Selli Engler

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Selli Engler (* 28. September 1899; † 1982 in Ost-Berlin), mit bürgerlichem Namen Selma Engler, war eine führende deutsche Aktivistin der Lesbenbewegung in Berlin zur Zeit der Weimarer Republik.

Leben

Engler war die Tochter eines Pantoffelfabrikanten und hatte elf Geschwister, die Familie lebte in sehr bescheidenen Verhältnissen. Nach Berlin kam sie 1914 nach dem Tod des Vaters gemeinsam mit ihrer Mutter, mit der sie noch 1938 zusammenlebte. Einzelne Anläufe, sich als Geschäftsfrau zu etablieren, scheiterten. Engler wurde als sogenannte „virile“ homosexuelle Frau beschrieben, Abbildungen von ihr geben meist eine männlich gekleidete Frau wieder.[1] Bis auf ihr Todesjahr fehlen Nachrichten zu ihrem Leben und Wirken nach 1938.

Wirken

Franz Scott, ein zeitgenössischer Autor zur lesbischen Szene der Weimarer Republik, sah Selli Engler neben Lotte Hahm und der nur pseudonym bekannten Charly in herausragender Position als eine der Pionierinnen der Lesbenbewegung.[1]

Die BIF

Engler begann ihre Tätigkeit als Herausgeberin und Redakteurin der von ihr 1924 gegründeten und selbst verlegten Zeitschrift „BIF - Blätter Idealer Frauenfreundschaft“. Ihre Intention war es, damit eine niveauvolle Ergänzung zum ihres Erachtens unzureichenden zeitgenössischen Angebot lesbischer Zeitschriften zu bieten.[1]

Die „BIF“ hatte laut Impressum ihren Sitz in der Großbeerenstraße 74 in Kreuzberg, vermutlich Englers Privatadresse.[2] Sie war einzigartig, weil sie als einzige lesbische Zeitschrift der Zeit vollständig in der Hand von lesbischen Frauen lag, alle anderen Zeitschriften erschienen in männlich dominierten Kontexten oder wurden sogar von Männern redaktionell geprägt.[3] Vermutlich 1927 stellte die Zeitschrift ihr Erscheinen ein. Durch den Selbstverlag fiel die „BIF“ durch das Raster archivarischer Erfassung und ist heute nur sehr schlecht belegt.[1]

Literarisches Werk

Engler blieb aber in vielfältiger Weise schriftstellerisch aktiv. Von 1927 bis zum Herbst 1929 schrieb sie für die Zeitschrift „Frauenliebe“ und vom September 1929 bis 1931 für „Die Freundin“. Sie verfasste vor allem belletristische Texte, Gedichte, Kurzgeschichten und Fortsetzungsromane, selbst Operettenlibretti[4].[1]

Alfred Döblin montierte in parodistischer Manier einen Textpassus ihres Werkes „Erkenntnis“ in eine Passage seines Romans „Berlin Alexanderplatz“, die homosexuelle Liebe zum Thema hat. Die Döblin-Expertin Sabine Becker bescheinigt Engler in diesem Zusammenhang einen „höchst trivialen [...] Courths-Mahler-Stil“.[5] Doris Claus hingegen betont in ihrer Analyse des Romans „Arme kleine Jett“ den emanzipatorischen Wert des Werkes. Indem er im realistisch gezeichneten Berliner Künstlerinnenmilieu eine lesbische Lebensweise ohne massive Konflikte mit sozialem Umfeld und Gesellschaft zeichnet, entwirft er eine Utopie und bot Möglichkeit zur Identifikation.[6]

Aktivistin

In ihrer Arbeit als Aktivistin versuchte sie besonders auf eine stärkere Organisation homosexueller Frauen hinzuarbeiten und orientierte sich dabei an Männern wie Friedrich Radszuweit und Carl Bergmann. In vielen Aufrufen und Appellen warb sie insbesondere für den Eintritt lesbischer Frauen in den Bund für Menschenrecht.[1]

Neben ihrer schriftstellerischen Arbeit agierte sie auch als Organisatorin von Klubs. Solche Damenklubs waren -im Gegensatz zu Lokalen, die sich oft auch heterosexuellen Zuschauern öffneten- geschätzt als störungsfreie Räume, so hieß es dann auch in einer Ausgabe der Freundin wertschätzend „Im ‚Erâto’ bei ‚Selli’ sind wir aber völlig unter uns!”.[2]

