Göttinger Modell

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Das Göttinger Modell von Franz Heigl und Annelise Heigl-Evers ist ein Konzept der Gruppenpsychoanalyse. Es wurde in den frühen 1970er Jahren entwickelt und bietet eine Differenzierung der psychodynamischen Gruppentherapien in Psychoanalytische und Tiefenpsychologisch fundierte Behandlungskonzepte (letztere als: psychoanalytisch orientierte und psychoanalytisch-interaktionelle Gruppenpsychotherapie)

Das Modell ist speziell auf Ich-schwache schwer gestörte Patienten zugeschnitten. Für unterschiedliche Erkrankungen und Behandlungsziele der Patienten werden jeweils entsprechende Behandlungsverfahren angeboten, innerhalb derer mit unterschiedlicher Regressionstiefe gearbeitet wird. Die Abstufung beruht auf dem Schweregrad der Störungen.

In Deutschland findet das Göttinger Modell verbreitet Anwendung vorwiegend im klinischen Bereich in der stationären, teilstationären und ambulanten Behandlung. Voraussetzung ist die Eignung[1] eines Patienten für eine Gruppentherapeutische Behandlung.

Ziel der Behandlung soll sein, die „Aufhebung oder Minderung der Störungen bei gleichzeitiger Veränderung der pathogenetisch bedeutsamen inneren Strukturen.“[2] Neben der Gruppendynamik nach Raoul Schindler stützten sich Heigl-Evers und Heigl auch auf Hannah Arendt, George C. Homans und die Hypothese von David A. Rapaport, wonach alles Verhalten auch sozial determiniert sei.[3]

Vor dem Hintergrund der Konzepte des Göttinger Modells sind psychodynamische Gruppentherapieverfahren und verhaltenstherapeutisch orientierte Gruppentherapiekonzepte (z. B.: Peter Fiedler 1996)[4] innerhalb eines Gesamtbildes der Gruppentherapien darstellbar.

Tiefenpsychologisch fundierte Gruppentherapie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Interaktionell[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die psychoanalytisch-interaktionelle Gruppenpsychotherapie arbeitet vorwiegend stützend, mit positivem Beziehungsangebot, wenig Konfrontation, ohne therapeutische Deutung und dem vorrangigen Ziel, Vertrauen herzustellen.

Über bewusstes Erleben und nach eigener Einschätzung orientiert sich der Gruppenteilnehmer (über normative Verhaltensregulierung), welches Verhalten von ihm in der Gruppe und von Seiten des Therapeuten erwartet wird. Dabei kommt es zu Übertragungen von Ich-Idealen (oder der Ideal-Funktion des normativ-gesetzgeberischen Aspektes des Über-Ich) auf den Therapeuten.[5]

Diese Behandlungsform findet Anwendung bei Störungsbildern wie Psychosen, Borderline-Persönlichkeitsstörung, substantieller Ich-Schwäche aufgrund pathogener Konflikte mit zugrunde liegenden unbewussten Fantasien, sowie durch Spaltung abgewehrter, unerfüllter früher Triebwünsche.[6]

Zielsetzung ist das Erleben von Halt und Schutz in der Gruppe, mit Stärkung der Ich-Funktionen, Erfahren des Gruppentherapeuten als Hilfs-Ich, Einleitung der Nachentwicklung und Füllung der Defizite, Überwindung von Spaltung der inneren Objektbeziehung durch Abbau irrationaler Ängste in der schützenden Umgebung.

Analytisch orientiert[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die psychoanalytisch-orientierte Therapie arbeitet mit dem Fokus auf das Vorbewusste auf teils vorbewusster, teils unbewusster Ebene. Die therapeutische Arbeitsweise ist leicht regressionsfördernd, bietet begrenzte Strukturierung und begrenzte Konfrontation in Verbindung mit einer stützenden Haltung durch den Therapeuten.

Da Frustration die frühen Abwehrmechanismen begünstigt, soll sie hier möglichst vermieden werden, um eine Reduktion der frühkindlichen Abhängigkeit von den Eltern zu ermöglichen.

Der Interventionsstil umfasst Mitteilungen von verschiedenen Beobachtungen an sich selbst und an andere sowie Mitteilungen von eigenen Gefühlen und deren Interpretation. Auf Deutungen bezüglich der zugrunde liegenden unbewussten Motive wird dabei verzichtet.[7]

Die psychoanalytisch-orientierte Therapie wird bei Störungsbildern mit in geringerem Maße geschwächter Ich-Stärke als beim vorigen Modell angewendet. Hier zeigen sich unbewusste und pathogene Konflikte über sogenannte Triebabkömmlinge, unbewusste Wünsche werden abgewehrt, jedoch ohne überwiegende Abwehr durch Spaltung.[8]

Zielsetzung ist der Abbau von übermächtigen Elternbildern und frühkindlichen Abhängigkeiten sowie deutlich verbesserte Fähigkeit des Ichs zu Anpassung und Urteilsbildung. Der irrationale Hintergrund von Ängsten soll im Ursprung erkannt werden und Autonomie und Selbstbewusstsein gefördert werden.

Psychoanalytische Gruppentherapie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Psychoanalytische Gruppentherapie fördert die Regression durch Zurückhaltung/(Abstinenz) des Therapeuten. Ich-Defizite werden vom Therapeuten gedeutet, somit wird die Kompensation dieser Defizite erkennbar und ebenso deren Auswirkungen im zwischenmenschlichen Geschehen. Nachreifung soll hier Autonomie ermöglichen.

