Nirim (IDF-Außenposten)

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Nirim (IDF-Außenposten) ist der Handlungsort in Adania Shiblis 2017 veröffentlichtem Roman Eine Nebensache, dessen deutsche Ausgabe 2022 im Berenberg Verlag erschienen ist.[1] Der erste Teil dieses nur 117 Seiten starken Buches ist die literarische Rekonstruktion der Vergewaltigung und Ermordung eines Beduinenmädchens durch israelische Soldaten im August 1949 in einem Ort namens Nirim. Shiblis von der Kritik[2] hoch gelobter Roman greift ein Verbrechen auf, das in Israel 54 Jahre lang in den Archiven der israelischen Armee verborgen blieb und erst durch eine Veröffentlichung in der Zeitung Ha'aretz ins Licht der Öffentlichkeit rückte.[Anm 1]

Karte
Der heutige Kibbuz Nirim (A) und der Kibbuz Nir Yitzhak am ehemaligen Nirim-Standort und IDF-Außenposten (B). Die grauen Striche markieren die Grenzen zum Gazastreifen und zu Ägypten.

Handlungsort Nirim[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Sowohl Shiblis Roman als auch der Ha'aretz-Artikel über das im August 1949 von einigen IDF-Soldaten begangene Verbrechen legen nahe, dass der reale Kibbuz Nirim Tatort war. Tatsächlich aber war der 1946 gegründete Kibbuz bereits im Sommer 1949 von seinen Bewohnern aufgegeben und von den IDF als Außenposten nahe der ägyptisch-israelischen Grenze auf der Sinai-Halbinsel übernommen worden.

„Im Sommer 1949 gab es keine Verbindung mehr zwischen dem Kibbuz Nirim und dem gleichnamigen Außenposten. Der Außenposten trug den Namen Nirim, weil er sich an dem Ort befand, an dem der Kibbuz Nirim im Juni 1946 gegründet worden war.“

Ha'aretz-Artikel vom 28. Oktober 2005[3]

Laut dem Artikel in der Hebräischen Wikipedia waren die Bewohner des Kibbuz bereits Anfang 1949 an den Ort weitergezogen, an dem der Kibbuz auch heute noch existiert und weiterhin den Namen Nirim trägt. An dem von den IDF später aufgegebenen Außenposten wurde am 8. Dezember 1949 der Kibbuz Dangor gegründet, der sich 1953 den Namen Nir Yitzhak gab.[Anm 2] Dangor war die ursprüngliche Bezeichnung jenes Ortes, an dem sich der erste Kibbuz Nirim befand und in dessen Nachfolge der IDF-Außenposten.

Das Verbrechen, das mit Nirim als Tatort in Verbindung gebracht wurde, hat also nichts mit dem Kibbuz zu tun, und es gibt auch keine Belege dafür, dass Bewohner des früheren oder des nachfolgenden etwas von dem Vorfall mitbekommen haben. In dem Ha'aretz-Artikel werden ausschließlich ehemalige IDF-Soldaten als Zeitzeugen zitiert.

Die Gräueltat der IDF[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Verbrechen der IDF-Soldaten wurde also im aufgegebenen Kibbuz Nirim, dem alten Dangor, begangen. Es begann damit, dass am 12. August 1949 ein Beduinenmädchen von hier stationierten israelischen Soldaten in der Nähe ihres Außenpostens aufgegriffen und mit ins Lager gebracht worden war. Dort wurden ihr die Kleider ausgezogen, sie musste sich in aller Öffentlichkeit nackt duschen und schließlich wurden ihr noch die Haare abgeschnitten.

Am Abend feierten die Soldaten. Ihr Kommandant hielt eine Rede über den Zionismus und die Bedeutung des Beitrags der Truppen zum neu gegründeten Staat und las Auszüge aus der Bibel. Wenig später ergriff er noch einmal das Wort, erinnerte an das Beduinenmädchen und stellte zwei Optionen über deren weiteres Schicksal zur Abstimmung: Das Mädchen könne als Küchenarbeiterin eingesetzt werden oder die Soldaten könnten sich an ihr vergehen. Die Soldaten votierten für die zweite Option, und anschließend wurde festgelegt, welche Gruppe von Soldaten sich zuerst über das Mädchen hermachen dürfe. Der Kommandant erstellte einen dreitägigen Plan für die Gruppenvergewaltigungen, bei denen sich die drei Trupps abwechseln sollten. Der Gruppe, zu der der Kommandant gehörte, wurde zuerst der Zugriff auf das Mädchen erlaubt. „So begann eine der hässlichsten und schrecklichsten Episoden in der Geschichte der israelischen Streitkräfte, eine Episode, die selbst aus einem Abstand von 54 Jahren nur schwer zu verstehen ist.“[3]

Am nächsten Morgen, es war der 13. August 1949, wurde das Mädchen erschossen und sein Leichnam in der Wüste vergraben.

Mit der Ermordung des Beduinenmädchens endet der erste Teil von Shiblis Buch. Im zweiten Teil erfährt etwa fünfzig Jahre später eine in den von Israel besetzten Gebieten lebende namenlose Palästinenserin aus der Zeitung von der Vergewaltigung und dem Mord.[4] Sie stellt fest, dass beides sich auf den Tag genau 25 Jahre vor ihrer Geburt ereignet hatte, weshalb sie beschloss, der Geschichte nachzugehen – nach Dokumenten darüber zu suchen und die Orte des Geschehens aufzusuchen. Dies ist der fiktionale Teil in Shiblis Buch, in dem neben den historisch verbürgten Ereignissen aus dem ersten Teil der Alltag unter israelischer Besatzung in den Fokus der Erzählung rückt.

