Psychoedukation

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Psychoedukation ist eine systematische und strukturierte Vermittlung von Wissen, das wissenschaftlich fundiert ist und sich auf Gesundheitsinformationen zu psychischen Erkrankungen bezieht.

Psychoedukation kann unterschiedlichen Zielen dienen und wird folglich in inhaltlich sehr spezifischen (z. B. im Rahmen einer Therapie um Krankheitsverständnis und -bewältigung zu verbessern) bis sehr breit gefächerten (z. B. zur Verbesserung der Psychohygiene in der Allgemeinbevölkerung) Bereichen eingesetzt. Sie stellt kein eigenes Therapieverfahren da, sondern wird in diesen lediglich als eine Behandlungsmasnahme unter vielen eingesetzt.

Ziele

Die Psychoedukation hat immer das Ziel mit der Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten einen gesundheitsförderlichen Lebensstil zu ermöglichen. Dies erfolgt je nach Kontext in unterschiedlichen Formen:

  • Zu Beginn und im Verlauf einer Therapie wird mit Psychoedukation eine Verbesserung des Verständnisses einer Erkrankung und deren Behandlung angestrebt. Dies soll auch die Krankheitsbewältigung erleichtern. Zum Beispiel erfolgt eine Aufklärung über eine bestimmte Diagnose und des entsprechenden Störungsmodells. Am Ende einer Behandlung kann sie dazu dienen, die Integration des in der Therapie neu erlernten Verhaltens in den Alltag sicherzustellen.
  • In der Rehabilitation wird mit Patientenschulungen versucht die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls zu verringern und die Folgen abzumildern.
  • Es können bei spezifischen Einschränkungen kompensatorische Fähigkeiten vermittelt werden (z. B. im Rahmen einer Neuro-Rehabilitation).
  • Erhöhung des Bewusstseins und der Akzeptanz bestimmter Erkrankungen durch Aufklärung in der Allgemeinbevölkerung.

Psychoedukation richtet sich in den meisten Fällen an Personen, die gerade an einer bestimmten Erkrankung leiden (insbesondere psychischer Störungen, wie Schizophrenie, Depression, Zwangs- und Angststörungen) und an Personen, die an Patientenschulungen in Folge einer (körperlichen) Erkrankung teilnehmen (z. B. kardiovaskuläre oder Krebs-Erkrankungen). Gegebenenfalls werden die Angehörigen mit einbezogen.

Wirkprinzipien

Es wird angenommen, dass Patienten Missverständnisse und fehlerhafte Vorstellungen über ihre Störung durch neues wissenschaftlich fundiertes Wissen überdenken und korrigieren. So können auch dysfunktionale Verhaltensweisen und Einstellungen geändert werden. Ebenfalls wird davon ausgegangen, dass die Einordnung des eigenen (bzw. bei Angehörigen fremden) Leidens in ein vorhandenes Krankheitsbild strukturierend und entlastend wirkt.

Dadurch soll auch Optimismus gegenüber der Behandlung gefördert werden, um Therapiemotivation (s. a. Compliance, Adherence) zu stärken und zusätzliche Belastungen (z.B. durch Scham, Selbstabwertung und Stigmatisierung) zu reduzieren. Durch Psychoedukation wird der Patient aktiv in das Behandlungskonzept mit einbezogen und behandelt seine Krankheit im gemeinsamen Austausch sozusagen ‚gleichberechtigt‘ mit den Behandelnden. Die Interaktion zwischen Therapeut und Klient wird in gegenseitiger Beziehung vertieft und bildet die Grundlage für den Behandlungserfolg. Patienten und einbezogene Angehörige, die über das Krankheitsbild genauer informiert sind, fühlen sich weniger hilflos. Außerdem soll das Wiedererkrankungsrisiko (Rückfallrisiko) so gesenkt werden.

