Ferdinand de Saussure

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Ferdinand de Saussure (* 26. November 1857 in Genf; † 22. Februar 1913 in Vufflens-le-Château bei Morges) war ein Schweizer Sprachwissenschaftler. De Saussure studierte in Leipzig und in Berlin Indogermanistik. Von 1906 bis 1911 hielt er an der Universität Genf Vorlesungen über allgemeine Sprachwissenschaft.

Ferdinande de Saussure

Er wird als Begründer der modernen Linguistik und - fälschlicherweise - des Strukturalismus betrachtet. In den posthum unter Saussures Namen erschienenen Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (Cours de linguistique générale, 1916/dt. 1967; im folgenden CLG), wird eine allgemeine Theorie der Sprache als Zeichensystem entwickelt. Darin wird die Untersuchung von Sprache, verstanden als ein abstraktes und überindividuelles System von Zeichen (langue), als einzig relevanter Gegenstand der Sprachwissenschaft begriffen. Sprache wird so vom Sprechen, der parole, abgelöst und kann von diesem unabhängig untersucht werden.
Dieses Werk, das tatsächlich die Gründungsurkunde des Strukturalismus darstellt, ist allerdings nicht von de Saussure selbst verfasst worden, sondern wurde von zwei seiner Kollegen, Charles Bally und Albert Sechehaye, geschrieben, die anhand mehrerer Vorlesungsmitschriften versuchten, das Sprachdenken Saussures zu rekonstruieren. Weder Bally noch Sechehaye hatten jedoch Saussures Vorlesungen selbst gehört. Quellenkritische Untersuchungen haben gezeigt, daß zentrale Thesen des CLG gerade nicht von Saussure stammen, sondern von den Verfassern des CLG. So etwa der oft zitierte Satz, Sprache sei "eine Form, keine Substanz".

Erst in den 1950er Jahren greift eine quellenkritische Rezeptionstradition Raum, die bemüht ist, die authentische Sprachidee Saussures aus seinem fragmentarischen Nachlass zu erschließen. Die Rezeptionsgeschichte Saussures ist mithin durch eine Kluft zwischen Cours-Rezeption und Saussure-Rezeption gezeichnet. Die gleichermaßen notwendigen wie erfolgreichen Bemühungen um eine Rekonstruktion des authentischen Sprachdenkens Saussures, das auch disziplinenübergreifend, etwa in der Medien-, und Kulturwissenschaft sowie der Neurolinguistik fruchtbar aufgegriffen worden ist, kann die weichenstellende Bedeutung des Cours, dessen Rezeption den strukturalistischen und poststrukturalistischen Diskurs maßgeblich geprägt und unzählige Anschlußdiskurse gezeitigt hat, nicht ungeschehen machen. Der Cours de linguistique générale bleibt das bedeutendste Buch, das Ferdinand de Saussure nie geschrieben hat.


Saussures Ruhm zu Lebzeiten begründete sich in seiner Leistung als Indogermanist. In seinem Mémoire sur le système primitif des voyelles dans les langues indo-européennes (1879) hat Saussure schon als 21jähriger Student durch die Anwendung junggrammatischer Methoden die Laryngaltheorie angedacht. Bei der internen Rekonstruktion des indogermanischen Vokalsystems hat er unterliegende, abstrakte "Koeffizienten" (coefficients sonantiques) angenommen, die der dänische Sprachforscher Hermann Møller noch im 19. Jh. mit Laryngalen identifizierte. 1914, nach Saussures Tod, hat Bedrich Hrozny das Hethitische entziffert, und diese Sprache stellte sich dabei als indogermanische Sprache heraus. An manchen Stellen, wo Saussure seine Lautkoeffizienten rekonstruiert hatte, fand man im Hethitischen Laryngale. Obwohl mit wichtigen Einschränkungen zu rechnen ist, werden die Laryngalen im Hethitischen im Allgemeinen als Bestätigung von Saussures Rekonstruktion betrachtet.

