Polygonalsystem

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 11. August 2016 um 15:31 Uhr durch Lilith.Renoyan (Diskussion | Beiträge) (→‎Literatur: ISBN ergänzt). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Festung Ehrenbreitstein in Koblenz
Polygonale Stadtbefestigung Koblenz um 1880
Detachierte Forts der rechten Rheinseite von Koblenz

Das Polygonalsystem ist ein Fachbegriff aus dem Festungsbau. Die Bezeichnung leitet sich ab von griech.: poly = viel + gonos = Winkel und beschreibt also ein Vieleck.

Der Begriff „Polygonalsystem“ wurde im Zusammenhang mit den Befestigungsmanieren des Marquis de Montalembert und Lazare Carnot (1753–1823) allgemein eingeführt. Allerdings kann die zur Zeit von König Friedrich II. in Preußen vor allem von dem Festungsbaumeister Gerhard Cornelius (von) Walrawe (1692–1773) eingeführte „altpreußische Befestigungsmanier“ bereits als „Polygonalsystem“ betrachtet werden (Errichtung der Festungen Brieg und Neiße ab 1742), auch wenn sich dieses zunächst noch stark am tenaillierten Befestigungssystem von Hermann Landsberg d.J. (1670–1746) orientierte. Nach der Gründung des Deutschen Bundes 1815 wurde das (fortentwickelte) „Polygonalsystem“ zunächst in Deutschland das bevorzugte Befestigungssystem (daher auch die Bezeichnung „neudeutsche Befestigungsmanier“), während Frankreich noch bis 1870 am Bastionärsystem festhielt.

Charakteristisch für das Polygonalsystem ist das Prinzip, bei den Außenlinien von Befestigungsanlagen möglichst alle einspringende Winkel zu vermeiden (wodurch allerdings zur äußeren Flankierung des Walls die Errichtung von Kaponnieren notwendig wurden). Der Vorteil des Systems liegt darin, dass die Fernverteidigung von langgezogenen Walllinien sich nun überwiegend auf stumpfe Winkel stützt und durch das Aufgeben zahlreicher kleiner Außenwerke besser auf die wesentlichen Punkte konzentrieren kann. Durch den Wegfall der Bastionen und der verschiedenen Vorwerke des Bastionärsystems sowie der weitausgreifenden Linien des Tenaillensystems (eine Folge von ein- und ausspringenden Winkeln) ergibt sich ein Befestigungssystem von wesentlich geringerer Tiefe. Dadurch wurde mehr Platz für den Ausbau der Städte gewonnen und die Baukosten gesenkt. Die separierte Grabenverteidigung erfolgte auf der Innenseite des Festungsgrabens durch freistehende Escarpenmauern und/oder Galerien sowie durch freistehende oder angebundene Grabenkaponnieren.

Prototyp für die Anwendung des Polygonalsystems in Deutschland war die Festung Koblenz-Ehrenbreitstein, die von 1815 bis 1834 komplett neu erbaut wurde. In diesem Zusammenhang ist von der neupreußischen oder neudeutschen Befestigungsmanier die Rede.

Neupreußische Befestigungsmanier

Eine erste Veröffentlichung von Johann Ludwig von Xylander 1819 fasste die beim Bau der Festung Koblenz entwickelten neuen Befestigungsgrundsätze zusammen:

