Tiefe Hirnstimulation

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Stereotaxiegerät zur Platzierung einer Stimulationselektrode
Abbildung der Sonden im Gehirn in einer Röntgenaufnahme des Schädels

Die Tiefe Hirnstimulation (THS, engl. DBS Deep Brain Stimulation) ist ein grundsätzlich reversibler, neurochirurgischer Eingriff in das Gehirn, der für die Behandlung von bestimmten neurologischen Erkrankungen wie z.B. der Parkinsonerkrankung weltweit zugelassen ist. Umgangssprachlich ist auch der Begriff Hirnschrittmacher geläufig, der erstmals Anfang der 70-Jahre von dem spanischen Wissenschaftler José Delgado geprägt worden ist und die technologische Verwandtschaft mit dem Herzschrittmacher betont.

Weltweit wurden etwa 120.000 Patienten mit einem Hirnschrittmacher operativ versorgt. Die THS ist in der EU zugelassen für essentiellen Tremor (seit 1995), für Parkinsonerkrankung (1998), für Dystonie (2003), Zwangserkrankungen (2009), und Epilepsie (2010) und geht mit beträchtlichen Lebensqualitätsverbesserungen einher. Belastbare Zahlen belegen, dass in Deutschland derzeit ca. 6000 Patienten mit einem Hirnschrittmacher versorgt sind; ca. 400-500 Neubehandlungen kommen pro Jahr in Deutschland aktuell hinzu.

Anwendungsgebiete

Bewegungsstörungen

Die Methode wird gegenwärtig hauptsächlich bei der Behandlung verschiedener Bewegungsstörungen angewendet, wie den Symptomen der Parkinson-Krankheit, Tourette-Syndrom[1], essentiellem Tremor, Tremor bei Multipler Sklerose sowie Dystonie.

Die Tiefe Hirnstimulation und ihre Anwendungsgebiete sind Gegenstand aktueller Forschung:

  • Parkinson-Krankheit: Häufigstes Einsatzgebiet der Tiefen Hirnstimulation. Forscher des Forschungszentrums Jülich und der Universität Köln arbeiten an der Entwicklung eines Hirnschrittmachers, der die Parkinson-Symptome nicht nur unterdrücken, sondern sie korrigieren und das Gehirn wieder normal funktionieren lassen soll. [2] Für diese Idee erhielten sie 2005 den Erwin-Schrödinger-Preis.
  • Tourette-Syndrom: Die Implantation eines Hirnschrittmachers kann Patienten mit Tourette-Syndrom partiell von Tics befreien. Dies belegt eine Studie britischer und italienischer Neurochirurgen (Neurology, 2009; 73: 1375-1380).

Depression

  • Die Anwendung der tiefen Hirnstimulation bei der Depression befindet sich im experimentellen Stadium[3][4]. Positive Resultate konnten bei sehr kleinen Gruppen von therapieresistenten Patienten bei einer Stimulation der Area subgenualis[5] (Feld 25 Brodmanns) und des Nucleus accumbens[6][7] gezeigt werden. Thomas E. Schlaepfer und Volker A. Coenen erzielten gute Ergebnisse durch Positionierung der Elektrode an dem Nervenstrang, der den tief liegenden Hirnstamm zur stirnseitigen Hirnrinde mit den Strukturen Area subgenualis und Nucleus accumbens verbindet.[8][9]

Weitere Anwendungsgebiete

Funktionsweise

Strukturen der Basalganglien

Die Funktionsweise der Tiefenhirnstimulation im Detail ist bisher ungeklärt.[13] Die Wirkungsweise ist jedoch Gegenstand intensiver Forschung, und gegenwärtig werden vier allgemeine Theorien diskutiert [14]:

  • Funktionaler Block der Axone durch Depolarisation
  • Synaptische Inhibierung
  • Erschöpfung der Neurotransmitter durch fortgesetzte Erregung der Neuronen
  • Durch die Stimulation induzierte Veränderung der pathologischen Aktivität des neuralen Netzes des Gehirns

Als Steuerelement dient ein kleiner batteriegetriebener und chipgesteuerter Impulsgeber, der unter der Haut der Brustmuskulatur oder am Oberbauch eingesetzt wird. Die Elektroden werden durch kleine Löcher in der Schädeldecke in die Zielregion der Basalganglien der linken und rechten Gehirnhälfte eingeführt.

