Juri Alexejewitsch Dmitrijew

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Juri Dmitrijew (2007)

Juri Alexejewitsch Dmitrijew (auch Jurij Dmitrijew transkribiert; russisch Юрий Алексеевич Дмитриев; * 28. Januar 1956 in Petrosawodsk) ist ein russischer Menschenrechtler.

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Er wurde im Alter von einem Jahr aus einem Waisenhaus adoptiert, in der Familie eines sowjetischen Offiziers erzogen und verbrachte große Teile seiner Kindheit in Dresden.[1] Er studierte an der Medizinischen Fakultät des Nordwestlichen Gesundheitsamts in Leningrad, ohne das Studium zu beenden. Zwischen 1988 und 1991 arbeitete Dmitrijew als Berater des Volksdeputierten der UdSSR, Michail Zenko. Damals begegnete er erstmals den Massengräbern der in den 1930er Jahren erschossenen Personen.[2]

Zunächst war Dmitrijew Juniorpartner von Iwan Tschuchin (1948–1997), einem ehemaligen Chefinspektor des karelischen Innenministeriums, der 1989 zum ersten Vorsitzenden der neugegründeten Menschenrechtsorganisation Memorial in Karelien ernannt worden war und von 1993 bis 1995 Abgeordneter in der Obersten Sowjet- und Staatsduma der Russischen Föderation war. Nachdem sich Tschuchin Zugang zu den Archiven der karelischen Staatssicherheit hatte verschaffen können, erforschte er zusammen mit Dmitrijew die Akten der karelischen troïka und dvoïka. Diese Spezialgerichte existierten zur Zeit des Großen Terrors in der gesamten Sowjetunion. Ihre Aufgabe war es, die inhaftierten Verfolgungsopfer zu verurteilen. In mühevoller Kleinarbeit konnten Tschuchin und Dmitrijew nach und nach die Urteile der troïka und dvoïka aufdecken.[3] Als Tschuchin im Mai 1997 bei einem Autounfall in Wien ums Leben kam, führte Dmitrijew die Arbeit alleine fort und übernahm damit die riesige Aufgabe, alle Opfer der Verfolgungen in Karelien namentlich zu benennen, darunter diejenigen, die erschossen oder zu Straflager verurteilt wurden oder bei Verhören starben. Bisher (2021) wurden 14 Erinnerungsbände mit rund 20 000 Namen veröffentlicht.[3]

Am 1. Juli 1997 entdeckte Dmitrijew in Sandarmoch in der Nähe von Powenez ein Massengrab mit 9500 Leichen. Im Sommer 1998 untersuchte er in Krasny Bor (Schöner Hain), einem Waldgebiet 19 km westlich von Petrosawodsk, ein weiteres Massengrab mit 1000 Leichen, das im Jahr zuvor von I.D. und S.I. Tschugunkow entdeckt worden war.[4] Beide Gräber stammen aus der Zeit des Großen Terrors.[5][6] Darüber hinaus untersuchte er die Geschichte des Solowezker Lagers zur besonderen Verwendung (SLON) und des Lagerkomplexes Belbaltlag zum Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals.[7]

Nachdem Ermittler im Jahr 2016 Nacktfotos der Adoptivtochter, die Gutachter nicht als kinderpornografisch einstuften, von Dmitrijews Computer sichergestellt hatten, war er von Dezember 2016 bis Januar 2018 inhaftiert.[5][8] Die Bilder hatte er nach eigener Darstellung gemacht, um die Entwicklung des unterernährten Kindes zu dokumentieren.[5] Im April 2018 wurde er am Stadtgericht von Petrosawodsk von einer mutmaßlich politisch motivierten Anklage wegen der Herstellung von kinderpornographischem Material freigesprochen.[9]

Dmitrijew wurde nach dem Freispruch im Juni 2018 wieder festgenommen, das Urteil des Stadtgerichts von Petrosawodsk wieder zurückgenommen. Ihm wurden gewaltsame sexuelle Handlungen an seiner minderjährigen Adoptivtochter vorgeworfen. Dmitrijew bestritt alle Vorwürfe von Anfang an, seine Forschungen der letzten Jahrzehnte über Repressionen und Massenhinrichtungen unter Stalin sollten diskreditiert werden.[10] Laut Human Rights Watch ist Dmitrijews Anklage im Kontext mit den angeblichen Anstrengungen der russischen Behörden zu sehen, die Verbrechen Stalins kleinzureden.[5] Am 22. Juli 2020 wurde Dmitrijew zu dreieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt. Mit Anrechnung der Untersuchungshaft wäre diese Strafe bis November 2020 verbüßt gewesen.

