Die komplexe Wechselstromrechnung ist, wie dort gezeigt wird, nur für lineare Rechenoperationen geeignet. Sie versagt beispielsweise bei der Multiplikation von komplexer Spannung und komplexem Strom. Im Gegensatz zur Momentanleistung und zur Scheinleistung hat deshalb das entsprechende Produkt genauso wie das Produkt aus den komplexen Effektivwerten keinen praktischen Sinn. Wenn man jedoch eine komplexe Spannung mit einem konjugiert komplexen Strom multipliziert, heben sich die zeitabhängigen Teile und gegenseitig auf und es geht nur die gegenseitige Phasenverschiebung ein. Das motiviert zur folgenden Definition.
Als komplexe Leistung an einem Zweipol definiert man das Produkt aus komplexem Effektivwert der Spannung und konjugiert komplexem Effektivwert des Stromes . Da die Amplituden um größer als die Effektivwerte sind, ist die komplexe Leistung damit gleich dem halben Produkt aus komplexer Amplitude der Spannung und konjugiert komplexer Amplitude des Stromes:
Durch die ausführliche Schreibweise
und die übliche Abkürzung für die Phasenverschiebung sowie die Aufspaltung in Real- und Imaginärteil
wird deutlich, wie die in der Wechselstromtechnik üblichen drei Kenngrößen der Leistung mit der komplexen Leistung zusammen hängen:
Die Wirkleistung ist der Realteil der komplexen Leistung:
Die (Verschiebungs-)Blindleistung ist der Imaginärteil der komplexen Leistung:
Die Scheinleistung ist der Betrag der komplexen Leistung
Hat beispielsweise die Spannung die Amplitude und den Nullphasenwinkel sowie der Strom die Amplitude und den Nullphasenwinkel , dann erhält man für die komplexe Leistung
mit der Wirkleistung und der Blindleistung . Sofern Strom und Spannung dem Verbraucherzählpfeilsystem entstammen, handelt es sich bei diesem Zweipol also um einen kapazitiven () Verbraucher ().
Sind die Stromstärke und die Impedanz oder Admittanz eines passiven (linearen) Zweipols gegeben, dann gilt (unter Annahme des Verbraucherzählpfeilsystems) mit für die komplexe Leistung
Sind dagegen die Spannung und die Impedanz oder Admittanz gegeben, dann gilt mit
Damit erhält man für Wirk-, Blind- und Scheinleistung
Als Beispiel erhält man für die Blindleistung eines Kondensators mit der Kapazität an einer Spannung mit der Amplitude und der Kreisfrequenz
Konkret entsteht bei und an einem Kondensator mit einer Kapazität von eine Blindleistung von .
Zusammenhang der komplexen Leistung mit der Momentanleistung
Der Energiefluss in einen Zweipol wird durch den Momentanwert der elektrischen Leistung beschrieben und ist das Produkt der reellen Momentanwerte von Spannung und Strom. Bei Verwendung der Kosinus-Schreibweise für die reellen Signale wird damit
Aufgrund der Beziehung für komplexe Zahlen kann man schreiben
und nach dem Umordnen wieder als Realteil formulieren
sowie komplexe Effektivwerte einführen
Daraus ergibt sich schließlich der fundamentale Zusammenhang zwischen Momentanleistung und komplexer Leistung:
und anschließend die Real- bzw. Imaginärteilbildung konkret ausführt, ergibt sich schließlich die aus klassischen Leistungsberechnung (unter Verwendung der Kosinus-Schreibweise für die reellen Signale) bekannte Formel
Deren Komponenten können wie folgt interpretiert werden:
Die Summe beider Komponenten ist die gesamte Momentanleistung (im Diagramm als Kurve 1 gekennzeichnet). Sie schwingt mit der doppelten Grundfrequenz um ihren Mittelwert, der gleich der Wirkleistung ist, und besitzt eine Amplitude in der Größe der Scheinleistung .
Die rechte Komponente der Momentanleistung (im Diagramm als Kurve 2 gekennzeichnet) ist ebenfalls mit der doppelten Grundfrequenz alternierend. Ihr zeitlicher Mittelwert ist gleich und ihre Amplitude gleich dem Betrag der Blindleistung . Die durch diese Leistung repräsentierte Energie fließt also „immer abwechselnd in gleicher Menge“ zwischen Generator- und Lastzweipol in beiden Richtungen hin und her und kann deshalb im zeitlichen Mittel keine Wirkung ausüben. Aufgrund ihrer Definition wird bei Annahme des Verbraucherzählpfeilsystems positive Blindleistung im Allgemeinen von Induktivitäten, negative Blindleistung von Kapazitäten hervorgerufen. In der Praxis spricht man davon, dass Induktivitäten „Blindleistung beziehen“ und Kapazitäten „Blindleistung liefern“.
Die linke Komponente der Momentanleistung (im Diagramm als Kurve 3 gekennzeichnet) besteht (wegen ) aus „-Schwingungen“ (sinusförmig mit der doppelten Grundfrequenz schwingend), welche von bis ansteigen und damit die doppelte Höhe der Wirkleistung haben, wobei ihr zeitlicher Mittelwert (im Diagramm gestrichelt gezeichnet) ebenfalls gleich ist. Die durch diese Leistung repräsentierte Energie fließt also immer in der gleichen Richtung und kann deshalb (im zeitlichen Mittel) eine „tatsächliche Wirkung“ im Lastzweipol (z. B. Erwärmung oder mechanische Arbeit) ausüben. Die Wirkleistung ist also die Amplitude der „tatsächlich wirkenden“ Komponente der Momentanleistung und gleichzeitig ihr zeitlicher Mittelwert. Da die Wirkleistung um den Faktor gegenüber der Scheinleistung geringer ist, nennt man den Wirkfaktor (manchmal auch Leistungsfaktor). Eine negative Wirkleistung deutet auf einen „rückwärtigen (der Bezugsrichtung entgegen gerichteten) Energietransport“ hin. Dieser Fall tritt auf, wenn im Verbraucherzählpfeilsystem der Zweipol als (aktiver) Generator wirkt oder ein passiver Zweipol im Erzeugerzählpfeilsystem beschrieben wird.
Auf Basis dieser Analyse und der grafischen Darstellung kann man auch folgende Aussagen über Wirk- und Blindenergie machen:
Die Wirkenergie, die während der Dauer einer Periode in den Zweipol fließt oder von ihm abgegeben wird, hat den Betrag .
Der Flächeninhalt einer Halbschwingung des Verlaufs der Blindleistung repräsentiert die „gesamte hin und her pendelnde Energie“ . Da der Flächeninhalt einer Sinushalbschwingung bekanntlich ist, ergibt sich für diesen Energieanteil .
Beispielsweise erhält man für die „pendelnde Energie“ eines Kondensators mit der Kapazität an einer Spannung mit der Amplitude und der Kreisfrequenz entsprechend der oben angegebenen Blindleistung