Gerichts zählten

  • die Durchführung von Strafverfahren in erster und letzter Instanz, in denen der Oberste Staatsanwalt der DDR wegen der überragenden Bedeutung der Fälle Anklage vor dem Obersten Gericht erhob, sowie
  • die Kassation in Zivil- und Strafsachen.

Später kamen weitere Aufgaben hinzu, was vor allem dem Prozess der Vereinfachung zuzurechnen ist, den die DDR-Justiz durchschritt. Nach § 55 des Gerichtsverfassungsgesetzes der DDR, das am 15. Oktober 1952 in Kraft trat, hatte das Oberste Gericht auch

  • als zweite Instanz über die Rechtsmittel des Protests, der Berufung und der Beschwerde gegen erstinstanzliche Urteile in Zivil- und Strafsachen sowie
  • über die gegen Entscheidungen der Spruchstellen für Nichtigerklärungen des Amts für Erfindungs- und Patentwesen in Patentnichtigkeitssachen zu verhandeln und zu entscheiden.

Eine Verfassungsgerichtsbarkeit sowie spezielle Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichtszweige bestanden in der DDR nicht. Für Vertragsstreitigkeiten innerhalb der sozialistischen Wirtschaft war das Zentrale Vertragsgericht der DDR zuständig.

Organisation

Das Oberste Gericht der DDR war ordentliches Gericht und entschied sowohl in Straf- als auch Zivilsachen. Dazu waren Senate gebildet, die je von einem Präsidenten oder Vizepräsidenten als Oberrichter geleitet wurden. Neben dem Oberrichter saßen in einem Senat zusätzlich zwei weitere Richter. Gemäß Gerichtsverfassungsgesetz wurden die Richter des Obersten Gerichts auf Vorschlag des Ministerrates durch die Volkskammer auf fünf Jahre gewählt.

Höchstes Organ war das Plenum, dem alle Richter des Obersten Gerichts und die Direktoren der Bezirksgerichte und der drei Militärobergerichte angehörten. In jährlichen Sitzungen wurden Richtlinien und Beschlüsse verabschiedet, die in der Regel Eingang in das Gesetzblatt der DDR fanden.

Die Geschäfte des Obersten Gerichts wurden vom Präsidium geregelt, das aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten und den Oberrichtern bestand. Das Präsidium konnte auch für die Rechtsprechung unterer Gerichte Beschlüsse fassen. Der Große Senat des Obersten Gerichts hatte über grundsätzliche Entscheidungen zu befinden. Je nachdem ob im Großen Senat über Straf- oder Zivilsachen zu entscheiden war, setzte sich das Richterkollegium aus den Oberrichtern der jeweiligen Straf- oder Zivilsenate sowie dem Präsidenten und Vizepräsidenten des Gerichts zusammen.

  • Präsidenten: Kurt Schumann (1949–1960, NDPD), Heinrich Toeplitz (1960–1986, CDU), Günter Sarge (1986–1989, SED);
  • Vizepräsidenten: Hilde Benjamin (1949–1953, SED); Vizepräsident und Vorsitzender des Kollegiums für Strafrecht: Walter Ziegler (1953–1958, SED), Gustav Jahn (1958–1962), Walter Ziegler (1962–1977, SED), (neu 1. Vizepräsident) Günter Sarge (1977–1986, SED), seit 1977 fünf Strafsenate;
  • Vorsitzender des Kollegiums für Zivil-, Familien- und Arbeitsrecht: Werner Strasberg;
  • Militärkollegium: Vorsitzender des Kollegiums: Günter Sarge (1963–1977), Lothar Penndorf (1977–1989) zuständig für MdI, MfNV und MfS, ab 1971 zwei Senate;
  • nicht dem Obersten Gericht unterstellte Generalstaatsanwälte (siehe DDR-Justiz): Ernst Melsheimer (1949–1960, SED), Josef Streit (1962–1986, SED), Günter Wendland (1986–1989), Harri Harrland (1989/1990), Hans-Jürgen Joseph (1-6/1990);
  • Stellvertretende Generalstaatsanwälte: Günter Wendland (bis 1986), Karl-Heinz Borchert, ab 1990 u. a. Lothar Reuter und Peter Przybylski (langjähriger Pressesprecher/ Staatsanwalt für Öffentlichkeitsarbeit, u. a. in DFF-Fernsehsendung Der Staatsanwalt hat das Wort).