Bei der Behandlung von Patienten mit fortgeschrittener Parkinson-Krankheit wird der Nucleus subthalamicus angesteuert oder der mediale Globus pallidus, bei essentiellem Tremor der Thalamus ventralis und bei Dystonie der Globus pallidus. Eine Studie der Universitätskliniken Köln und Bonn zur Wirksamkeit bei Depression untersucht die Stimulation des Nucleus accumbens.[13] [15]

Operation

In Deutschland werden an rund 30 Kliniken jährlich etwa 400 Hirnschrittmacher implantiert. Die Implantation ist reversibel.

Für die chronische Hirnstimulation werden dem Patienten mit einem stereotaktischen Zielgerät eine oder zwei dünne Elektroden implantiert, die über subkutan verlegte Kabel mit einem Impulsgeber im Bereich der Brust oder dem Oberbauch verbunden sind. Dieser Impulsgeber gibt dauerhaft elektrische Impulse an die Zielregion im Gehirn ab, wodurch diese – je nach Stromfrequenz – entweder deaktiviert oder stimuliert werden kann.

Die Operation erfolgt in zwei Schritten. Im ersten, werden dem Patienten in einer stereotaktischen Operation kleine Löcher in die Schädeldecke gebohrt, durch die die Elektroden in das Gehirn eingeführt werden. Dabei ist der Patient in der Regel bei vollem Bewusstsein. Nur so kann mit Hilfe von Teststimulationen die Wirksamkeit der einzelnen Elektroden und damit deren exakte Lage überprüft werden. Der Impulsgenerator (Hirnschrittmacher) wird entweder während dieses Eingriffs oder in einer zweiten, kürzeren Operation am Folgetag implantiert.

Ursprünglich wurden vier Kontakte auf jeder Gehirnseite eingesetzt. Ende 2010 wurden an der Universitätsklinik Köln erstmals ein Hirnschrittmacher-Modell implantiert, das acht Kontakte auf jeder Hirnseite aufweist. Eine höhere Anzahl von Elektroden im Gehirn sollen das Gerät effizienter machen und weniger Nebenwirkungen auf andere Hirnregionen haben.[16]

Funktion des Schrittmacher-Systems

Das Schrittmachersystem besteht im Wesentlichen aus drei Komponenten, den Elektroden, der Verlängerung und dem Neurostimulator (Schrittmacher). Das Prinzip des Hirnschrittmachers stellt eine Weiterentwicklung des Herzschrittmachers dar.

Elektroden sind dünne, flexible Drähte aus Titan mit Metallkontakten an der Spitze. Je nach Hersteller variiert die Anzahl der Kontakte, über die die Impulse an die entsprechenden Hirnareale abgegeben werden können.

Die Verlängerung ist ein dünner, isolierter Draht, der unter der Haut vom Kopf abwärts zum Steuergerät (Neurostimulator) geführt wird. Sie verbindet die im Kopf sitzenden Elektroden mit dem Schrittmacher (Neurostimulator).

Der Neurostimulator umfasst die Batterie und erlaubt die Programmierung der Stimulationsparameter. Er ist so groß wie 1,5 bis 2 Streichholzschachteln und wird in der Regel je nach Patientenwunsch unter das Schlüsselbein oder den Rippenbogen implantiert. Hier werden die für die Stimulation erforderlichen elektrischen Impulse erzeugt.

Mithilfe eines Programmiergeräts können die Einstellungen des Neurostimulators von außerhalb des Körpers überprüft und angepasst werden. Nach dem Eingriff kann manchen Patienten ein kleines Patienten-Handgerät mit nach Hause gegeben werden. Das kann Patienten helfen individuell Einfluss auf ihre Therapie zu nehmen. Es können z.B. Funktionen kontrolliert und die Stimulation z.B. über nach Nacht ein- oder ausgestellt werden. In den meisten Fällen bleibt der Neurostimulator jedoch dauerhaft eingeschaltet.

Seit der Zulassung der Tiefen Hirnstimulation 1995 für essentiellen Tremor gab es viele technische Neuerungen, die durch die Konkurrenz mehrere Anbieter gefördert werden. Unter anderem ist das Hirnschrittmachersystem heute auch mit Kernspintomographie-Untersuchungen häufig vereinbar.

Nebenwirkungen

Einer gelungenen Operation können jedoch eine vorübergehende oder länger andauernde Dysarthrie oder ein meist vorübergehendes manisches Verhalten mit inadäquat gehobener Stimmung, abnormer Antriebssteigerung, materiellem Verschwendungsverhalten und starker Einschränkung der persönlichen Leistungsfähigkeit folgen.[17] Prospektive kontrollierte und randomisierte Studien der letzten Jahre belegen die anhaltende Wirksamkeit des Therapieverfahrens im individuellen Krankheitsverlauf: Nicht nur Krankheitssymptome wie Zittern (Tremor), Steifigkeit (Rigor) und Bewegungsarmut (Bradykinese) werden gebessert, sondern nachweislich auch in ganzheitlicher Hinsicht die Lebensqualität.