Sein Großvater Nicolas Theodore de Saussure und sein Urgroßvater Horace-Bénédict de Saussure waren Naturforscher.

Vorlage:Philosophieartikel

Saussures Theorie

Langue und Parole

Saussures Auffassung nach lassen sich drei drei Aspekte der Sprache unterscheiden: die menschliche Rede (langage), das abstrakte Regelsystem (langue), sowie das Sprechen (parole) . Die Befähigung zur menschlichen Rede ("langage 2", bzw. "faculté de langage") sieht Saussure, wie auch Chomsky, als biologisch im Menschen angelegt.
Der Begriff "langage" bezeichnet die menschliche Sprache als vortheoretischen Phänomenbereich, also so wie sie den Sprechern in der Sprechtätigkeit begegnet. Demgegenüber ist die langue als theoretischer Sprachbegriff zu verstehen, der eine erkenntnislogische Ordnung in den vortheoretischen Phänomenbereich der menschlichen Rede, der langage bringt. Die langue kann also begriffen werden als sprachwissenschaftliche Perspektive, unter der die langage betrachtet wird.
Der Begriff verfügt über eine soziale und eine individuelle Dimension: In ihrer sozialen Dimension (fait sociale) ist langue eine intersubjektiv geltende gesellschaftliche Institution, ein sozial erzeugtes und in den Köpfen der Sprecher aufgehobenes, konventionelles System sprachlicher Gewohnheiten. In ihrer individuellen Dimension ist sie mentales "depôt", bzw. "magasin" (etwa: Warenlager) einer subjektiv internalisierten Einzelsprache (also sozusagen die subjektive Fassung der langue).
Auch der Begriff der parole hat eine soziale und eine individuelle Seite. Er meint einmal den konkreten Sprechakt, also die individuelle Realisierung der langue durch den je einzelnen Sprecher. Zugleich ist die parole aber in ihrer sozialen Dimension der Ort der dialogischen Hervorbringung neuen sprachlichen Sinnes, also der Ort der Genesis und Veränderung der langue.
Langue und parole stehen also in einem komplexen Verhältnis der wechselseitigen Bedingtheit: Auf der einen Seite gibt es nichts in der langue, das nicht durch die parole zuvor in sie gelangt wäre. Andererseits ist die parole nur möglich aufgrund jenes sozialen Produktes, das langue heißt.
Anders als die parole entzieht sich die langue einer unmittelbaren Beobachtung. Sie ist zu verstehen als theoretischer Aspekt der menschlichen Rede, der langage, auf den nur sozusagen im Nachhinein, also im Zuge der Rekonstruktion des Entstehensprozesses sprachlicher Zeichen, also ihrer Artikulation, geschlossen werden kann.