Der 1. Strafsenat

1. Strafsenat des Obersten Gerichts der DDR bei einem Schauprozess 1963.

Im 1. Strafsenat des Obersten Gerichts wurden insbesondere in den Anfangsjahren der DDR maßgebliche Prozesse von hoher politischer Relevanz für die Geschichte der DDR verhandelt, etwa der Prozess gegen die Zeugen Jehovas (1950), gegen Otto Fleischer (1953), Elli Barczatis/Karl Laurenz (1955), in denen es um Spionage ging, oder der Schauprozess gegen Hans Globke, einen engen Berater Konrad Adenauers, wegen dessen nationalsozialistischer Vergangenheit (1963). Von 1950 bis 1972 führte der Strafsenat 63 Verfahren gegen 260 Personen durch, wovon die meisten zwischen 1950 und 1957 stattfanden. In den 41 Prozessen mit 202 Angeklagten in diesem Zeitraum wurden nur zwei freigesprochen. Unter den 200 Schuldsprüchen waren

Ab Mitte der 1960er Jahre nahm die Zahl der hier verhandelten Verfahren ab. Ab 1967 fand höchstens ein Strafprozess vor dem 1. Strafsenat pro Jahr statt.[2]

Den Vorsitz hatte meist der Vizepräsident, selten der Präsident. Der Strafsenat fällte insbesondere in den 1950er-Jahren Urteile mit Rechtsgrundsätzen, die später in die DDR-Gesetzgebung einflossen. Ernst Melsheimer, der erste Generalstaatsanwalt der DDR, sprach dem Senat eine zentrale politische Funktion zu:

„Das höchste Gericht soll in den für die Grundlagen unseres Staates und für den Bestand unserer Republik entscheidenden Fragen Recht sprechen; es soll auf hoher, weithin dem ganzen Volke sichtbarer Plattform urteilen; es soll schnell und richtig urteilen. [...] Die Aburteilung [...] durch den höchsten Gerichtshof in breitester Öffentlichkeit stärkt und vertieft die demokratische Gesinnung und die demokratische Wachsamkeit der Massen.“

Hilde Benjamin (rechts), erste Vizepräsidentin des Gerichts (1963).

Die spätere DDR-Justizministerin Hilde Benjamin hielt in diesem Raum als erster Vizepräsident des Gerichts mehrere politische Prozesse ab. Sie leitete die Gesetzgebungskommission beim Staatsrat der DDR und schrieb DDR-Rechtsgeschichte.

Literatur

  • Rudi Beckert: Die erste und letzte Instanz. Schau- und Geheimprozesse vor dem Obersten Gericht der DDR. Keip Verlag, Goldbach, 1995, S. 20, ISBN 3805102437.
  • Matthias Esch: Die Kassation in Strafsachen. Berichte des Osteuropa Instituts an der Freien Universität Berlin, Berlin 1992, ISBN 3-921374-46-4.
  • Karl Wilhelm Fricke: Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945–1968. Köln 1979, ISBN 3-8046-8568-4.
  • Günther Sarge: Im Dienste des Rechts: Der oberste Richter der DDR erinnert sich. Edition Ost, Berlin 2013, ISBN 978-3-360-01844-1.
  • Horst Kellner: Die Kassation in Zivilsachen in der Deutschen Demokratischen Republik. Diss. 1957, HU Berlin.
  • Richtlinien und Beschlüsse - bedeutende Leitungsakte des Obersten Gerichts der DDR. WissZ der HUB, 1966, Heft 6.
  • Über den Anteil der Rechtsprechung am Rechtsbildungsprozess in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Festschrift für Erich Buchholz, Kai Homilius Verlag, Berlin 2007, S. 140 ff.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Heute ist das Gebäude Sitz des Amtsgerichts Mitte sowie verschiedener Zivilkammern des Landgerichts Berlin (Berufungs- und Beschwerdekammern, Verkehrskammern, Wettbewerbskammern, Kammern für Handelssachen).
  2. Statistik aus: Rudi Beckert (siehe Literaturliste), S. 20.

Koordinaten: 52° 31′ 55″ N, 13° 22′ 22,8″ O