Der reale Fortgang der Geschichte wurde dagegen in dem Ha'aretz-Artikel von 2005 ausführlich beschrieben. In ihm wurden die Ereignisse nach der Ermordung des Mädchens dokumentiert und deutlich gemacht, dass das Verbrechen damals nicht unbemerkt geblieben und auch Ben-Gurion zur Kenntnis gebracht worden war. Am 15. August 1949 erstattete der Kommandant des Außenpostens seinen Vorgesetzten einen schriftlichen Bericht, in dem es hieß: „Bei meiner Patrouille am 12. August 1949 begegnete ich in dem unter meinem Kommando stehenden Gebiet Arabern, von denen einer bewaffnet war. Ich tötete den bewaffneten Araber auf der Stelle und nahm seine Waffe. Ich habe die arabische Frau gefangen genommen. In der ersten Nacht misshandelten die Soldaten sie und am nächsten Tag hielt ich es für angebracht, sie aus der Welt zu entfernen.“[Anm 3]

Am 25. August wurde der Leichnam des Mädchens noch einmal ausgegraben. Der Verwesungszustand war jedoch schon so weit fortgeschritten, dass weder die Todesursache festgestellt werden konnte, noch ob das Mädchen vergewaltigt worden war.[3] Es kam schließlich zu einem mehrere Monate dauernden Militärgerichtsprozess an dessen Ende der Kommandeur der Gruppe zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Die anderen 19 Soldaten erhielten Haftstrafen zwischen einem und drei Jahren. „Den meisten von ihnen wurde ‚Fahrlässigkeit bei der Verhinderung eines Verbrechens‘ oder ‚Mittäterschaft bei der Begehung eines Verbrechens‘ vorgeworfen. [..] Nur ein Soldat wurde wegen Vergewaltigung zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.“[3]

Die Identität des ermordeten Beduinenmädchens wurde nie geklärt und ihr Körper blieb vermutlich im Sand des westlichen Negev begraben.[3] Ihre Tragödie blieb 54 Jahre lang in den Archiven der israelischen Armee verborgen, bevor sie von der Ha'aretz ans Licht gebracht wurde. Dazu gab es eine Vorgeschichte:

„Was in Nirim geschah, wäre im Mülleimer der Geschichte begraben worden, wenn es nicht den Prozess gegen die Verantwortlichen für das Massaker von Kfar Kassem während des Krieges von 1956 gegen 50 palästinensische Dorfbewohner gegeben hätte, die von der Arbeit zurückkehrten, die nichts über eine Ausgangssperre wussten. Die Grenzpolizei tötete Dutzende dieser unschuldigen Palästinenser. Die Verteidiger in diesem Fall führten den Nirim-Vorfall als Beispiel für frühere IDF-Morde an Zivilisten an, um ein Muster eines solchen Verhaltens aufzuzeigen. Einer der Anwälte brachte die Fallakten in die Archive der juristischen Fakultät der Universität Tel Aviv, wo sie aufbewahrt wurden, bis zwei Ha'aretz-Reporter 2003 über diese Tragödie berichteten.[Anm 4]

Richard Silverstein: Israel’s Historic Disregard for Lives and Rights of Negev Bedouin[5]

Literatur in Zeiten des Krieges[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der gemeinnützigen Verein LitProm, der sich für die Verbreitung von Literatur aus Afrika, Asien, Lateinamerika und der Arabischen Welt engagiert, zeichnete Adania Shiblis Buch mit dem LiBeraturpreis 2023 aus. Der Preis sollte am 20. Oktober 2023 während der Frankfurter Buchmesse verliehen werden.[6] Dazu kam es jedoch nicht, denn am 7. Oktober 2023 überfielen Angehörige der Hamas mehrere Kibbuzim in der Nähe des Gazastreifens – darunter auch Nirim[7] und Nir Yitzhak[8] –, massakrierten mehr als Tausend Israelis und verschleppten über 200 Geiseln in den Gazastreifen.

In der Folge dieses Terroraktes der Hamas entwickelte sich eine heftige Diskussion darüber, ob unter den gegebenen Umständen eine Preisvergabe an die Palästinenserin Shibli statthaft sei.

Die bislang unbestrittenen historischen Tatsachen, die das Fundament von Shiblis Buch bilden, blieben in den Diskussionen außen vor. Sie wurden verdrängt von der Frage, ob Shibli eine Nähe zur Bewegung Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) habe oder diese gar unterstütze.[9]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Anmerkungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Die nachfolgende Schilderung der Vorgänge findet sich nahezu deckungsgleich in dem Ha'aretz- und Al-ʿArabiya-Artikel sowie in Shiblis Roman, weshalb auf Einzelnachweise meist verzichtet wird. Der Al-ʿArabiya-Artikel bezog sich weitgehend auf den älteren Ha'aretz-Artikel.
  2. Siehe: he:נירים. Die dort genannten beiden Quellen ließen sich nicht verifizieren.
  3. Der Text ist in den beiden Ha'aretz-Artikeln nahezu gleich, insbesondere auch der letzte Halbsatz.
  4. „What happened at Nirim would’ve been buried in the dustbin of history were it not for the trial of those responsible for the Kfar Kassem massacre during the 1956 War of 50 Palestinian villagers returning from work, who knew nothing about a shoot to kill curfew. The Border Police killed scores of these innocent Palestinians. Defense lawyers in the case offered the Nirim incident as an example of previous IDF murders of civilians to show a pattern of such conduct. One of the lawyers brought the case files to the Tel Aviv University law school archives, where they were preserved until two Haaretz reporters reported this tragedy in 2003.“

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]