Begleitend zu ihrer Zeitschrift betrieb sie bereits zwischen 1925 und 1927 den „Damen-BIF-Klub“, der freitags im Roten Saal des Nationalhofs in der Bülowstraße 37 tagte.[2] Am 28. September 1929 eröffnete sie den Damen-Klub „Erato“ in der Kreuzberger Kommandantenstraße, in der zweiten Etage der „Zauberflöte“, einem bekannten Lokal für Schwule und Lesben.[1]

Der „Erato“ blieb dort aber nicht lang, spätere Veranstaltungen fanden statt unter anderem im Märkischen Hof in der Admiralstraße 18c in Kreuzberg. Das Fassungsvermögen des dort angemieteten Tanzsals von 600 Personen lässt darauf schließen, dass der Klub erfolgreich war.[2] Er existierte bis mindestens zum 8. Januar 1931, als er ein neues Klubheim in der Kindenstraße (sic?) bezog, Engler annoncierte dies in der Freundin und berichtete dort auch über die Klubtreffen.[4]

Nachleben

Ab Mai 1931 verlieren sich ihre Spuren als Aktivistin der Lesbenbewegung, weder ihr Name noch der des Damenklubs Erato finden sich danach in der „Freundin“ oder einer anderen bekannten Zeitschrift.[7]

1933 übersandte sie Adolf Hitler ein von ihr verfasstes Theaterstück namens „Heil Hitler“.[1] Der Reichsdramaturg äußerte sich über das Werk zwar hinsichtlich ihrer Gesinnung lobend, konstatierte aber einen Mangel an „künstlerisch-dramaturgischer“ Qualität. 1938 stellte sie einen Antrag zur Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer, in diesem Antrag stellte sie ihre Vergangenheit deutlich verzerrt dar.[8]

Werke

  • „Erkenntnis“ (Roman, vor 1929)
  • „Das Leben ist nur noch im Rausch zu ertragen“ (Autobiographischer Roman, 1929)
  • „Arme kleine Jett“ (Roman, 1930)

Nachweise

  1. a b c d e f g h Heike Schader: Virile, Vamps und wilde Veilchen - Sexualität, Begehren und Erotik in den Zeitschriften homosexueller Frauen im Berlin der 1920er Jahre, 2004, ISBN 3-89741-157-1, S. 74-76
  2. a b c d Christiane Leidinger: „Eine „Illusion von Freiheit” – Subkultur und Organisierung von Lesben, Transvestiten und Schwulen in den zwanziger Jahren“, In:Ingeborg Boxhammer, Christiane Leidinger (Hrsgg.):„Online-Projekt Lesbengeschichte.“, Berlin 2008, Online, Zugriff am 28. Juni 2013
  3. Florence Tamagne: History of Homosexuality in Europe, 1919-1939. 2005, ISBN 978-0-87586-356-6, S. 80
  4. a b Julia Hürner: Lebensumstände lesbischer Frauen in Österreich und Deutschland - von den 1920er Jahren bis zur NS-Zeit (PDF; 657 kB), Dissertation 2010, S. 48-50, Zugriff am 28. Juni 2013
  5. Sabine Becker: Berlin Alexanderplatz - Alfred Döblins Epos der städtischen Moderne In: Marily Martínez de Richter (Hrsg.): Moderne in den Metropolen. Roberto Arlt und Alfred Döblin. Internationales Symposium, Buenos Aires – Berlin 2004. Königshausen & Neumann, Würzburg 2005, ISBN 3-8260-3198-9, S. 129
  6. Doris Claus: Selbstverständlich lesbisch in der Zeit der Weimarer Republik. Eine Analyse der Zeitschrift "Die Freundin"., Bielefeld, 1987, S. 76-93
  7. Katharina Vogel: Zum Selbstverständnis lesbischer Frauen in der Weimarer Republik. Eine Analyse der Zeitschrift ‘Die Freundin’ 1924-1933 in Eldorado: Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950, Geschichte, Alltag und Kultur, Berlin, 1984, ISBN 3921495369, S. 165
  8. Stephanie Nordt: Verdrängung und Zeugnis - Lebenssituationen von Lesben während der Zeit des Nationalsozialismus (außerhalb der Konzentrationslager) In: Quer - denken, lesen, schreiben - Gender-/Geschlechterfragen update, ISSN 1860-9805, 03/01, 2001, S. 15