Ein Teil der Patienten wird trotz Besserung der motorischen Störungen nach der Tiefen Hirnstimulation depressiv.[18]

Ethische Diskussion

Da die genaue Wirkungsweise im Gehirn unbekannt ist und es möglich ist, Stimmung und Verhalten zu beeinflussen (Depression, Zwangsstörung, Manie), ist die tiefe Hirnstimulierung auch Gegenstand ethischer Diskussionen.[19][20] Prinzipiell ist es nicht auszuschließen, dass durch tiefe Hirnstimulation auch Leistungsverbesserungen des menschlichen Gehirns erreicht werden können (sog. Neuro-Enhancement).[21] Insofern ginge es nicht mehr nur um Therapie, sondern um Steigerungsmöglichkeiten des eigenen Gehirns, z.B. auch zum eigenen Wettbewerbs- oder Lernvorteil. Der Nationale Ethikrat hat im Januar 2006 eine Diskussion über Neuroimplantate geführt. Dabei wurde es im Sinne der Selbstbestimmung als vorteilhaft angesehen, dass die Tiefe Hirnstimulation reversibel ist und der Neurostimulator jederzeit abgeschaltet werden kann.

Literatur

  • Schläpfer, T. E., and B. H. Bewernick. 2009: Deep brain stimulation for psychiatric disorders--state of the art.. In: Advances and Technical Standards in Neurosurgery 34:37-57.
  • Ralph Erbacher: Analyse des Einflusses der Stimulationsfrequenz auf den cerebralen Ruheblutfluss bei Patienten mit essentiellem Tremor und tiefer Hirnstimulation im VIM-Thalamus. Eine H2-15O-PET-Studie. Dissertation. Technische Universität München, 2003
  • Isabella Maria Henriette von Falkenhayn: Untersuchungen des regionalen zerebralen Blutflusses bei tiefer Hirnstimulation zur Therapie der Akinese bei Morbus Parkinson. Dissertation. Technische Universität München, 2000
  • Eleni-Ioanna Anthogalidis: Standardisierter Dokumentationsbogen für endoskopisch stereotaktische Operationen in der Neurochirurgie. Görich & Weiershäuser, Marburg 1998, ISBN 3-89703-224-4
  • Jose M. R. Delgado: Gehirnschrittmacher. Direktinformation durch Elektroden. Ullstein, Frankfurt 1971, ISBN 3-550-07024-1
  • Helmut Dubiel: Tief im Hirn. Kunstmann Verlag, München 2006, ISBN 3-88897-451-8
  • Peter A. Tass & Milan Majtanik: Long-term anti-kindling effects of desynchronizing brain stimulation: a theoretical study. In: Biological Cybernetics. Vol. 94, No. 1, 2006, doi:10.1007/s00422-005-0028-6, S. 58-66
  • Peter A. Tass, Joachim Klosterkötter, Frank Schneider, Doris Lenartz, Anastasios Koulousakis & Volker Sturm: Obsessive-compulsive disorder: Development of demand-controlled deep brain stimulation with methods from stochastic phase resetting. In: Neuropsychopharmacology. 28, 2003, doi:10.1038/sj.npp.1300144, S. 27-34
  • Christian Hauptmann, Oleksandr Popovych & Peter A. Tass: Effectively desynchronizing deep brain stimulation based on a coordinated delayed feedback stimulation via several sites: a computational study. In: Biological Cybernetics. Vol. 93, No. 6, 2005, doi:10.1007/s00422-005-0020-1, S. 463-470
  • Günther Deuschl et al.: A randomized trial of deep-brain-stimulation for Parkinson’s disease. In: The New England Journal of Medicine. 355 (9), 2006, S. 896-908, doi:10.1056/NEJMoa060281
  • Jens Kuhn, Theo O. J. Gründler, Doris Lenartz, Volker Sturm, Joachim Klosterkötter & Wolfgang Huff: Tiefe Hirnstimulation bei psychiatrischen Erkrankungen. In: Deutsches Ärzteblatt. 107 (7), 2010, doi:10.3238/arztebl.2010.0105, S. 105-13
  • Matthias Becker: Risiko Neuroimplantate: Gehirn-Operationen an wachen Patienten. In: Telepolis special Mensch+: Upgrade-Revolution für Homo sapiens. Heise, 2012 (gekürzte Fassung in Spiegel Online. 11. März 2012)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Tiefenhirnstimulation bei Tourette-Syndrom langfristig wirksam. In: Ärzteblatt (28. Oktober 2009) [1] Abgerufen am 10. Oktober 2015
