Benutzer:Olaf Simons/ET2

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Vom Ort erkenntnistheoretischer Probleme[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ich sitze mit einem Philosophen im Garten; er sagt zu wiederholten Malen „Ich weiß, daß das ein Baum ist“, wobei er auf einen Baum in der Nähe zeigt. Ein Dritter kommt daher und hört das, und ich sage ihm: „Dieser Mensch ist nicht verrückt: Wir philosophieren nur.“ Vorlage:Lit

In seinen letzten Notizen, sie wurden erst 1969 fast 20 Jahre nach seinem Tode unter dem Titel Über Gewißheit veröffentlicht, erwog Ludwig Wittgenstein von verschiedenen Seiten aus, welche merkwürdige Position das Nachdenken der Erkenntnistheorie im normalen Leben hat. Da wird an banalen Dingen gezweifelt: Ob man überhaupt existiert, ob nicht vielleicht alles nur ein Traum sei. Man würde im normalen Leben mit solche Lebenszweifeln den Verdacht auf sich ziehen, an einer an einer psychischen Labilität zu leiden.

Doch nicht nur der unter Erkenntnistheoretikern geübte Zweifel wirkt im Alltag grotesk. Auch das Gegenteil, in diesen seltsamen Fragen vollkommene Sicherheit zu bekunden, würde seltsam wirken:

Angenommen, ich wäre der Arzt, und ein Patient kommt zu mir, zeigt mir seine Hand und sagt „Was hier wie meine Hand ausschaut, ist nicht eine ausgezeichnete Imitation, sondern wirklich eine Hand.“ Worauf er von seiner Verletzung redet. – Würde ich das wirklich als eine Mitteilung, wenn auch eine überflüssige ansehen? Vorlage:Lit

Vermutlich nicht. Wir würden bei dieser unter Alltagslogik vollkommen wahren Aussage am Verstand des Mannes zweifeln. Wittgenstein interessierten die seltsamen Denkspiele nicht als Erwägungen möglicher Geisteskrankheiten, sondern als Belege dafür, dass die Fragen der Erkenntnistheorie einen bestimmten Ort haben, an dem sie diskutierbar werden, den eines eigenen als Erkenntnistheorie bezeichneten „Sprachspiels“, das in Philosophieseminaren mit ähnlicher Raffinesse und Regelbeherrschung betrieben wird, wie Schach unter Schachspielern. Das alltägliche Leben ist nicht nur ein Ort, an dem der Zweifel in den erkenntnistheoretischen Fragen wenig weiteren Raum hat. Im alltäglichen Leben ist die betonte Sicherheit in denselben Fragen fast noch skurriler als der Zweifel – Debatten der Erkenntnistheorie dringen in das alltägliche Leben nicht ein.

Das Thema erkenntnistheoretischer Debatten sind dabei wiederum durchaus nicht alle möglichen Zweifel. Erkenntnistheoretiker interessieren sich für den Zweifel und die Gewissheit erst, wenn die Reichweite der Aussagen groß wird:

Es käme mir lächerlich vor, die Existenz Napoleons bezweifeln zu wollen; aber wenn Einer die Existenz der Erde vor 150 Jahren bezweifelte, wäre ich vielleicht eher bereit aufzuhorchen, denn nun bezweifelt er unser gesamtes System der Evidenz. Es kommt mir vor, als sei das System sicherer als eine Sicherheit in ihm. Vorlage:Lit