Umsetzung

Psychoedukation kann im Einzelgespräch oder in Gruppen erfolgen und wird im deutschsprachigen Raum meist von Psychologen, Ärzten, aber auch von Dipl.-Sozialpädagogen oder geschultem Pflegepersonal durchgeführt. In den Gruppen werden mehrere Patienten gemeinsam über ihre Erkrankungen informiert. Dabei spielen auch der Erfahrungsaustausch zwischen den Betroffenen und die gegenseitige Unterstützung eine Rolle beim Heilungsprozess. Im pazifischen und asiatischen Raum werden psychoedukative Gruppenprogramme vermehrt von pflegerischen Fachkräften entwickelt und mittels Forschung überprüft.

Die hauptsächlich verbalen Vermittlungsformen im Einzel- und Gruppensetting (Vorträge, Diskussionen, Rollenspiele, Verhaltensübungen), können um schriftliche Materialien (Selbsthilfemanuale, Literatur, Broschüren, etc.) ergänzt werden (s. a. Bibliotherapie).

Entstehungsgeschichte

Der Begriff „Psychoedukation“ (engl.: Psychoeducation) wurde in den USA erstmals 1980 von der Ärztin C.M. Anderson im Rahmen der Schizophrenie-Behandlung gebraucht. Hierbei konzentrierte sie sich sowohl auf die Aufklärung der Familienangehörigen bezüglich der Symptome und des Verlaufs der Erkrankung als auch auf die Stärkung sozialer Kompetenzen, auf die Verbesserung im Umgang der Familienmitglieder untereinander und auf effektivere Stressbewältigung.

Ihren Ursprung hat Psychoedukation in der Verhaltenstherapie, in der das Wiedererlernen der eigenen emotionalen und sozialen Kompetenz im Vordergrund steht. In den letzten Jahren werden zunehmend systematische Gruppenprogramme entwickelt, die so genannten Psychoedukativen Manuale, um das Wissen über einzelne Störungsbilder und Erkrankungen den Patienten und Angehörigen gut verständlich zugänglich zu machen. Im Vorfeld der Verhaltenstherapie hat Paul Dubois den Terminus der Edukation (franz. éducation) im Rahmen seiner Persuasionstherapie bereits 1908 gebraucht.[1] Dubois gilt als einer der Vordenker der Psychoedukation und als jener Wissenschaftler, der den Begriff "Edukation" erstmals in Psychologie und Psychotherapie eingeführt hat.[2]

In Kanada hat der Begriff eine längere, allerdings eher psychoanalytisch-heilpädagogische Tradition.

Mögliche Risiken und Nebenwirkungen

Eigentlich spricht nichts gegen die Teilnahme an einer psychoedukativen Gruppe. Neben den positiven Effekten einer therapeutischen Maßnahme wie der Psychoedukation sollten grundsätzlich aber auch mögliche Risiken in Betracht gezogen werden.

Die Vermittlung detaillierten Wissens über die Krankheit, insbesondere über Heilungschancen, Therapiemöglichkeiten und Krankheitsverläufe kann den Betroffenen oder dessen Angehörige unter Umständen. stark belasten. Deshalb sollte man sich zuvor ein genaues Bild über den momentanen psychischen Zustand des Patienten machen. Dabei sollte berücksichtigt werden, über wie viel Wissen der Patient bereits verfügt und wie viel Wissen der Patient im aktuellen Zustand überhaupt aufnehmen und verarbeiten kann. Dabei sollte die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit sowie die emotionale Belastbarkeit des Patienten berücksichtigt werden. Akut erkrankte Patienten mit einer schizophrenen Psychose, die unter massiven Denk-, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen leiden, sind zu Beginn ihrer Erkrankung häufig überfordert, wenn sie mit zu vielen Informationen konfrontiert werden.

Im Rahmen einer Psychoedukationsmaßnahme kann nur eine (möglichst wissenschaftlich gut begründete) Auswahl an Sichtweisen bzw. Therapiemöglichkeiten berücksichtigt und mit dem Betroffenen durchgesprochen werden. Somit können Betroffene möglicherweise ein unvollständiges Bild über ihre Krankheit und ihre Behandlungsmethoden erhalten und über Behandlungsalternativen nur auf entsprechend eingeschränktem Informationsniveau entscheiden. Jedoch sollte auch bei einer vollständigen Darstellung der Behandlungsmöglichkeiten darauf geachtet werden, die Betroffenen nicht mit zu vielen Informationen zu überfordern.