Zeichen und Zeichensynthese

Saussure begreift sprachliche Zeichen als (laut)materiale Einheiten, denen Bedeutungen assoziiert sind, als Formen also, denen insofern Bedeutung zugesprochen werden kann, als die Sprecher sie gemeinsam mit anderen sprachlichen Formen im Zuge der parole zu verstehbaren sprachlichen Ausdrücken zusammensetzen. Das sprachliche Zeichen ("signe linguistique", "sème") ist folglich eine komplexe mentale und physiologische Einheit, die im Vorgang der Artikulation erzeugt wird.
Während im Cours de Linguistique générale noch der Begriff des signe (Zeichen) Verwendung findet und die mentale und lautliche Seite sprachlicher Zeichen als Signifikat (auch signifié, 'Bezeichnetes', Zeicheninhalt) und Signifikant (auch signifiant, 'Bezeichnendes', 'Bezeichnung', äußere Zeichenform) unterschieden werden, gibt (der authentische) Saussure diese Begrifflichkeit auf. Der Begriff des signe erscheint ihm in theoretischer Hinsicht vorbelastet, da er von der weit verbreiteten (etwa junggrammatischen) Konzeption eines binär gefaßten Zeichens nicht mehr abzulösen ist. Ein binärer Zeichenbegriff, faßt die gedankliche und die lautliche Seite als je autonome, auch unabhängig voneinander denkbare Zeichenteile auf.
Von dieser Konzeption rückt Saussure zugunsten eines synthetischen Zeichenbegriffs ab. Er prägt für das Ganze des Zeichens den Begriff des Sème, für die lautliche Hülle des Sème den des Aposème sowie den des Parasème für den mentalen Zeichenaspekt. Der Begriff des Sème meint dabei stets das "Ganze des Zeichens, Zeichen und Bedeutung in einer Art Persönlichkeit vereint" und soll die Vorherrschaft entweder der lautlichen (etwa bei den Junggrammatikern) oder der gedanklichen Seite (vgl. etwa die spätere Theorie Chomskys) beseitigen. Auch die Begriffe Parasème und Aposème bezeichnen nicht die Teile eines Sème, sondern Aspekte desselben. Diese Aspekte sind keine dem Sème logisch vorausliegenden, unterscheidbaren Einheiten, die dann lediglich während des Sprechens zusammengesetzt werden. D.h. es werden nicht lediglich bereits mental vorhandene Bedeutungen mit ebenfalls vorhandenen Lauten verknüpft. Sprache bildet nicht Gedanken ab. Sie erschafft sie vielmehr: Erst im Akt des Sprechens, der Artikulation, vollzieht sich die Verbindung (Synthese) eines vorsprachlichen und daher chaotischen und gleichsam spurlos vorüberziehenden Denkens mit der lautlichen Substanz. Dieser Vorgang vollzieht sich in der Zeit, also linear: Worte werden nacheinander geäußert. Der Prozeß der Artikulation (zer)gliedert so den Strom der Gedanken und erschafft dergestalt allererst den Ausdruck als Ausdruck eines Gedankens und damit auch den Gedanken als identifizierbare Einheit, auf die sprachlich Bezug genommen werden kann. Erst der Akt der Artikulation, die Entäußerung verleiht so dem Gedanken jene Identität und Unterscheidbarkeit, die es erlaubt, ihn als ein dem Prozeß der Zeichensynthese vermeintlich vorausliegendes Inneres anzunehmen.
Lautlicher und gedanklicher Aspekt des Zeichens lassen sich so immer nur im Nachhinein ihrer Entstehung, der Zeichensynthese, unterscheiden. Das dort erzeugte Ganze des Zeichens, das Sème ist notwendige Bedingung seiner beiden Seiten. Aposème und Parasème sind keine autonomen Bestandteile des Sème, sondern lediglich Gesichtspunkte unter denen dieses von Sprachwissenschaftlern betrachtet werden kann. Sie sind für Saussure vergleichbar mit einem Blatt Papier: das Denken ist die Vorderseite, der Laut die Rückseite. So wenig wie man die Vorderseite zerscheniden kann, ohne zugleich die Rückseite zu zerschneiden, so wenig kann der Gedanke vom Laut getrennt werden.