Der Interventionsstil des Therapeuten zielt auf die schrittweise Bewusstmachung der in der Gruppe wiederbelebten unbewussten Phantasien und Grundkonflikte. Die Intervention schließt die Techniken der Zurückhaltung/(Wahrung von Abstinenz) ein, die Handhabung von Übertragung und Gegenübertragung sowie der Deutung. Die Deutung umfasst (die verschiedenen von Greenson für die Einzelanalyse aufgezeigten Phasen) Demonstration und Konfrontation, Klärung, Deutung und Durcharbeitung der Problematik.[9]

Die Psychoanalytische Gruppentherapie findet Anwendung bei Störungsbildern mit Konflikten zwischen Ich, Es und Über-Ich, die mangels Ich-Stärke nicht ausgehalten werden. Diese Konflikte unterliegen jedoch sogenannten reiferen Abwehrmechanismen als in den vorangegangenen Modellen.[8]

Zielsetzung dieser Behandlung ist die Nachreifung in mangelhaften Ich-Funktionen. Es soll sich ein starkes Ich entwickeln können, das autonom und weniger eingeschränkt handlungsfähig ist.

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Annelise Heigl-Evers, Franz Heigl: Das Göttinger Modell der Anwendung der Psychoanalyse in Gruppen unter besonderer Berücksichtigung der psychoanalytisch-interaktionellen Methode. In: Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik. Bd. 30 (1994), S. 1–29.
  • Annelise Heigl-Evers, Franz Heigl: Das interaktionelle Prinzip in der Einzel- und Gruppenpsychotherapie. In: Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Bd. 29 (1983), S. 1–14.
  • Annelise Heigl-Evers, Franz Heigl: Gruppentherapie: interaktionell – tiefenpsychologisch fundiert (analytisch orientiert) – psychoanalytisch. In: Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik. Bd. 7, Heft 2 (Oktober 1973), S. 132–157.
  • Annelise Heigl-Evers, Franz Heigl: Konzepte der analytischen Gruppenpsychotherapie. 2., neubearbeitete Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1978, ISBN 3-525-45286-1.
  • Alfred Pritz, Elisabeth Vykoukal (Hrsg.): Gruppenpsychoanalyse. Theorie – Technik – Anwendung. 2., veränderte Auflage. Facultas, Wien 2003, ISBN 3-85076-578-4.
  • Christian Reimer, Ulrich Rüger: Psychodynamische Psychotherapien: Lehrbuch der tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapien. 3, vollständig neu bearbeitete und aktualisierte Auflage. Springer, Berlin 2006, ISBN 3-540-25384-X (beschreibt das Göttinger Modell im Kapitel Psychodynamische Gruppentherapien).
  • Hans-Adolf Hildebrandt: Sucht und Entfremdung. Kassel University Press, Kassel 2006, ISBN 978-3-89958-267-3, S. 215–230 (uni-kassel.de [PDF; 3,2 MB] Facharbeit, Dissertation an der Uni Kassel; Göttinger Modell nach Heigl-Evers/Heigl beschrieben in Kapitel 6.2.2 Methoden der Gruppenanalyse).
  • Hermann Staats, Andreas Dally, Thomas Bolm (Hrsg.): Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse: Ein Lehr und Lernbuch. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, ISBN 978-3-647-40230-7.
  • Klaus Walter Bilitza: Psychoanalytisch-interaktionelle Psychotherapie. Psychoanalytische Behandlung in der Fachklinik heute. In: Psychotherapie im Dialog. Jg. 4 (2003), Heft 2, S. 130–135, doi:10.1055/s-2003-39512 (beschreibt u. a. das Göttinger Modell).
  • Karl König, Mohammad E. Ardjomandi, Ursula Henneberg-Mönch, Reinhard Kreische, Wulf-Volker Lindner, Ulrich Streeck: Zum Göttinger Modell – analytische und analytisch orientierte (tiefenpsychologisch fundierte) Gruppenpsychotherapie. In: Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik. Band 29. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1993, S. 115–119.
  • Karl König: Gruppenanalyse im Göttinger Modell: Theoretische Grundlagen und praktische Hinweise. Mattes, Heidelberg 2008, ISBN 978-3-86809-006-2.
  • Ulrich Streeck, Falk Leichsenring: Handbuch psychoanalytisch-interaktionelle Therapie: Behandlung von Patienten mit strukturellen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage 2015. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009, ISBN 978-3-525-40246-7.
  • Liste mit weiterer Literatur auf der Seite der Arbeitsgemeinschaft Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse AGG

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Karl König: Indikation für die Gruppenpsychotherapie bei Persönlichkeitsstörungen. In: Volker Tschuschke, Rainer Weber, Karl König, Ulrich Streeck, Christian Stiglmayr, Kirsten Schehr, Martin Bohus (Hrsg.): Gruppenpsychotherapie bei Persönlichkeitsstörungen. Heft 2. Schattauer, Stuttgart 2002, ISBN 3-7945-1915-9 (Online@1@2Vorlage:Toter Link/82.139.217.185 (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im Mai 2012. Suche in Webarchiven)Heft 2@1@2Vorlage:Toter Link/82.139.217.185 (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im Mai 2012. Suche in Webarchiven)).
  2. Heigl-Evers/Heigl (1978), 122.
  3. Heigl-Evers/Heigl (1973), 132.
  4. Peter Fiedler 1996 Verhaltenstherapie in und mit Gruppen. Psychologische Psychotherapie in der Praxis. Beltz, Weinheim.
  5. Heigl-Evers/Heigl (1973), 135.
  6. Alfred Pritz, Elisabeth Vykoukal: Gruppenpsychoanalyse. S. 40.
  7. Heigl-Evers/Heigl (1973), 153.
  8. a b Alfred Pritz, Elisabeth Vykoukal: Gruppenpsychoanalyse. S. 41.
  9. Heigl-Evers/Heigl (1973), 142f.