Reinhard Wittram

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Reinhard Wittram (* 9. August 1902 in Bilderlingshof (heute: Bulduri, Jūrmala) bei Riga[1]; † 16. April 1973 in Meran) war ein deutscher Historiker.

Leben

Reinhard Wittram stammte aus einer deutsch-baltischen Familie. Nach dem Besuch des Ritterschaftlichen Landesgymnasiums Birkenruh und des Deutschen Stadtgymnasiums in Riga studierte er ab 1920 an den Universitäten in Riga, Jena und Tübingen Geschichte, Geographie und Religionsgeschichte. 1925 promovierte er bei Johannes Haller. Ab 1928 arbeitete Wittram am Herder-Institut Riga über den livländischen Agrarreformer Hamilkar von Fölkersahm.

In der Zeit des Nationalsozialismus schrieb er 1937 in Volk und Hochschule im Aufbruch: „Wo ein Gefühl für Zucht und Rasse erwacht ist, wird die Wiederbesinnung unseres Volkes auf die rassischen Erbwerte als ein Gesundungsvorgang begriffen werden“[2]. Wittram wurde Gebietsvertreter für Lettland der Nord-Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG).[3] 1938 wurde Wittram in Riga auf den Instituts-Lehrstuhl für Geschichte berufen und 1941 zum Ordinarius an der neu gegründeten Reichsuniversität Posen im besetzten Polen ernannt. Zum 1. Juni 1941 erfolgte seine Aufnahme in die NSDAP[4]. Als Dekan der Philosophischen Fakultät, Senatsmitglied und Direktor des Historischen Seminars beteiligte sich Wittram an führender Stelle an der NS-Wissenschaftspolitik im besetzten Posen während des Zweiten Weltkrieges[5].

1945 floh Wittram aus Polen nach Göttingen, wo er ab 1946 als Lehrbeauftragter[6] und ab 1955 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1970 auf dem Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte tätig war.

Seine „Baltische Geschichte“ erschien seit 1939 in unterschiedlichen, dem Wandel der politischen Verhältnisse angepassten Versionen, deren letzte (1954) für die Zeit bis zum Ende des Ersten Weltkriegs bis heute als Standardwerk gilt. Wittram förderte vor 1945 durch seine Veröffentlichungen aktiv den Geist des Nationalsozialismus; er distanzierte sich erst schrittweise von dieser Vergangenheit und benannte sein Verhalten in der NS-Zeit als den „Irrweg eines Konservativen“. Sein 1941 im Verlag Volk und Reich erschienenes Buch Livland. Schicksal und Erbe der baltischen Deutschen wurde 1946 in der SBZ in die Liste der auszusondernden Literatur aufgenommen,[7] in der DDR 1952 zusätzlich Rückkehr ins Reich (Kluge & Ströhm, Posen 1942), sowie Der Deutsche als Soldat Europas (Kluge & Ströhm, Posen 1943)[8].

In seinen Publikationen nach 1945 stellte er die Verantwortlichkeit der Person in den Mittelpunkt, wobei er häufig auch von Schuld sprach („Das öffentliche Böse und das achte Gebot“). Indem er sein eigenes Verhalten in Frage stellte, unterscheidet sich Wittram von anderen führenden Persönlichkeiten der deutschen Geschichtswissenschaft, die sich zu ihrem Verhalten während der NS-Diktatur ausgeschwiegen haben.

Er war Mitglied des J. G. Herder-Forschungsrats, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Societas Historica Turkuensis sowie von 1951 bis 1973 Vorsitzender der Baltischen Historischen Kommission.

Werke

  • Die Nationalitätenkämpfe in Europa und die Erschütterung der Europäischen Staatensystems 1848-1917. 4. Aufl. Klett Stuttgart 1980, ISBN 3-12-420400-X (Quellen und Arbeitshefte zur Geschichte und Politik; 4204).
  • Nationalismus und Säkularisation. Beiträge zur Geschichte und Problematik des Nationalgeistes. Helaind-Verlag, Göttingen 1949.
  • Baltische Geschichte. Die Ostseelande Livland, Estland, Kurland 1180-1918. Wissenschaftliche Buchgemeinschaft, Darmstadt 1973, ISBN 3-534-06475-5 (Nachdr. d. Ausg. Göttingen 1954).
  • Das Nationale als europäisches Problem. Beiträge zur Geschichte des Nationalitätenprinzips vornehmlich im 19. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1954.
  • Peter der Große. Der Eintritt Rußlands in die Neuzeit. Springer Verlag, Berlin 1954 (Verständliche Wissenschaft; 52).
  • Das Interesse an der Geschichte. Zwölf Vorlesungen über Fragen des zeitgenössischen Geschichtsverständnisses. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1958 (Kleine Vandehoeck-Reihe; 59-61).
  • Anspruch und Fragwürdigkeit der Geschichte. Sechs Vorlesungen zur Methodik der Geschichtswissenschaft und zur Ortsbestimmung der Historie. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1969 (Kleine Vandehoeck-Reihe; 297-299).
  • Russia and Europe. Thames & Hudson, London 1973, ISBN 0-500-32028-4.

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Hartmut Rudolph : Evangelische Kirche und Vertriebene 1945 bis 1972 Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 1984-1985. Band 2, Seite 371
  2. Zitat bei Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Fischer Taschenbuch Verlag, Zweite aktualisierte Auflage, Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-596-16048-8, S. 683.
  3. Ingo Haar: Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten., Göttingen 2000, S. 302
  4. Roland Gehrke: Deutschbalten an der Reichsuniversität Posen. In: Michael Garleff (Hrsg.): Deutschbalten, Weimarer Republik und Drittes Reich, Bd. 1. 2, durchgesehene und ergänzte Auflage. Böhlau, Köln 2008, ISBN 978-3-412-12199-0, S. 389–426, hier S. 397.
  5. Błażej Białkowski: Reinhard Wittram an der „Reichsuniversität Posen“. Die Illusion einer baltischen Variante des Nationalsozialismus, in: Michael Garleff (Hrsg.): Deutschbalten, Weimarer Republik und Drittes Reich, Bd. 2, Köln u. a. 2008, S. 353-384.
  6. Auch sein Kollege aus Riga und Posen Leonid Arbusow (1882–1951) war ab 1946 Lehrbeauftragter an der Universität Göttingen
  7. Liste der auszusondernden Literatur 1946.
  8. Liste der auszusondernden Literatur 1953.