Zeichen und Bedeutung

Bedeutung ist - wie oben dargestellt - für Saussure nichts der Zeichensynthese logisch vorausgehendes, sondern wird konkret im sozialen Austausch, in der Zeichensynthese erzeugt. Welche Bedeutung einem Zeichen zukommt, verdankt sich dabei nicht etwa einer wie auch immer gearteten inneren Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Es gibt keine im Zeichen selbst liegende Qualiät, die eine bestimmte Bedeutung rechtfertigen könnte.
Dieses von Saussure sogenannte Prinzip der Arbitrarität sprachlicher Zeichen wird im deutschen unglücklich mit Beliebigkeit übersetzt. Das Arbitraritätsprinzip meint aber gerade nicht eine freie Wählbarkeit des Zeichens im Hinblick auf eine bestimmte bezeichnende Funktion. Gemeint ist die Freiheit des Zeichens, das durch keine in ihm selbst liegende und der Zeichensynthese vorausliegende Eigenschaft an eine Bestimmte Bedeutung gebunden ist. Dies läßt sich so sehr an dem Umstand ablesen, daß verschiedene Sprachen verschiedene Zeichen für - vermutlich - gleiche Bedeutungen verwenden, als auch daran, daß sich die Bedeutung von Zeichen mit der Zeit verändert. Bedeutung ist keine (ontologische) Eigenschaft von Zeichen, sondern ein Effekt ihrer Verwendung durch die Sprachgemeinschaft, insofern die Parole der ausschließliche Ort der Hervorbringung sprachlichen Sinnes ist. Zugleich verdankt sie sich dem Umstand, daß Sprachzeichen Teile eines Systems (der langue) sind, innerhalb dessen jedes Zeichen von allen anderen Zeichen unterscheidbar ist. Die sprachliche Form gewinnt erst dadurch Bedeutung, daß sie in systematischer Korrelation zu anderen Formen steht. Ein Zeichen wird also in seiner Bedeutung nicht aus sich heraus und damit positiv, sondern durch seine Differenz zu anderen Zeichen bestimmt. Bedeutung kommt mit Saussure "immer von der Seite", also durch die Opposition zu anderen Zeichen. Er spricht daher von der Negativität des - in sich bedeutungslosen - Zeichens ("nullité du sème en soi"). Diesen systemischen Aspekt der differenzlogischen Bestimmung von Bedeutung bezeichnet Saussure als valeur, als systemischen Wert des Zeichens. Voraussetzung dieser Zeichenbestimmung ist neben dem Prinzip der Arbitrarität die bereits angesprochene Linearität der Lautsubstanz, bzw. der Artikulation. Erst das zeitlich differentielle Nacheinander, die Zergliederung des Gedankens in der Artikulation schafft die Voraussetzung für die Abgrenzbarkeit und Unterscheidbarkeit sprachlicher Einheiten. Und damit auch die Voraussetzung für ihre Identifizierbarkeit.

Synchronie & Diachronie

Der gleichermaßen individuelle wie soziale Charakter der langue als subjektiver Sprachschatz auf der einen und überindividuelles System sprachlicher Gewohnheiten auf der anderen Seite und ihre Verankerung in der parole als Ort der dialogischen Sinngenese sind es, aus denen die von Saussure bestimmten Prinzipien des Lebens der Sprache in der Zeit resultieren. Diese Prinzipien muten zunächst widersprüchlich an: Charaktereigenschaft der Sprache nämlich ist so sehr ihre Kontinuität in der Zeit, wie ihre fortwährende Transformation.
Während sich die Kontinuität der Sprache auf der synchronischen Ebene vollzieht, erfolgt ihre Veränderung auf der diachronen Ebene. In der sprachwissenshaftlichen Praxis sind diese beiden Ebenen methodologisch strikt voneinander zu trennen. Tatsächlich aber sind beide eng ineinander verschränkt: Der Aspekt der Kontinuität der Sprache adressiert Sprache zum einen als soziale und historische Tatsache und ist zum anderen Möglichkeitsbedingung der Verständigung überhaupt, die stets an - in Synchronie befangene - Sprecherbewußtseine, an zu einem bestimmten Zeitpunkt intersubjektiv geteilte Sinnhorizonte und Bedeutungszuschreibungen geknüpft ist. Die Kontinuität der Sprache ist also Grundlage ihres sozialen Charakters. Eben jener sozialer Charakter wiederum, also der Umstand, daß Sprecher fortwährend und gemeinsam mit Sprache umgehen aber ist es, dem sich zugleich die permanente Verwandlung der Sprache verdankt. Die Bewegung der Sprache - systemisch gesprochen: die fortwährende Neujustierung des relationalen Systems langue - ist unstillbar und unausgesetzt. Sie wird jedoch in aller Regel von den Sprechern nicht wahrgenommen. Das Wesen der Sprache ist daher - mit einem Wort des Sprachwissenschaftlers Christian Stetters - das der Fluktuanz: das einer "nicht seienden sondern beständig werdenden und insofern sich kontinuierlich verändernden Substanz."