Locus theologicus

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Locus theologicus („Ort theologischer Erkenntnis“; Pl. loci theologici) ist ein Begriff aus der evangelischen sowie katholischen Dogmatik und theologischen Erkenntnislehre.

Begriffsgeschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Begriff locus (griech. τόπος tópos „Ort“, „Topos“) entstammt ursprünglich der antiken Rhetorik und wird Cicero als anderer Ausdruck für sedes argumentorum zugeschrieben, „als Fundstätte für Beweise oder für die thematische Stoffsammlung“[1] bzw. als „Stichworte, mit denen sich Argumente leicht assoziieren lassen“.[2]

Die loci communes des Mittelalters waren Gesichtspunkte zur Auffindung und Gliederung des Stoffs im Sinne eines vorgegebenen Inventars von Argumenten. Im heutigen Sinn bezeichnen loci theologici eher Orte, an denen sich Erkenntnis bilden kann, aber nicht muss. Sie sind als ein komplexes System aufeinander verweisender Instanzen zu verstehen, die über die Glaubensgemeinschaft Kirche vermittelt sind.

Konfessionsspezifische Bedeutungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die evangelische und die katholische Theologie verstehen unter loci theologici Unterschiedliches.

Evangelische Theologie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Begriff locus theologicus wurde wohl von Philipp Melanchthon gebildet und meint in der evangelischen Theologie die nach inhaltlichen Gesichtspunkten gegliederten Hauptstücke des Glaubens auf Basis der Heiligen Schrift. In seinem Werk Loci communes[3] versteht Melanchthon darunter die „zentralen Inhaltspunkte und Erkenntnisgegenstände (Themen) der Glaubenslehre“ wie Gott, Gnade, Rechtfertigung, Sakramente, Obrigkeit usw.[4]

Philipp Melanchthons Loci wurde bis in die Zeit des Konkordienwerks unter anderem in der kursächsischen Universitätsordnung für Wittenberg und Leipzig von 1580 als Lehrbuch vorgeschrieben.[5] Der intensive Gebrauch als Lehrbuch spiegelt sich in einer Reihe von Bearbeitungen und Hilfsbüchern dieser Zeit wider, wie Veröffentlichungen Johannes Spangenbergs von 1540 oder Paul Crells aus dem Jahr 1561. Daneben gibt es eine Reihe von Darstellungen des dogmatischen Stoffs, die aus den Vorlesungen Melanchthons entstanden, unter anderem Victorin Strigels Loci theologici (1582–1584) oder Martin ChemnitzLoci Theologici (1591).

Katholische Theologie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die klassische loci-Lehre von Melchior Cano[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Den katholischen Begriff der loci theologici erarbeitete Melchior Cano in seinem Werk De locis theologicis Libri XII, das 1563, drei Jahre nach seinem Tod, veröffentlicht wurde. Canos Schrift war in der Schultheologie jahrhundertelang ein bedeutendes Lehrbuch für die theologische Erkenntnislehre und Methodologie und erfuhr bis 1890 mehr als 30 Neuauflagen. Bei Cano umfasst der Begriff die Erkenntnisquellen der Dogmatik auf der Grundlage der kirchlichen Tradition. Mit locus ist daher ein sachlich an Thomas von Aquin (S. Th. I, 1,8) orientierter Begriff „zur methodologischen Fundierung der argumentativen Theologie (d. h. des dogmatischen Beweises)“ gemeint. Canos differenzierte Liste der loci theologici wurde verändert und vereinfacht, als wesentliche Erkenntnisquellen gelten das kirchliche Lehramt, die Kirchenväter, die Liturgie, die Theologen. Cano unterscheidet sieben der Theologie eigene Topoi (loco proprii) von der Theologie fremden oder ihr zugeschriebenen Locci (locii alieni oder locii adscripti)[6]:

  • loci proprii:
1. die kanonischen Bücher der Schrift;
2. die ungeschriebene Überlieferung Christi und der Apostel;
3. die („katholische“) Gesamtkirche;
4. die Konzilien;
5. die römische Kirche;
6. die Kirchenväter,
7. die Theologen.
  • loci alieni:
8. die natürliche Vernunft;
9. die Philosophie;
10. die menschliche Geschichte.

Das Zweite Vatikanische Konzil[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Zweite Vatikanische Konzil hat auf Grund eines neuen Verständnisses der Offenbarung als „geschichtliches Ereignis und personal-dialogisches Geschehen“[7] zu einem neuen Verständnis der ersten loci theologici geführt.