Kritik

Im Kontrast zu den behavioristischen und kognitiven Bezügen des Konzeptes zeigen sich aus Perspektive systemischer Beratung und Therapie einige kritische Aspekte auf. Dazu gehört, dass sich Krankheitssymptome verfestigen können, weil die uneingeschränkte Akzeptanz der Pathologie und Behinderung durch die am Prozess Beteiligten die Chancen, dysfunktionale Muster in den lebensweltlichen Bezügen zu verändern, einschränkt oder gar verhindert.[3]

Siehe auch

Literatur

  • B. Behrendt: Meine persönlichen Warnsignale. Ein psychoedukatives Therapieprogramm zur Vorbeugung von Rückfällen bei schizophrener oder schizoaffektiver Erkrankung. DGVT-Verlag, Tübingen 2001. (Manual für Therapeuten und für Betroffene)
  • B. Behrendt, A. Schaub (Hrsg.): Handbuch Psychoedukation und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze für die klinische Praxis. DGVT-Verlag, Tübingen 2005.
  • H. Berger, J. Friedrich, H. Gunia: Psychoedukative Familienintervention (PEFI). Schattauer, Stuttgart 2004.
  • Peter Buttner: Psychoedukation in der Schizophreniebehandlung. Anwendungshäufigkeit, Verfahren, Wirksamkeit. Dissertation. Techn. Univ., München 1996.
  • P. Bräuning, P. Wagner: Zwischen den Polen von Manie und Depression, Wegweiser für Betroffene und Angehörige. 2004, ISBN 3-8334-0749-2.
  • B. Behrendt, T. Wobrock: Psychoedukation bei Schizophrenie und Sucht. Manual zur Leitung von Patienten- und Angehörigengruppen.Elsevier, München 2006.
  • R. D’Amelio, W. Retz, A. Philipsen, M. Rösler (Hrsg.): Psychoedukation und Coaching ADHS im Erwachsenenalter. Manual zur Leitung von Patienten- und Angehörigengruppen. Elsevier, München 2008.
  • W. P. Hornung: Psychoedukation und Psychopharmakotherapie. 1998.
  • A. Kieserg, W. P. Hornung: Psychoedukatives Training für schizophrene Patienten (PTS).: DGVT-Verlag, Tübingen 199.
  • S. Klingberg, A. Schaub, B. Conradt: Rezidivprophylaxe bei schizophrenen Störungen. Beltz, Weinheim 2003.
  • G. Pitschel-Walz, J. Bäuml: Psychoedukation Depression.
  • G. Pitschel-Walz, J. Bäuml: Psychoedukation bei schizophrenen Erkrankungen.
  • U. Terbrack: Psychoedukation von Zwangsstörungen. München 2004, ISBN 3-437-56600-8.
  • G. Wienberg (Hrsg.): Schizophrenie zum Thema machen. Psychoedukative Gruppenarbeit mit schizophren und schizoaffektiv erkrankten Menschen. Grundlagen und Praxis. Psychiatrie-Verlag, Bonn 1997.
  • T. Wessel, H. Westermann: Problematischer Alkoholkonsum - Entstehungsdynamik und Ansätze für ein psychoedukatives Schulungsprogramm. Lambertus-Verlag, Freiburg 2002.
  • H.-J. Wittchen, J. Hoyer: Klinische Psychologie und Psychotherapie. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Springer Verlag, Berlin 2011.

Weblinks

Wiktionary: Psychoedukation – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Paul-Charles Dubois: L'éducation de soi-même. 1908 (dt. 1909).
  2. Christian Müller: Sie müssen an Ihre Heilung glauben! Paul Dubois (1848–1918) – Ein vergessener Pionier der Psychotherapie. Schwabe Verlag, Basel 2001, ISBN 3-7965-1590-8.
  3. J. Schweitzer, A. Schlippe: Lehrbuch der systemischen Beratung und Psychiatrie II. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009, S. 62.