Rekonstruktion (Sprachwissenschaft)

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist die aktuelle Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 5. Oktober 2022 um 18:25 Uhr durch Aka (Diskussion | Beiträge) (typografische Anführungszeichen).
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Rekonstruktion bedeutet in der Sprachwissenschaft, dass aus bekanntem Sprachmaterial unbekanntes erschlossen wird. Namentlich werden aus in Einzelsprachen attestierten Wörtern ältere, etwa grundsprachliche, Wortformen erschlossen, die nicht belegt sind.

Rekonstruktion ist ein Hilfsmittel besonders der Historisch-Vergleichenden Sprachwissenschaft (siehe auch historische Linguistik und vergleichende Sprachwissenschaft).

Rekonstruktion setzt Beziehungsregeln (Gleichungen) voraus. Dies soll an folgenden Beispielen erläutert werden.

Im Beispiel für die erste Gleichung besteht das Sprachmaterial aus folgenden vier Wörtern:

Diese Wörter haben die Bedeutung „ist“.[1]

Die Bedeutungen dieser Wörter sind gleich und die Formen (also die lautliche Gestalt) sind sich sehr ähnlich. Daraus schließt man, dass die Wörter verwandt sind und dass die Ähnlichkeit nicht zufällig ist. Daraus wiederum schließt man, dass (zumindest hier) das altindische a dem griechischen und lateinischen e entspricht.

In diesem Beispiel besteht das Sprachmaterial aus folgenden Wörtern:

  • altindisch ájā-mi
  • altgriechisch ἄγω ágō
  • lateinisch agō

Diese Wörter haben die Bedeutung „ich treibe“.[2]

Hier hat das altindische a die griechische und lateinische Entsprechung a.

In diesem Beispiel besteht das Sprachmaterial aus folgenden Wörtern:

  • altindisch aṣṭā́(u) (aṣṭā́(u) mit retroflexem -ṣṭ-)
  • altgriechisch ὀκτώ oktṓ
  • lateinisch octō
  • litauisch aštuonì

Diese Wörter haben die Bedeutung „acht“.[3]

Hier hat das altindische a die griechische und lateinische Entsprechung o.

Zusammenfassung

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Aus diesen drei Gleichungen können wir jetzt schließen, dass das altindische a im Altgriechischen und im Lateinischen die Entsprechungen a, e und o haben kann.

In diesem Beispiel soll gezeigt werden, wie mit Hilfe von Gleichungen (Entsprechungsregeln) ein Wort der indogermanischen Ursprache rekonstruiert wird.

Das Sprachmaterial ist hier:

  • altindisch áviḥ
  • altgriechisch ὄϊς óïs
  • lateinisch ovis
  • litauisch avìs

Diese Wörter haben die Bedeutung ‚Schaf‘.[4]

Aus den drei Gleichungen oben kann man schließen, dass das altindische a in ávis mehreren Vokalen entsprechen kann, auch einem altgriechischen und lateinischen o.

Man weiß aus anderen Quellen, dass es im vorklassischen Altgriechisch und in bestimmten altgriechischen Dialekten einen [w]-Laut gab, der im klassischen Altgriechisch zwischen Vokalen verschwunden ist. Dieser Laut wurde Ϝ geschrieben und Digamma genannt. Es lässt sich also eine altgriechische Form *ὄϝις *ówis annehmen.

Aus diesen drei Gleichungen und ähnlichen lässt sich eine indogermanische Form *h₃ówis (aus älterem *h₃éwis) rekonstruieren.[5] Im klassischen Altgriechisch wäre dann der w-Laut verschwunden und im Altindischen wäre das o zu a geworden, und zwar nicht nur in diesem Wort, sondern auch in anderen Fällen.

Innere Rekonstruktion

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die bisherigen Beispiele gründeten sich auf einem Vergleich verschiedener Sprachen (externe oder äußere Rekonstruktion[6]). Zusätzlich gibt es ein weiteres Verfahren der Rekonstruktion, das ausschließlich auf belegten sprachlichen Einheiten derjenigen Sprache beruht, deren ältere, nicht belegte Zustände rekonstruiert werden sollen.[7]

Rekonstruierte Wörter und Sprachen

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Erschlossene Wörter werden in der Regel mit einem Sternchen (*) gekennzeichnet: z. B. indogermanisch *h₃éwis ‚Schaf‘.

Rekonstruierte Sprachen haben häufig die Vorsilbe Ur- im Namen (im Englischen Proto-). So ist das Urgermanische die nicht überlieferte, aber rekonstruierte Vorstufe von bekannten germanischen Sprachen, wie Althochdeutsch, Altenglisch oder Altnordisch.

Rekonstruktion wird mitunter auch zum Zweck der Wiederbelebung einer ausgestorbenen Sprache eingesetzt.

  • Heinz Ludwig Arnold und Volker Sinemus, Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft, München 1974, Band 2 (Sprachwissenschaft), ISBN 3-423-04227-3, Seiten 319–320.
  • Hans Krahe: Indogermanische Sprachwissenschaft, Band I: Einleitung und Lautlehre, Walter de Gruyter, Berlin 1966, § 5, 37.
  • Hadumod Bußmann (Hrsg.): Lexikon der Sprachwissenschaft. 3. aktualisierte und erweiterte Auflage. Kröner, Stuttgart 2002, ISBN 3-520-45203-0, Artikel: Rekonstruktion.
  • Jay H. Jasanoff: Hittite and the Indo-European Verb. Oxford University Press, 2003, ISBN 0-19-928198-X.
  • Ernst Kausen: Die indogermanischen Sprachen. Von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart. Helmut Buske Verlag, Hamburg 2012, ISBN 978-3-87548-612-4.
  • Alwin Kloekhorst: Etymological Dictionary of the Hittite Inherited Lexicon. Brill Leiden/ Boston, 2008, ISBN 978-90-04-16092-7.
Wiktionary: Rekonstruktion – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Wiktionary: innere Rekonstruktion – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Krahe 1966, Seite 34f, 55.
  2. Krahe 1966, Seite 55.
  3. Krahe 1966, Seite 56.
  4. Krahe 1966, Seite 89.
  5. Mit h₃ ist ein Laryngal gemeint, siehe dazu den Artikel Laryngaltheorie.
  6. Glück, Helmut (Hrsg.): Metzler Lexikon Sprache. 4., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Metzler: Stuttgart, Weimar 2010, ISBN 978-3-476-02335-3, Artikel: Rekonstruktion.
  7. Winfred P. Lehmann: Einführung indie historische Linguistik. Winter, Heidelberg 1969. Kapitel: Die Methode der inneren Rekonstruktion.