Erkenntnistheoretiker haben, obwohl sie mit Fragen der fundamentalen Gewissheit und Ungewissheit umgehen, nichts in peto, was man dort nützen könnte, wo Menschen tatsächlich an der Gewissheit ihrer Wahrnehmung zweifeln. Ihre Erwägungen sind für Schizophrene kaum von Nutzen, die sich fragen, wo eine mögliche Wahnvorstellung beginnt. Erkenntnistheoretiker unternehmen keine Versuche, einfache und logische Experimente zu formulieren, deren man sich in einer Psychose bedienen könnte (Sie gehen viel zu bereitwillig davon aus, dass möglicherweise nur Konventionen oder eine angeborene Vernunft festlegen, was wir für wahr erachten). Der Ort ihrer Debatte ist klein und im wesentlichen auf philosophische Seminare beschränkt. Ihre Debatte selbst ist ein artifizielles Spiel von Argumenten und Gegenargumenten, Annahmen und Fragen, Anschlussthesen und Erwägungen ihrer Konsequenzen unter der Grundfrage, wie angreifbar mögliche Schlüsse wären.

Jacques-Louis Davids Der Tod des Sokrates (1787)

Wie in der zitierten Wittgenstein-Überlegung durchklang, geht es dem Erkenntnistheoretiker um Fragen, die ganze Systeme von Sicherheiten als labil entlarven könnten. Die Erkenntnistheorie ist dabei keine ungefährliche Debatte, sondern eine, die im Ernstfall die Wachsamkeit staatlicher Kontrollorgane oder der kirchlichen Inquisition auf sich zieht.

Dies ist die Geschichte, die fast am Anfang der Debatte steht: Sokrates wurde als erster bedeutender Erkenntnistheoretiker 399 v. Chr. von der Athener Richterschaft zum Tode verurteilt, nachdem er eine Schule gegründet hatte, in der man sich mit wenig mehr befasste als mit Dialogen, in denen grundlegende Sicherheiten hinterfragt wurden. Die Anklage lautete auf Jugendgefährdung und wurde im Blick auf den Schutz formuliert, unter den die Stadt Athen ihre Götter stellte. Es schien fraglich, ob die unter Sokrates geführten Debatten nicht möglicherweise zur Gottlosigkeit aufriefen.

Zentrale Fragen der Erkenntnistheorie stehen seit der Antike ohne große Veränderung im Raum:

  • Woher wissen wir, dass wir nicht träumen? Wenn wir uns von der Welt ein Bild machen, können wir (siehe eingehender den Artikel Abbild) ausmachen, in wie weit sich unser Bild von der Welt von der Welt selbst unterscheidet? Wo machen wir uns dieses Bild? Im Gehirn? In der Seele? *Bestehen wir nur aus Materie? – Und wenn dem so wäre, wie könnten wir das beweisen? Ließe sich ein logischer Beweis Gottes denken?
  • Ist, falls man mehrere Sichten auf die Welt haben könnte, eine bestimmte „besser“ als die andere? Gibt es gute und schlechte Standpunkte, von denen aus die Welt betrachtet wird? Was heisst „gut“ und „schlecht“ in diesem Zusammenhang? Sollten wir „wahre“ Abbilder der Welt für besser erachten als unwahre – haben die Worte „gut“ und „schlecht“ dabei dieselbe Bedeutung wie in der Ethik?

Sprengkraft entfalten die vertrauten philosophische Probleme, bei denen große Institutionen selbstbewusst Sicherheit propagieren. Totalitäre Regime versuchten wiederholt, die Erkenntnistheorie von oben mit sicheren Setzungen <--! unklares Wort, gibt es in diesem Zusammenhang nicht--> in ihre Schranken zu weisen. In festgefahrenen wissenschaftlichen Debatten bot ein grundlegender erkenntnistheoretischer Zweifel dagegen wiederholt Auswege an: die Chance durchzudiskutieren, ob man nicht auch mit einem wesentlich unsichereren Gebäude der Wissenschaft arbeiten könnte. Der Befund war ein um das andere Mal, dass Theorien geringerer Sicherheit – Theorien, die am Ende fast nur noch als Rechenmodelle taugten - sich als die bei weitem tragfähigeren erwiesen. Die moderne Physik geht kaum noch von den Sicherheiten aus, auf die sich die Physik des 16. Jahrhunderts zurückzog, als sie selbst auf bestimmte theologische Sicherheiten verzichtete.