Ende September 2020 verurteilte das Oberste Gericht von Karelien ihn im Berufungsprozess wegen „gewaltsamer Handlungen sexuellen Charakters gegen eine Person unter vierzehn Jahren“ zu 13 Jahren Haft in einer Strafkolonie.[11] Dmitrijew war wegen der COVID-19-Pandemie in Russland nicht im Gerichtssaal, sondern aus dem Untersuchungsgefängnis zugeschaltet und bekam vom Geschehen wegen schlechter Übertragung nur die Hälfte mit. Der Rechtsanwalt, der Dmitrijew seit fast vier Jahren verteidigt, konnte wegen einer Corona-Quarantäne nicht am Revisionsverfahren teilnehmen. Der angeordnete Ersatzverteidiger, den Dmitrijew ablehnte, hatte nur drei Tage, um 19 Aktenordner zu dem Fall zu sichten.[12] Ende Dezember 2021 wurde die Strafe von 13 auf 15 Jahre erhöht.[13][14]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Irina Flige: Sandormokh. Le Livre noir d’un lieu de mémoire. Société d'édition Les Belles Lettres, Paris, 2021, 167 Seiten. (Auf Französisch.) ISBN 978-2-251-45129-9. Mit einem Vor- und Nachwort von Nicolas Werth. Der französische Historiker und Spezialist der Geschichte der Sowjetunion besorgte auch die Übersetzung aus dem Russischen. Titel der russischen Originalausgabe: Sandormokh, Dramaturgia smyslow.
  • Olivier Rolin: Le Météorologue. Roman. Le Seuil/Éditions Paulsen, Paris 2014. Neuauflage bei Le Point, Paris, 2015, 192 Seiten. Deutsch: Olivier Rolin: Der Meteorologe. Roman. Übersetzung Holger Fock und Sabine Müller. Liebeskind, München 2015, ISBN 978-3-95438-049-7. Der Roman handelt von der Zeit des Großen Terrors (1936/37–1938) in der Sowjetunion und erzählt die Geschichte des russischen Meteorologen Alexei Feodossjewitsch Wangenheim, der 1937 mit anderen Häftlingen in Sandarmoch ermordet wurde.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. S. Lebedew, Interview mit Juri Alexejewitsch Dmitrijew Magazin Colta, 2. Februar 2018 (russisch, abgerufen am 22. Juli 2020)
  2. Irina Galkowa: Interview mit Juri Alexejewitsch Dmitrijew, 1. Mai 2017, (russisch, abgerufen am 22. Juli 2020)
  3. a b Irina Flige : Sandormokh. Le Livre noir d’un lieu de mémoire. Aus dem Russischen von Nicolas Werth. Société d'édition Les Belles Lettres, Paris, 2021. Darin : Vorwort von Nicolas Werth, S. 17/18.
  4. https://dmitrievaffair.com/remembrance/krasny-bor/
  5. a b c d Russland: Stalin-Forscher zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. In: spiegel.de. 22. Juli 2020, abgerufen am 22. Juli 2020.
  6. Erinnerungsfriedhof Krasnij Bor, Memorial (russisch, abgerufen am 22. Juli 2020)
  7. Biografie von Juri Alexejewitsch Dmitrijew, Memorial (russisch, abgerufen am 22. Juli 2020)
  8. Moskau gedenkt Stalin-Opfern. In: faz.net. 29. Oktober 2017, abgerufen am 27. Dezember 2021.
  9. Friedrich Schmidt: Stalinismus-Forscher: Historiker Dmitrijew zu dreieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt. In: faz.net. 22. Juli 2020, abgerufen am 27. Dezember 2021.
  10. Silke Bigalke: Im Schatten des Terrors. In: sueddeutsche.de. 19. Juli 2020, abgerufen am 21. Juli 2020.
  11. Markus Ackeret: Der russische Historiker Juri Dmitrijew soll nun doch 13 Jahre ins Straflager – Russlands Zivilgesellschaft ist bestürzt. In: nzz.ch. 30. September 2020, abgerufen am 27. Dezember 2021.
  12. Friedrich Schmidt: Der Stachel im russischen System. In: faz.net. 30. September 2020, abgerufen am 27. Dezember 2021.
  13. Juri Dmitrijew: Russisches Gericht verlängert Straflagerhaft für Stalinismusforscher. In: zeit.de. 27. Dezember 2021, abgerufen am 27. Dezember 2021.
  14. SZ: "Sag die Wahrheit und habe vor nichts Angst"