  • Die Festung wird nach den Grundsätzen der Strategie dort angelegt, wo sie unmittelbar in die großen Operationen der Kriege eingreift.
  • Es gibt kein allgemein verbindliches Festungssystem, da kein System auf jedem Terrain ideal ist. Stattdessen bestehen Befestigungsgrundsätze, die die anzuwendenden Regeln bestimmen.
  • Aus taktischen und ökonomischen Gründen ist das natürliche Terrain für die Festung zu nutzen und künstlichen Hilfsmitteln vorzuziehen.
  • Die Eroberung eines Teils darf nicht zur Eroberung der ganzen Festung führen.
  • Die Werke und Festungsabschnitte sind so arrangiert, dass die sie verfehlenden Schüsse nicht zwangsweise andere treffen.
  • Die Festungsteile müssen so voneinander getrennt und eingerichtet sein, dass sie sich gegenseitig verteidigen können, wobei die Eroberung eines Teils dem Angreifer nach Möglichkeit keinen Vorteil bieten und ihn in eine missliche Lage bringen soll.
  • Die Festungsverteidigung muss maßgeblich gegen die beiden Hauptkomponenten des Angriffs erfolgen:
1. Das Verteidigungsfeuer konzentriert sich gegen die Anlage von Angriffsbatterien, zu diesem Zeitpunkt kann der Belagerer noch keine entsprechende Gegenwirkung ausüben und die Verteidigungsgeschütze können ohne Deckung frei auf dem Wall platziert werden.
2. Der Grabenübergang muss energisch bekämpft werden, was durch gedecktes Feuer zu geschehen hat, gegen das der Feind nur unzulänglich mit seinen Feldbatterien vorgehen kann.
  • Anlegung ausreichender Schutzräume für die Besatzung und die allgemeinen Bedürfnisse, um die Wirkung der feindlichen Wurfgeschütze und des Rikoschettschusses entscheidend zu minimieren.
  • Vermehrung von Mörserbatterien bei der Verteidigung.
  • Die Bekleidungsmauer wird prinzipiell der Sicht des Feindes entzogen. Die freistehende Escarpe ist vorzuziehen, damit deren Demolierung nicht mit der Breschierung des Walls einhergeht.

Im Festungsbau der folgenden 50 Jahre sieht das so aus: Eine geschlossene innere Enceinte umfasst zunehmend weiträumiger die Stadt (Möglichkeit der Entwicklung). Vorgelagert ist eine äußere Enceinte aus detachierten (vorgeschobenen), selbstständigen Werken, die den Gegner auf Distanz hält (→Gürtelfestung). Diese können sich gegenseitig flankieren. Die Festungsstruktur ermöglicht aufgrund ihrer Ausdehnung ein verschanztes Lager, erlaubt den Außenkrieg und gestattet einen defensiven wie offensiven Gebrauch. Es ergibt sich eine befestigte Fläche, wie sie in dieser Größe vorher nicht zu bezahlen war (Umfang Koblenz 14 km). Die vorgeschobenen Forts erhalten einen dreiseitigen Erdwall, dessen Form dem Gelände und der strategischen Bedeutung angepasst wird. Die Kehlseite bekommt meist eine krenelierte Mauer und in deren Mitte ein kassematiertes, gemauertes Reduit (als mehrstöckiger Geschützturm ausgeführt) oder Blockhaus.

Diesen Prinzipien werden in der Folge im deutschen Raum beim Bau der Festungen Köln (ab 1816), Danzig (ab 1818), Thorn (ab 1818), Minden (ab 1827), Posen (ab 1829), Germersheim (ab 1834), Linz (ab 1828), Verona (ab 1837), Przemyśl (ab 1853), Krakau (ab 1849), Komorn (ab 1849), Mainz (ab 1825), Luxemburg (ab 1826), Rastatt (ab 1842) und Ulm (ab 1843) berücksichtigt.

Literatur

  • Klaus T. Weber: „Neupreußische Festungsmanier“ - ein Mythos? In: Deutsche Gesellschaft für Festungsforschung (Hrsg.): Festungsbaukunst in Europas Mitte (Festungsforschung; Bd. 3), Verlag Schnell & Steiner, Regensburg 2011, S. 49-60, ISBN 978-3-7954-2524-1.
  • Klaus T. Weber: Die preußischen Festungsanlagen von Koblenz (Kunst- und kulturwissenschaftliche Forschungen; Bd. 1). Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, Weimar 2003, ISBN 3-89739-340-9 (zugl. Dissertation, Universität Mainz 2000).
  • Hartwig Neumann: Festungsbaukunst und Festungsbautechnik. Deutsche Wehrbauarchitektur vom XV.-XX. Jahrhundert. Bernard & Graefe Verlag, Bonn 2004, ISBN 3-89996-268-0 (EA Bonn 1988).

Siehe auch