Man könnte die Erkenntnistheorie nach diesen Erwägungen für eine spezielle, in verschiedene „Wissensgebiete“ übergreifende, Sicherheiten untergrabende, in jedem Falle kritische und „aufklärerische“ Debatte erachten. Doch auch dies wird ihr nicht gerecht: Sie schuf mindestens so oft Sicherheiten, wie sie sie hinterfragte. Diktaturen, wie der Nationalsozialismus oder der Stalinismus setzten ihr Grenzen, doch beriefen sie sich selbst dabei nicht minder auf Positionen, die sich nur mit den Mitteln der Erkenntnistheorie behaupten ließen, um Traditionen, wie die etablierten Religionen, der klassische europäische Humanismus und die über Jahrhunderte gewachsenen guten Sitten und ethischen Normen radikal außer Kraft zu setzen.

Es ist nach dem Gesagten ebenso schwierig wie interessant, einen Überblick über das Gebiet der Erkenntnistheorie in seiner komplexen Geschichte zu geben. Fortschritt liegt hier nicht immer im Aufkommen neuer Fragen, noch weniger in der Beantwortung offener Fragen. Die wichtigsten Fragen der Erkenntnistheorie wurden nie beantwortet. Fortschritt ergab sich größtenteils bei Debattenverlagerungen. Fragen, die in der Scholastik über Generationen hinweg diskutiert wurden, wichen im 17. Jahrhundert neuen Fragen, die sich als interessanter und diskutierbarer herausstellten. Bestimmte Vorstellungen davon, wie sich plausibel argumentieren lässt, wechselten. Man wird im historischen Überblick dabei zwei große Entwicklungen festhalten, die nicht als solche geplant waren, jedoch in einem weit größeren Geschehen Dynamik gewannen:

  • Im Lauf der Neuzeit übernahm die Erkenntnistheorie zentrale Fragen der Theologie mit dem Angebot, sie mit zusätzlichen logischen, vernünftigen Beweisgründen auszustatten. Das Ergebnis war im späten 18. Jahrhundert eine Entmachtung der Theologie als zentraler Stätte der Diskussion.
  • Die Philosophie begründete im 18. und 19. Jahrhundert plötzlich Rechts- und Staatssysteme, wo bislang die Theologie der weltlichen Macht dieses Legitimationsangebot machte.

Man wird in einem ähnlich groben Überblick formulieren können, dass die Erkenntnistheorie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entscheidenden Einfluss auf die naturwissenschaftliche Debatte gewann. In einer erkenntnistheoretischen Diskussionen verabschiedete sich diese von der Prämisse einer bislang mit Empirie begründeten Weltsicht, um als Alternative mit neuen Modellannahmen zu hantieren. Die neuen Annahmen ließen sich wie die des vierdimensionalen Raums der Relativitätstheorie gegenüber der alltäglichen Wahrnehmung der Dinge erkenntnistheoretisch verteidigen, selbst wenn sie im Alltag bis heute paradox anmuteten. (Die Nationalsozialisten kritisierten hier eine „verjudete“ Wissenschaft, der dreidimensionale Raum war arisch. Die Leninisten und Stalinisten antworten mit eigener Philosophie des dialektischen Materialismus an selber Stelle einem gefährlichen „bürgerlichen Relativismus und Subjektivismus“.)

Eine Geschichte der Erkenntnistheorie wird unter dieser Prämisse fragen, welche Rolle dieser Zweig der philosophischen Debatte zu verschiedenen Zeiten spielte – welche Diskussionen er durchdrang, in sich aufnahm und damit zu relativieren drohte. Der zentrale Gegenstand der Erkenntnistheorie sind grundlegende und im großen und ganzen unlösbare Probleme der Erkenntnis. Die Geschichte der Erkenntnistheorie ist dagegen weit eher die Geschichte einer Debatte gegenüber anderen Debatten und den Gesellschaften, die ihr Raum gaben.