  2. Handelsblatt: Gezielt aus dem Takt gebracht
  3. Schlaepfer T.E,. et al.: Deep brain stimulation for treatment of refractory depression. Lancet (2005)‚ 366(9495): PMID 16243078.
  4. Schläpfer, T E, and B H Bewernick. „Deep Brain Stimulation for Psychiatric Disorders--State of the Art.“ Advances and technical standards in neurosurgery 34. PMID 19368080.
  5. Mayberg HS, Lozano AM, Voon V, McNeely HE, Seminowicz D, Hamani C, Schwalb JM, Kennedy SH.: Deep brain stimulation for treatment-resistant depression. Neuron (2005)‚ 45(5): PMID 15748841.
  6. Schlaepfer TE, Cohen MX, Frick C, Kosel M, Brodesser D, Axmacher N, Joe AY, Kreft M, Lenartz D, Sturm V: Deep Brain Stimulation to Reward Circuitry Alleviates Anhedonia in Refractory Major Depression. Neuropsychopharmacology (2007)‚ PMID 17429407
  7. Bewernick BH, Hurlemann R, Matusch A, Kayser S, Grubert C, Hadrysiewicz B, Axmacher N, Lemke M, Cooper-Mahkorn D, Cohen MX, Brockmann H, Lenartz D, Sturm V, Schlaepfer TE. Nucleus Accumbens Deep Brain Stimulation Decreases Ratings of Depression and Anxiety in Treatment-Resistant Depression. „Biological Psychiatry 67“ (2010): 110-6. PMID 19914605.
  8. Stromschläge lindern schwerste Depressionen anhaltend Die Zeit online vom 8. April 2013
  9. Biological Psychiatry: Rapid Effects of Deep Brain Stimulation for Treatment-Resistant Major Depression
  10. Leitlinie Cluster-Kopfschmerz und trigeminoautonome Kopfschmerzen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. In: AWMF online (Stand 10/2005)
  11. Leone M,. et al.: Hypothalamic stimulation for intractable cluster headache: long-term experience. Neurology (2006)‚ 67(1): 150-2 PMID 16832097.
  12. http://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/0,1518,818932,00.html
  13. a b Kommt die gesteuerte Persönlichkeit?, Tanja Krämer, Spektrum der Wissenschaft 9/07 S42 ff
  14. McIntyre, C.C., Savasta, M., Kerkerian-LeGroff, L., and Vitek, J.L., Uncovering the mechanism(s) of action of deep brain stimulation: activation, inhibition, or both, Clinical Neurophysiology 115, p. 1239-1248, (2006)
  15. Bewernick, Bettina H, René Hurlemann, Andreas Matusch, Sarah Kayser, Christiane Grubert, Barbara Hadrysiewicz, Nikolai Axmacher, and others. "Nucleus Accumbens Deep Brain Stimulation Decreases Ratings of Depression and Anxiety in Treatment-Resistant Depression." Biological psychiatry 67, no. 2 (2010). PMID 19914605
  16. Neuer Hirnschrittmacher erstmals implantiert, 10. November 2010
  17. M. Ulla et al: Manic behaviour induced by deep-brain stimulation in Parkinson's disease: evidence of substantia nigra implication?, in: Journal of Neurology, Neurosurgery, and Psychiatry 2006; 77: S. 1363-1366 PMID 17110749.
  18. Helmut Dubiel: Tief im Hirn. Kunstmann Verlag, München 2006
  19. Synofzyk M, Schlaepfer TE. Stimulating personality: Ethical criteria for deep brain stimulation in psychiatric patients and for enhancement purposes. J. Biotechnol. 2008;3(12):1511-1520. PMID 19072907
  20. Sabine Müller, Markus Christen: Mögliche Persönlichkeitsveränderungen durch Tiefe Hirnstimulation bei Parkinson-Patienten, in: Nervenheilkunde 2010, 29(11), 779-783.
  21. Siehe u.a. http://www.medica.de/cipp/md_medica/custom/pub/content,oid,41375/lang,1/ticket,g_u_e_s_t/~/%E2%80%9EBei_der_Hirnstimulation_st%C3%B6%C3%9Ft_man_teilweise_an_ethische_Grenzen%E2%80%9C.html