Positionen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Peter Hünermann hat eine eigene loci-Lehre entwickelt, die er dem heutigen Stand der Theologie für angemessener hält. So sind nach Hünermann die nichtchristlichen Religionen, die Gesellschaft, die Kultur, die Wissenschaft neue loci alieni.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Melchior Cano: Locorum theologicorum libri duodecim. Venedig 1567 (Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek).
  • Johann Gerhard: Loci theologici, cum pro adstruenda veritate, tum pro destruenda quorumvis contradicentium falsitate, per theses nervose, solide et copiose explicati. 9 Bände, Schlawitz, Berlin 1610–1622 <die maßgebliche Darstellung der Loci theologici in der lutherischen Orthodoxie>.
  • Eberhard Haible: Art. Loci theologici. In: Adolf Darlap (Red.): Sacramentum Mundi. Theologisches Lexikon für die Praxis, Bd. 3: Konfessionalismus bis Quietismus. Herder, Freiburg 1969, Sp. 291ff.
  • Peter Hünermann: Dogmatische Prinzipienlehre. Aschendorff, Münster 2003, ISBN 3-402-03300-3.
  • Bernhard Körner: Melchior Cano „De locis theologis“. Ein Beitrag zur theologischen Erkenntnislehre. Styria, Graz 1994, ISBN 3-7012-0023-8.
  • Albert Lang: Die Loci theologici des Melchior Cano und die Methode des dogmatischen Beweises. Ein Beitrag zur theologischen Methodologie und ihrer Geschichte. Kösel und Pustet, München 1925.
  • Albert Lang: Art. Loci theologici. In: Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl., Bd. 6: Karthago – Marcellino. Herder, Freiburg 1961, Sp. 1110ff.
  • Die Loci Communes Philipp Melanchthons in ihrer Urgestalt nach G.L. Plitt in zweiter Auflage und von neuem herausgegeben und erläutert von Theodor von Kolde. Deichert, Erlangen und Leipzig 1890.
  • Oliver Primavesi: Art. Topik, Topos, I. Antike. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10: St – T. Schwabe Verlag, Basel 1998, Sp. 1263–1269.
  • Hans-Joachim Sander: Der Ort der Ökumene für die Katholizität der Kirche – von der unmöglichen Utopie zur prekären Heterotopie. In: Peter Hünermann, Bernd Jochen Hilberath (Hg.): Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils (= Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil), Bd. 5: Theologische Zusammenschau und Perspektiven. Herder, Freiburg 2006, ISBN 3-451-28531-2, S. 186–200.
  • Hans-Joachim Sander: Scheitern können. Ein Zeichen für die Qualität des Dialogs auf dem Konzil. In: Peter Hünermann, Bernd Jochen Hilberath (Hg.): Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils (= Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil), Bd. 5: Theologische Zusammenschau und Perspektiven. Herder, Freiburg 2006, S. 349–356.
  • Max Seckler: Art. Loci theologici. In: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 6: Kirchengeschichte bis Maximianus. Herder, Freiburg 1997, Sp. 1014ff.
  • Max Seckler: Die schiefen Wände des Lehrhauses. Katholizität als Herausforderung. Herder, Freiburg 1988, ISBN 3-451-21186-6.
  • Michael Seewald: Loci-theologici-Lehre, in: Cornelia Dockter, Martin Dürnberger, Aaron Langenfeld: Theologische Grundbegriffe. Ein Handbuch. Paderborn, Schöningh 2021 (Grundwissen Theologie), ISBN 978-3-8252-5395-0, S. 106 f.

Weblink[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Artikel locus. In: Der Große Brockhaus, 16. Auflage, Band 7: L – Mij (1955): „in der älteren Logik und Rhetorik Fundstätte für Beweise oder für die Stoffsammlung. Der Ausdruck geht auf die Topik und Rhetorik des Aristoteles zurück.“
  2. Jan Schröder (Hg.): Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1998, S. 21.
  3. Artikel locus. In: Der Große Brockhaus, 16. Auflage, Band 7: L – Mij (1955).
  4. Jan Schröder (Hg.): Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Beiträge zu einem interdisziplinären Symposium in Tübingen, 18.–20. April 1996. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1998, ISBN 3-515-07173-3, S. 25.
  5. Andreas Stegmann: Johann Friedrich König. Mohr Siebeck, Tübingen 2006, ISBN 3-16-149041-X, S. 135.
  6. Vgl. Peter Hofmann: Katholische Dogmatik. Schöningh, Paderborn 2008 (UTB basics; 3098), ISBN 978-3-506-76572-7, S. 151
  7. Rudolf Voderholzer: Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung. Bausteine zu einer christlichen Bibelhermeneutik. Friedrich Pustet, Regensburg 2013, ISBN 978-3-7917-2519-2, S. 70